Aufgabe 3
Textinterpretation
Thema:- Analysiere den Text.
Man muss etwas Gutes daraus machen
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Seit Längerem bin ich der Meinung, dass gegen jene traurigen Gestalten, die mit aller Macht
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unsere Welt bestimmen möchten, gegen die Trumps und Salvinis, die Putins und Erdoğans, die
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Bolsonaros und Gaulands, dass also gegen die von diesen Menschen erzeugte Welle von Wut,
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Hass und Lügen nur eines hilft: umfassende Freundlichkeit.
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Das ist naiv? Glaube ich nicht.
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In seinem Buch Wut ist ein Geschenk schildert Arun Gandhi, der Enkel vom Mahatma Gandhi,
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unter anderem die vielen Gespräche, die er als Kind und junger Erwachsener mit seinem
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Großvater führte: Es ging darin um die Frage, was für ein Mensch man sein will und sein sollte
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und wie man die Welt zu einem besseren Ort machen kann. Und es ging auch darum, wie man
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mit Wut umgeht, jenem Empfinden also, das in mir – nur ein Beispiel von viel zu vielen –
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einmal wieder köchelte, als ich vor Kurzem las, der amerikanische Präsident habe vor den
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Wahlen in den USA einen republikanischen Kongressabgeordneten begeistert gelobt (und zwar
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ausdrücklich für diese Tat!), der einen Journalisten brutal niedergeschlagen hatte. Und er habe
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diesen gerichtlich verurteilten Gewalttäter zum Vorbild erklärt.
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„Wut ist etwas Gutes. Ich werde andauernd wütend", sagte Mahatma Gandhi zu seinem Enkel,
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der seinen Ohren kaum traute. Nie hatte er seinen Großvater wütend gesehen. Warum nicht?
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„Weil ich gelernt habe", sagte der Opa, „meine Wut für das Gute zu nutzen."
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Was heißt das: seine Wut für das Gute nutzen?
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Gandhi gab ein Beispiel. Seit Jahrhunderten hatte die indische Baumwollindustrie Textilien
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produziert, doch nun kauften englische Konzerne die Baumwolle des Landes auf, verarbeiteten
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sie und verkauften den Stoff teuer an die Inder zurück. Die Leute waren wütend, denn diese
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Textilware, aus ihrer eigenen Wolle hergestellt, konnten sie sich oft nicht leisten; sie liefen in
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Lumpen herum. Gandhi aber griff nicht wütend die Briten an. Er begann selbst zu spinnen und
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ermunterte die Inder, dies auch zu tun, also ihre eigene Wollware herzustellen – mit enormen
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Auswirkungen, die auch die Engländer zu spüren bekamen.
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Ich halte das für einen wichtigen Gedanken, weil er zeigt, dass man seine Wut nicht in Hass,
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Geschrei, Schimpfen äußern muss, sondern sie in eine Energie verwandeln kann. Wer seine
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Wut einfach herauslässt, zetert, tobt und den Gegner attackiert, begibt sich auf dessen Ebene.
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So tut er, was dieser Gegner will. Damit hat er sich zum Opfer gemacht. Das ist falsch.
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Richtig ist: sich zu überlegen, wie und wer man eigentlich sein will. Und dann entsprechend zu
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handeln, beharrlich, gelassen, zielstrebig. Bruno, mein alter Freund, sagt, er habe die Mail eines
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Mannes bekommen, der ihn wegen eines Fehlers, den er, Bruno, gemacht habe, rüde attackierte.
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Er habe den Fehler zugegeben, sagt Bruno, aber den Mann gleichzeitig freundlich gefragt,
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warum er denn in diesem – der Sache, um die es gehe – doch komplett unangemessenen Tonfall
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schreibe: beleidigend. Zehn Minuten später kam die Antwort: Der Schreiber entschuldigte sich,
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er habe sich im Ton vergriffen, ihm sei der Gaul durchgegangen, das sei ihm peinlich.
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Ich glaube, dass Freundlichkeit die Welt verändern kann, an jedem Tag und in jeder Minute.
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Ich meine nicht: unterwürfiges Lächeln. Ich meine nicht: sich der Auseinandersetzung zu
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entziehen. Ich meine nicht: vor den Schulhofprüglern zu weichen.
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Ich meine die Erkenntnis, dass derjenige schwach ist, der bloß die Kraft seiner rücksichtslosen
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Gemeinheit kennt.
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In Jahrtausenden Menschheitsgeschichte sind es immer diese Leute gewesen, die andere ins
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Unglück stürzten, nicht diejenigen, die auf die Kraft des Wohlwollens und des Respekts
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vertrauten und die stark genug waren, ihre unbezähmbare Wut in zielstrebige Arbeit für die
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eigenen Ziele und in beharrliche Liebenswürdigkeit zu verwandeln.
Anmerkung zum Autor:
Axel Hacke (* 1956): deutscher Journalist und Schriftsteller Aus: Hacke, Axel: Das Beste aus aller Welt. In: Süddeutsche Zeitung. Magazin. Nummer 44, 2. November 2018, S. 50.
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- Der Text Das Beste aus aller Welt wurde von dem Journalisten und Schriftsteller Axel Hacke verfasst und im November des Jahres 2018 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.
- Mithilfe seiner auch in der heutigen Zeit noch aktuellen Kolumne gibt Hacke seiner Leserschaft Handlungsanweisungen zum konstruktiven Umgang mit dem Empfinden der eigenen Wut auf den Weg.
Hauptteil
Formale Analyse
- Die Kolumne verfügt über eine Vielfalt rhetorischer Mittel und syntaktischer Strukturen. Insgesamt wirkt der Text seriös und glaubwürdig, nicht zuletzt durch die zahlreich verwendeten unterschiedlichen Argumentationstypen. Durch persönliche Wertungen und das Sprechen aus der Perspektive der ersten Person im Singular gelingt es Hacke, sich auf Augenhöhe mit seiner Leserschaft zu bewegen.
- Umgangssprachliche Ausdrücke (z. B. „einfach herauslässt“, Z. 28; „Ich glaube“, Z. 37) machen den Text für die Leserschaft nahbar.
- Autoritätsargumente (z. B. Vgl. Z. 11 ff.) unterstreichen den seriösen Charakter der Kolumne. Der Autor selbst legitimiert dadurch die Glaubwürdigkeit seiner eigenen Thesen.
- Analogisierende Argumente (z. B. Vgl. Z. 19 ff.) machen den Text für den Leser eingängig und bildgewaltig. Die verwendeten normativen Argumente (z. B. Vgl. Z. 29 ff.; Vgl. Z. 35 f.) zeichnen sich aufgrund ihrer darin enthaltenen allgemeingültigen Normen und Werte durch eine hohe Überzeugungskraft aus.
- Rhetorische Fragen (z. B. „Das ist naiv?“, Z. 9; „Was heißt das: seine Wut für das Gute nutzen?“, Z. 18) erhöhen das Interesse am Text und regen die Leserschaft selbst zum Nachdenken und Reflektieren an.
- Die verwendeten Phrasen indirekter Rede im Modus des Konjunktivs (z. B. Vgl. Z. 31 ff.) erfüllen eine reportative Funktion und machen den Text, genauso wie zahlreiche direkte Zitate (z. B. ‚„Wut ist etwas Gutes. Ich werde andauernd wütend"‘, Z. 15), lebhafter, lockern den Text auf und wecken das Interesse des Lesers.
- Akkumulationen (z. B. „gegen die Trumps und Salvinis, die Putins und Erdoğans, die Bolsonaros und Gaulands [...] Wut, Hass und Lügen“, Z. 2 ff.) steigern die Bildhaftig- und Eindringlichkeit der Sprache.
- Typisch für Kolumnen und Zeitungsartikel im Generellen ist der parataktische Satzbau. Parataxe (z. B. Vgl. Z. 9 ff.) sorgen für Eindeutigkeit und Verständlichkeit und erhöhen ebenfalls die Aufmerksamkeit des Lesers. Diese Syntax bricht Hacke allerdings immer wieder ganz bewusst mit hypotaktischen Strukturen oder Ellipsen (z. B. „Glaube ich nicht.“ Z. 5), um Aussagen hervorzuheben.
- Hacke verwendet außerdem das Stilmittel der Anapher (z. B. „Ich meine“, Z. 38 und Z. 40), um seine persönliche Meinung hervorzuheben und seiner Kolumne dadurch die nötige Struktur zu verleihen.
- Des Weiteren arbeitet der Autor zur Betonung seiner Argumente mit Wiederholungen und Parallelismen wie „Ich meine nicht: unterwürfiges Lächeln. Ich meine nicht: sich der Auseinandersetzung zu entziehen. Ich meine nicht: vor den Schulhofprüglern zu weichen.“ (Z. 38 f.)
Inhaltliche Analyse
- Zu Beginn des Textes führt der Autor beispielhaft einige zum Entstehungszeitpunkt seiner Kolumne regierende Politiker an, die für „Wut, Hass und Lügen“ (Z. 4) in der Gesellschaft sorgen. Er stellt die These auf, dass die „umfassende Freundlichkeit“ (Z. 4) von uns Menschen die effektivste und mächtigste Waffe im Kampf gegen diese Wut ist.
- Eines seiner Beispiele, das Wut in ihm erzeugt hat, bezieht sich auf den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der bei einem öffentlichen Wahlkampfauftritt einen Abgeordneten für dessen gewalttätigen Angriff auf einen Journalisten gelobt hatte (Vgl. Z. 10 ff.).
- Mithilfe einer Anekdote aus dem Werk Wut ist ein Geschenk (Z. 6) führt er seiner Leserschaft den richtigen Umgang mit Wut exemplarisch vor Augen. Mahatma Ghandi erklärt seinem Enkel dabei, dass er die Wut für etwas Gutes hält (Vgl. Z. 15), seitdem er gelernt hat, „[s]eine Wut für das Gute zu nutzen“ (Z. 17). Diesen Gedanken stellt Ghandi beispielhaft anhand der Textilproduktion in der indischen Baumwollindustrie dar (Vgl. Z. 19 ff.). Englische Konzerne kauften den Stoff ab, verarbeiteten diesen teuer und verkauften ihn der indischen Bevölkerung, weshalb diese einen erheblichen wirtschaftlichen Nachteil erlitt (Vgl. Z. 19 ff.). Die Menschen wurden wütend, doch Ghandi setzte seine Wut in eine produktive „Energie“ (Z. 27) um, die ihm dabei half, „eigene Wollware herzustellen“ (Z. 24).
- Daraufhin differenziert Axel Hacke in seinem Zwischenfazit verschiedene Arten von Wut. Er stellt klar, dass, wenn man die Wut „einfach herauslässt“ (Z. 28), genau das erreicht ist, was der Täter möchte und man sich auf seine Ebene hinab begibt (Vgl. Z. 28 f.). Stattdessen sollte man laut Hacke überlegt und rational handeln (Vgl. Z. 30 f.). Diese Aussage exemplifiziert er anhand eines persönlichen Beispiels aus seinem Leben, das die menschliche Imperfektion aufzeigt. Sein Freund Bruno konfrontierte einen Mann mit seinem „unangemessenen Tonfall“ (Z. 34), woraufhin dieser sich beschämt entschuldigte (Vgl. Z. 31 ff.).
- Schlussendlich präzisiert der Autor seine zu Beginn gestellte These mit den persönlichen Worten: „Ich glaube, dass Freundlichkeit die Welt verändern kann.“ (Z. 37) Dabei unterscheidet er auch an dieser Stelle zwischen zwei Arten von Freundlichkeit. Unter seinem Begriff von Freundlichkeit versteht er keine Unterwürfigkeit (Vgl. Z. 38). Als Beispiele dafür nennt er „unterwürfiges Lächeln“ (Z. 38) oder „sich der Auseinandersetzung zu entziehen“ (Z. 38). Statt unterwürfiger Freundlichkeit fordert er als weltverändernde Freundlichkeit eben jene „Erkenntnis, dass derjenige schwach ist, der bloß die Kraft seiner rücksichtslosen Gemeinheit kennt.“ (Z. 40 f.) An dieser Stelle kommt die Verbindung zu seinem vorherigen Zwischenfazit auf. Hacke verallgemeinert den Sachverhalt („In Jahrtausenden Menschheitsgeschichte“, Z. 42) und appelliert an seine Leserschaft, sich gerade nicht auf die niedere und boshafte Ebene des gemeinen Täters zu begeben, sondern stattdessen stark zu bleiben und die Wut in etwas Positives wie „in Arbeit für die eigenen Ziele und in beharrliche Liebenswürdigkeit zu verwandeln“ (Z. 44 f.).
Schluss
- Der Autor möchte mit seiner Kolumne an unsere Freundlichkeit im gemeinsamen Umgang miteinander appellieren. Wir sollten nicht unsere wertvolle Energie verschenken und mit Wut auf die Gemeinheit anderer Personen antworten, seien es Politiker oder Personen aus unserem sozialen Umfeld. Die in Hackes Augen einzig richtige Antwort ist die Freundlichkeit. Sie bietet einen angemessenen Umgang mit der Wut.
- Hackes Kolumnen mit dem Titel Das Beste aus aller Welt umfasst aktuelle politische, soziale oder alltägliche Themen, die uns Menschen beschäftigen. Der Autor gibt Denkanstöße und auch Handlungsanweisungen, die bspw. unser gemeinsames Zusammenleben optimieren sollen. So verbessert die Freundlichkeit den Umgang mit anderen, aber auch mit einem selbst.
- Die verständliche, bildhafte Sprache und der klar ersichtliche Argumentationsgang des Autors erleichtern dem Rezipienten die Lektüre und wirken auf ihn überzeugend.