Aufgabe 4

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
Tania Kummer (* 1976): Theater
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Text.
Material
Theater
Tania Kummer
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Er braucht weder Lessing noch Kleist, ihm genügt ein Schwank. Er braucht kein
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Schauspielhaus, keine Schaubühne, die Turnhalle sagt ihm zu. In der Turnhalle wurde eine
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Bühne aufgebaut, davor stehen Festbank-Garnituren, linksgereiht und rechtsgereiht, ein breiter
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Mittelgang. Er ist der erste, der sich am Eingang der Turnhalle eine Eintrittskarte kauft, damit
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er ganz vorne sitzen kann. Die Kellnerin nimmt seine Bestellung auf – ein kleines Bier – und
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bringt es ihm umgehend. Als er bezahlen will, sagt sie: „Das ist doch nicht nötig. Zahlen Sie
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später, der Abend dauert noch lange.“
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„Doch“, sagt er.
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Die Turnhalle füllt sich kurz vor 20 Uhr, zu seiner Freude füllt sie sich sehr. Das Stück
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beginnt mit einer Verspätung von zehn Minuten, die ihn nervös machen. Just nachdem die
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ersten beiden Darsteller die Bühne betreten haben, steht er langsam auf. Er geht zum
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Mittelgang, dreht den Rücken zur Bühne und bleibt einen Augenblick stehen. Als er sich sicher
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ist, daß ihn alle im Mittelgang stehen sehen und daß er einigen Zuschauern sogar den Blick zur
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Bühne versperrt, geht er gemächlich los, zieht so viel Luft ein, bis sein Brustkasten aufgeblasen
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ist. Der Boden unter seinen Füßen wird immer länger und breiter. Seinen Blick richtet er nicht
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auf die Leute, er schaut nach vorne, zur großen Türe, zur Uhr darüber, es ist 20:15, zurück zur
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Türe, im Halbdunkel macht er die Türklinke aus. Kurz bevor er die letzten Tische und Bänke
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passiert, drosselt er sein Tempo, geht in Zeitlupe, um das Gefühl der ungeteilten
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Aufmerksamkeit unverwechselbar in sich zu notieren.
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Dann läßt er seine Schritte federn, sein Atem kommt und geht schneller, in leichtem
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Schwindel streckt er den rechten Arm aus, rettet sich mit der Türklinke, macht einen Satz und
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läßt die Türe hinter sich ins Schloß fallen.

Aus: Kummer, Tania: Theater. In: Hohler, Franz (Hrsg.): 112 einseitige Geschichten. Luchterhand Literaturverlag, München 2007, S. 48.

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