Aufgabe 3
Textbeschreibung Prosa
Thema:- O. Henry (* 1862 – unbekannt): Quartier gesucht
- Setze dich mit dieser Geschichte in Form einer Textbeschreibung auseinander.
- Gliedere dabei deinen Text in die folgenden Abschnitte und berücksichtige besonders die genannten Aspekte:
- Formuliere einen zusammenhängenden, gegliederten Text. Achte auf korrekte Sprache und Rechtschreibung. Beides wird bewertet.
(50 P)
Material
Quartier gesucht (vermutlich Ende 19. Jahrhundert)
O. Henry
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Auf seiner Parkbank im Madison Square wälzte sich Soapy unruhig hin und her. Wenn
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die Wildgänse nachts schreiend hoch in den Lüften flogen und Soapy auf seiner Bank
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unruhig herumrückte, wusste man, dass der Winter nahe war. Ein dürres Blatt fiel in
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Soapys Schoß: Nun war es wieder soweit.
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Seine Überwinterungsansprüche waren nicht hoch. Es war nicht von Kreuzfahrten im
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Mittelmeer, vom einschläfernden südlichen Himmel oder von Segelpartien im Golf von
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Neapel die Rede. Was er sich wünschte, war ein dreimonatiger Aufenthalt auf
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Blackwells Island, der Gefängnisinsel; drei Monate, die ihm Kost, Bett und ebenbürtige
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Gesellschaft sicherten und wo ihm der Nordwind und die Polizisten nichts anhaben konn-
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ten.
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Er verachtete die üblichen im Namen der Nächstenliebe getroffenen Fürsorgemaßnah-
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men. Nach seiner Ansicht war das Strafgesetz wohltätiger als die Wohlfahrt. Das
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Sicherste würde sein, in einer teuren Gaststätte zu speisen und sich dann für zahlungs-
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unfähig zu erklären. Dann würde er rasch und ohne Aufsehen einem Polizisten überge-
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ben werden.
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So verließ Soapy seine Bank, schlenderte aus dem Park. Er bog in den Broadway ein,
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blieb vor einem der prächtigen Cafés stehen. Er war zuversichtlich: Er war rasiert, sein
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Mantel war ordentlich und er trug eine nette schwarze Krawatte, die ihm eine
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Missionsdame geschenkt hatte. Wenn er unverdächtig einen Tisch im Speisesaal
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erreichen könnte, wäre die Sache gemacht. Der Teil seiner Person, der oberhalb des
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Tisches zu sehen wäre, würde keinen Argwohn in den Kellnern erwecken. Eine
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gebratene Ente, dachte er, wäre nicht schlecht; dazu eine Flasche Wein, Camembert,
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eine Tasse Mokka und eine Dollarzigarre...
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Aber als Soapy seinen Fuß über die Schwelle der Gaststätte setzte, fiel das Auge des
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Portiers auf die ausgefransten Hosen und schiefgetretenen Schuhe. Kräftige Hände
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drehten ihn rasch herum, führten ihn in aller Stille auf den Bürgersteig zurück.
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An einer Ecke der sechsten Avenue betrachtete er einen Augenblick das Schaufenster
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eines noblen Geschäftes, hob dann einen Stein auf und schleuderte ihn durch die
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Spiegelscheibe. Leute kamen um die Ecke gelaufen, voran ein Polizist. Soapy stand
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gạnz ruhig da, die Hände in den Hosentaschen und lächelte.
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„Wo ist der Mann, der das getan hat?“, fragte der Beamte aufgeregt.
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„Meinen Sie nicht, dass ich etwas damit zu tun haben könnte?“, fragte Soapy wie einer,
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dem das Glück lächelt. Der Polizist wies den Gedanken weit von sich: Leute, die Fenster
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einschmeißen, bleiben nicht stehen, um sich in Unterhandlungen mit den Hütern des
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Gesetzes einzulassen.
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Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße entdeckte Soapy daraufhin ein anspruchs-
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loses Gasthaus. Er setzte sich an einen Tisch und verzehrte ein Beefsteak,
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Pfannkuchen, Törtchen und Pasteten. Dann teilte er dem Kellner mit, dass er kein Geld
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habe. „Und nun los, holen Sie einen Wachmann“, sagte er, „lassen Sie einen Gentleman
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nicht warten!“ „Keinen Wachmann für dich!“, sagte der Kellner mit einer Stimme, zart wie
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Butterkeks, und mit einem Auge, das der Kirsche in einem Manhattan Cocktail glich.
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„He, Con!“ Zwei Kellner warfen Soapy auf die Straße, so dass er mit dem linken Ohr auf
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dem harten Pflaster zu liegen kam. Er erhob sich, Glied für Glied, und klopfte den Staub
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aus seinen Kleidern. Ein Schutzmann, der vor einer Drogerie stand und die Szene
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beobachtet hatte, lachte und ging die Straße hinunter.
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An der nächsten Ecke promenierten Frauen in Pelzen und Männer in Mänteln fröhlich
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in der winterlichen Luft. Heftige Angst befiel Soapy, dass irgendein böser Zauber ihn
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gegen Festnahmen immun gemacht habe! Dieser Gedanke erfüllte ihn mit Schrecken,
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und als er nun auf einen anderen Schutzmann stieß, der stolz vor einem hell
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erleuchteten Theatereingang auf und ab ging, dachte er – wie ein Ertrinkender nach
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einem Strohhalm greifend –, er müsse es mit der Erregung öffentlichen Ärgernisses
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versuchen. Deshalb begann er auf dem Bürgersteig wie ein Betrunkener herumzutanzen
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und mit rauer Stimme zu johlen. Der Polizist wirbelte mit seinem Knüppel in der Luft
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herum, drehte Soapy den Rücken zu und bemerkte zu einem Passanten: „Das ist einer
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von den Studenten der Yale-Universität, die ihren Fußballsieg über die Hartforder feiern.
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Laut, aber harmlos. Wir haben den Auftrag, sie in Ruhe zu lassen.“
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Betrübt stellte Soapy sein nutzloses Lärmen ein. Dann wandte er sich wieder dem
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Madison Square zu, wohin ihn eine Art von Heimweh zog, ein Gefühl, das im Menschen
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fortlebt, selbst wenn sein Heim nur eine Bank in einem Park ist ...
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An einer ungewöhnlich stillen Ecke blieb Soapy stehen. Hier stand eine altmodische,
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weitläufig gebaute, giebelgekrönte Kirche. Durch ein violett schimmerndes Fenster
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sickerte sanftes Licht nach außen. An sein Ohr drang liebliche Musik, die ihn so ergriff,
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dass er ihr, an das eiserne Gitter gelehnt, gebannt lauschen musste. Der Mond war klar
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und leuchtend aufgegangen; Wagen und Fußgänger kamen vorüber; Sperlinge
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zwitscherten schläfrig in der Dachrinne. Die Hymne, die der Organist spielte: Soapy hatte
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sie einst gut gekannt, in den Tagen, da sein Leben noch Dinge wie Mutter, Freunde,
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Rosen und ernstes Streben enthielt und da seine Gedanken rein waren und sein Hemd-
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kragen auch.
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Der Zauber, der von der alten Kirche ausging, bewirkte einen wunderbaren Wandel in
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Soapys Seele. Ein neuer, starker Vorsatz befahl ihm, gegen sein verzweifeltes Los
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anzukämpfen. Er wollte wieder einen Mann aus sich machen. Es war noch Zeit dazu;
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er war noch verhältnismäßig jung; er würde seine alten ungestümen Wünsche wieder
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aufleben lassen und deren Erfüllung ohne Wanken verfolgen. Gleich morgen wollte er
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sich in die Hauptgeschäftsgegend von New York begeben, um Arbeit zu finden. Ein
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Pelzhändler hatte ihm vor längerer Zeit einen Posten als Fahrer angeboten; morgen
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wollte er den Mann aufsuchen und um diese Anstellung bitten, er wollte etwas darstellen
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auf der Welt; er wollte... Soapy fühlte, wie eine Hand sich schwer auf seine Schulter legte.
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Er wandte sich schnell um und blickte in das breite Gesicht eines Polizisten. „Was
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machen Sie da?“, fragte der Polizist. „Nichts!“, antwortete Soapy. „Dann kommen Sie
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mit!“ „Drei Monate auf die Gefängnisinsel!“, sagte am nächsten Morgen der Beamte des
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Polizeigerichts.
Anmerkung zum Autor:
O. Henry (William Sidney Porter, geb. 1862, ehem. Obdachloser) Aus: O. Henry: Quartier gesucht. In: Ansichten 7G, Ausgabe für Hauptschulen in Baden-Württemberg.
Bochum Verlag Ferdinand Kamp, 1989, S. 65-68, (zu Prüfungszwecken bearbeitet).
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- Autor: O. Henry, dessen bürgerlicher Name William Sidney Porter und der zeitweise obdachlos war.
- Titel: Quartier gesucht
- Erscheinungsjahr: vermutlich Ende des 19. Jh., ein genaues Datum lässt sich nicht festlegen
- Textsorte: Kurzgeschichte, Prosa
- Epoche: Neuzeit
- Quelle: O. Henry: Quartier gesucht. In: Ansichten 7G, Ausgabe für Hauptschulen in Baden-Württemberg. Bochum Verlag Ferdinand Kamp, 1989, S. 65-68.
- Thema: Der Autor gewährt einen Einblick in den Lebensabschnitt eines Obdachlosen und mit welchen Herausforderungen derjenige im Alltag konfrontiert ist.
- Inhalt: Es handelt sich um einen Obdachlosen in New York, der sich zahlreiche kleine Vergehen ausdenkt, um von der Polizei erwischt zu werden. Sein Ziel ist es, den Winter in einem Gefängnis zu verbringen, wo er ein behagliches Bett und regelmäßige Mahlzeiten erhält. Leider scheitert sein Plan, verhaftet zu werden. Erst als er eine innere Wandlung durchmacht und ein neues Kapitel in seinem Leben beginnen möchte, wird er ohne triftigen Grund festgenommen.
Hauptteil
1. Formale Analyse- Kürzerer Fließtext: 81 Zeilen
- Klassische Gliederung in Einleitung, Haupt- sowie Schlussteil
- Soapy, der auf einer Parkbank in New York lebt, plant, den Winter im Gefängnis zu verbringen, da er sich dort sicherer fühlt als draußen auf der Straße.
- Um ins Gefängnis zu gelangen, hat er vor, kriminelle Taten zu begehen, damit er festgenommen wird. Unter diese beabsichtigten Kavaliersdelikte zählen Zechprellerei, das Einschlagen einer Fensterscheibe sowie Lärmbelästigung.
- Allerdings führen Soapys „Bemühungen“ nicht zum Ziel, er wird also nicht wie geplant festgenommen. Soapy wird nicht erwischt und der Polizist lässt ihn gehen. Soapy ist frustriert und beschließt, einen anderen Plan zu verfolgen.
- Als er Musik aus einer Kirche hört, weckt dies alte Erinnerungen in ihm, woraufhin er sein Leben ändern will.
- Nachdem er ein Umdenken erlebt hat, wird er sofort wegen Herumlungerns festgenommen, wobei die Strafe übermäßig hart ausfällt und er zu einer Haftstrafe verurteilt wird.
- Abrupter Anfang: Die Leser*innen tauchen am Anfang der Geschichte direkt ins Geschehen ein, ohne dass sie in Kontext gesetzt werden über die Hintergründe des Geschehens. So beginnt die Kurzgeschichte unvermittelt damit, dass Soapy plötzlich nach einer Unterkunft sucht. Ohne nähere Informationen wird die Leserschaft darüber unterrichtet, dass sich Soapy dazu entschieden hat, im Gefängnis zu überwintern.
- Länge: Die Kürze der Geschichte, die sich gerade einmal über 81 Zeilen erstreckt, bildet ein weiteres Merkmal der Textsorte Kurzgeschichte. Sowohl die erzählte Zeit als auch die Erzählzeit ist äußerst knapp. Das Lesen von Quartier gesucht dauert nicht länger als ein paar Minuten und auch der Zeitrahmen, in dem das Erzählte spielt, reicht nur über einen einzigen Tag.
- Wenige Protagonisten: Anders als in längeren Geschichten ist auch die Menge an Protagonist*innen begrenzt. So kommt in der Handlung nur ein Protagonist vor, nämlich „Soapy“ (Z. 1) selbst.
- Schlüsselmoment/Wendepunkt: Das anfangs feste Vorhaben Soapys, die Festnahme durch die Polizei zu provozieren, indem er sich kleinere Straftaten zu schulden kommen lässt, ändert sich schlagartig. Die Musikklänge aus der Kirche (Vgl. Z. 60 ff.) „bewirken einen wunderbaren Wandel in Soapys Seele“ (Z. 69 f.) und er entscheidet sich dazu, gegen sein Schicksal als Krimineller anzukämpfen.
- Offenes und plötzliches Ende: Das Ende O. Henrys Erzählung geschieht ohne Überleitung. So wird Soapy unvermittelt vom Polizisten verhaftet, obwohl er noch wenige Momente vorher einen guten Vorsatz gefasst hatte.
- Alltägliches Leben: In der vorliegende Handlung geht es um das Leben eines Obdachlosen und stellt den Alltag ungeschönt dar. Deshalb handelt es sich um ein lebensnahes Beispiel einer alltäglichen Situation, was typisch für das Textgenre Kurzgeschichte ist.
- Vergleich: „Mit einer Stimme, zart wie Butterkeks, und mit einem Auge, das der Kirsche in einem Manhattan Cocktail glich.“ (Z. 40 f.)
Im Zuge dieses Vergleichs beschreibt Soapy den Kellner in dem edlen Restaurant, in welchem er vorhat, die Zeche zu prellen. Der Vergleich beschreibt eine Person oder eine Stimme, die sehr angenehm und sanft klingt. Die Stimme wird mit einem Butterkeks verglichen, was darauf hinweist, dass sie weich und zart ist. Die Augen werden mit der Kirsche in einem Manhattan Cocktail verglichen, was darauf hindeutet, dass sie auffallend attraktiv sind. Insgesamt wird der Kellner als charmant und ansprechend beschrieben.
- Wörtliche Rede: „‚Was machen Sie da?‘, fragte der Polizist. ‚Nichts!‘, antwortete Soapy.“ (Z. 78 f.)
Die Verwendung direkter Rede findet in Quartier gesucht besonders dann statt, wenn du die Spannung in einer Situation steigt. So hält sich der Erzähler bei indirekter Rede eher im Hintergrund, bevor er dann den einzelnen Protagonisten buchstäblich eine Stimme gibt und sie die wörtliche Rede verwenden lässt. Im Beispiel handelt es sich um den Moment, bevor Soapy von der Polizei am Ende der Kurzgeschichte verhaftet wird.
- Ironie: Anfangs (Z. 5 ff.) beschreibt Soapy, dass er keine hohen Ansprüche besitzen würde und erwähnt im selben Atemzug „Kreuzfahrten im Mittelmeer“ (Z. 5 f.) sowie „Segelpartien im Golf von Neapel“ (Z. 6 f.). An der Stelle bedient er sich dem rhetorischen Stilmittel der Ironie, was seinem Gesagten noch einmal mehr Nachdruck verleiht und damit sein Grundrecht auf ein Dach über dem Kopf sowie warmen Mahlzeiten verdeutlicht.
Fazit
- O. Henrys Intention: Die Intention des Autors O. Henry in der Kurzgeschichte Quartier gesucht ist es, die soziale Realität und das Schicksal der Obdachlosen in der Gesellschaft zu thematisieren. Er möchte auf die prekäre Situation dieser Menschen aufmerksam machen und die Leser dazu anregen, über die sozialen Probleme nachzudenken. Durch die Darstellung von Soapys verzweifeltem Versuch, im Gefängnis Unterschlupf zu finden, zeigt der Autor die Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit, mit der Obdachlose konfrontiert sind. Gleichzeitig kritisiert O. Henry auch die Gleichgültigkeit und Ignoranz der Gesellschaft gegenüber den Bedürfnissen und Nöten der Armen.
- Das tragische Ende der Kurzgeschichte zeigt die Ironie des Schicksals auf: Soapy wird endlich verhaftet. Jedoch geschieht es erst, als er es eigentlich nicht mehr wollte und sich gegen sein Schicksal behaupten wollte.
- Eigene Schlussfolgerung: Das Schlimmste für eine obdachlose Person sind jedoch die Vorurteile, die sich im Blick der Mitpassanten widerspiegeln und mit denen sie tagtäglich zu kämpfen haben. Für mich persönlich ist Quartier gesucht als Appell an uns alle zu verstehen, mehr Empathie und Verständnis für Menschen ohne Obhut aufzubringen und dies so zu verinnerlichen, dass es sich im Umgang mit obdachlosen Menschen zeigt.