Aufgabe 2 - Werke im Kontext
Erörterung zweier literarischer Texte („Werke im Kontext“)
Thema: Franz Kafka (* 1883 - † 1924): Der Verschollene Thomas Mann (* 1875 - † 1955): Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull Aufgabenstellung:- Erörtere in einer vergleichenden Betrachtung, ob und inwieweit die Ausführungen Eriksons auf Karl Roßmann in Der Verschollene und Felix Krull in Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull zutreffen.
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„Der wachsende und sich entwickelnde Jugendliche ist [...] in erster Linie damit beschäftigt, seine soziale Rolle zu festigen. Er ist in [...] oft absonderlicher Weise darauf konzentriert herauszufinden, wie er, im Vergleich zu seinem eigenen Selbstgefühl, in den Augen anderer erscheint [...].“
Anmerkung zum Autor:
Erik H. Erikson (* 1902 - † 1994) war Psychoanalytiker. Aus: Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. 30. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2021 (1. Aufl. 1973), S. 106.
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Einleitung
- Erik H. Erikson war ein Psychoanalytiker, dessen Grundannahmen in der Freud'schen Psychoanalyse ihren Anfang fanden. Der vorliegende Außentext befasst sich inhaltlich mit der Identität bzw. Identitätsbildung, die Menschen insbesondere in ihrem Jugendalter beschäftigt.
- Nach der Erklärung Eriksons Thesen sollen diese exemplarisch auf die Figuren Karl Roßmann in Franz Kafkas Der Verschollene sowie Felix Krull in Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull angewendet werden. In einem zweiten Schritt im Rahmen einer vergleichenden Betrachtungsweise soll erörtert werden, inwiefern Eriksons Ausführungen mit der Identitätsbildung der beiden Figuren übereinstimmen.
Hauptteil
Eriksons Aussagen
- Laut dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson besteht die Hauptaufgabe der Identitätsbildung Jugendlicher in der Festigung der sozialen Rolle innerhalb der Gesellschaft. Mit dem Festigen der sozialen Rolle ist gemeint, dass die Jugendlichen versuchen, ihren persönlichen Platz in der Gesellschaft zu finden, herauszufinden, wer sie sind, was sie ausmacht und sich darin zu behaupten.
- Im Prozess der Etablierung einer eigenen Identität setzen sich Jugendliche, so Erikson, damit auseinander, ob und inwieweit die Wahrnehmung der eigenen Person mit der Wahrnehmung anderer Personen über einen selbst übereinstimmt. Im Jugendalter ist es von großer Bedeutung, was andere Menschen über einen denken. Es findet ein teilweise auch befremdlicher bzw. „absonderlicher“, prüfender Abgleich des Jugendlichen zwischen seinem Selbst- und Fremdbild statt.
- Die Identitätsbildung vollzieht sich im Laufe des Erwachsenwerdens nicht als ein Automatismus, sondern als ein fundamentaler Prozess, in dem der Jugendliche ständig an sich wächst und seiner Identität schrittweise näher kommt.
Übertragung Eriksons Ausführungen auf Karl Roßmann in Der Verschollene
- Der 16-jährige Karl Roßmann hat bereits zu Beginn des Werks keinen festen gesellschaftlichen Platz. Sein persönlicher Werdegang scheint zu diesem Zeitpunkt noch völlig ungewiss, die Figur selbst wirkt orientierungslos. Von seinen Eltern wurde er auf eine Schiffsreise nach Amerika geschickt.
- Ein schwaches Selbstbewusstsein, geringes Selbstvertrauen und wenig Reflexion über sich selbst zeichnen Karl aus.
- Karl denkt ständig an seine Eltern und möchte sie stolz machen. Ebenfalls zeigt er sich gegenüber seinem Onkel, in dessen Residenz er leben darf, äußerst wertschätzend und fleißig, um seinem Dank Ausdruck zu verleihen. Generell sehnt er sich nach sozialen Bindungen, Wertschätzung, Anerkennung und begegnet anderen Menschen mit einem hohen Maß an Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit.
- Er möchte den Erwartungen, die andere von ihm haben, stets gerecht werden und handelt deshalb teilweise sogar entgegen seinen eigenen Interessen und Wünschen.
- Durch das nicht vorhandene Selbstbild bleibt ein möglicher Abgleich zwischen Selbst- und Fremdbild aus. Er möchte jedoch dem Fremdbild, das andere Menschen (u. a. seine Eltern und sein Onkel) sich von ihm entworfen haben, gerecht werden.
- Am Ende des Werks ist Karl sogar mit einem totalen Identitätsverlust konfrontiert und ist verschollen (selbst gewählte Bezeichnung „Negro“). Er versucht zwar durch die Freundschaft mit dem Heizer seine Rolle zu finden. Sein essenzieller Abgleich zwischen Selbst- und Fremdbild bleibt jedoch aus, da er sich selbst nicht reflektiert.
Übertragung Eriksons Ausführungen auf Felix Krull in Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
- Der Protagonist eines Schelmenromans zeichnet sich durch ein starkes, beinahe arrogantes Selbstbewusstsein und ein klares, glorifizierendes Selbstbild aus. Auch anderen Menschen begegnet er äußerst selbstüberzeugt, teilweise manipulativ (umgeht den Schulbesuch und Militärdienst) und lässt sich herablassend über seine Mitmenschen aus. Außerdem nimmt er gleichgültig in Kauf, dass seine Täuschungen das Leben anderer Menschen schädigen könnten.
- Seine Mitmenschen entfremden sich daher von ihm oder möchten erst gar nichts mit dem unehrlichen, selbstverliebten und narzisstischen Protagonisten zu tun haben. Bereits in seiner Kindheit wurde Felix oft ausgrenzt, verbrachte viel Zeit alleine und auch als Jugendlicher ist er sehr einsam. Es liegt eine klare Übereinstimmung seines Selbst- und Fremdbildes vor.
- Als Außenstehender könnte man meinen, dass er sich noch auf der Suche nach seiner sozialen Rolle befindet und sich dafür in unterschiedlichen Rollen übt. Die soziale Rolle versteht Felix dabei ganz wortwörtlich als eine Rolle, die er wie ein Schauspieler situationsbedingt spielt und wieder ablegen kann. In der Identitätsforschung nennt man dieses Phänomen auch Identitäts- bzw. Rollendiffusion. Felix hat nicht die klare Intention, sich am Schluss mit seiner etablierten sozialen Rolle erfolgreich in die Gesellschaft einzuordnen. Am Ende seiner Entwicklung ist deshalb nicht mit einer einheitlichen und gefestigten Identität zu rechnen.
- Dazu passt auch, dass Krull ein Doppelleben führt und bereits in seiner Kindheit Freude daran hatte, andere Menschen zu täuschen.
- Früher hat er durch die Bestätigung und Anerkennung innerhalb seines sozialen Umfelds, auch eine Bestätigung seines Selbstbildes erfahren. Es kommt somit zur Übereinstimmung von Selbst- und Fremdbild im Sinne Eriksons These. Der Selbstmord seines Vaters, die eigene Ausgrenzung in seinem Heimatort und seine Flucht stellen den jungen Protogonisten vor enorme Herausforderungen. An dieser Stelle beginnt die eigentliche Suche nach seiner sozialen Rolle, die für den Leser stellenweise „absonderlich“ erscheint.
- Felix Krulls Identität ist nicht einheitlich und konstant. Auf den Leser wirkt er in dieser Hinsicht äußerst sonderbar, da er unentschieden zwischen verschiedenen möglichen Identitäten steht und sich ausprobiert.
Vergleich
- Sowohl Karl Roßmann als auch Felix Krull befinden sich im Jugendalter und damit in der typischen Phase, in der sich die jeweilige soziale Rolle etabliert. Jedoch stellen sie keine Protypen einheitlich ausgeformter und gefestigter Identitäten dar.
- Die bei Felix stark vorhandene Freiheitsliebe verhindert die Konzentration auf eine einheitliche Identität. Er sieht die Identitätsentwicklung als ein Spiel, verfügt über keinen gesellschaftlichen Platz oder feste soziale Bindungen.
- Doch auch Karl ist es nicht möglich, eine feste Identität aufzubauen. Er besitzt kein Selbstbild, das den eigentlichen Abgleich von Selbst- und Fremdbild überhaupt ermöglicht. Sein stark ausgeprägtes und dominierendes Moralbewusstsein und der ständige Druck, den Erwartungen seiner Mitmenschen gerecht werden zu müssen, verhindert die Entstehung eines „Selbstgefühls“ im Sinne Eriksons.
- Im Unterschied zum aktiv handelnden Felix, der seine Rollen frei auswählt, wird Karl von seinen Mitmenschen regelrecht in Rollen gedrängt. Auf den Leser wirkt er äußerst passiv.
- Die Offenheit und Wertschätzung gegenüber anderen Personen, wie wir sie bei Karl vorfinden, steht im Gegensatz zum überlegenen und manipulativen Felix Krull. Karls Unterordnung gegenüber anderen Personen und sein geringes Selbstvertrauen führen jedoch auch zu seiner naiven und leichtsinnigen Art. Die Folge ist, dass manche Menschen ihre überlegene Position gegenüber Felix ausnutzen. Karl hingegen kann seinen Charme und seine Überzeugungskraft im Umgang mit anderen Menschen, wenn auch auf äußerst manipulative Art, zu seinem eigenen Vorteil machen.
Schluss
- Beide Protagonisten besitzen kein Verständnis einer persönlichen sozialen Rolle im Sinne von Erikson. Stattdessen mangelt es beiden Figuren an ihrer wahren Identität. Felix zeigt für den Leser keinerlei Anzeichen einer festgelegten Identität und ist auch nicht auf der Suche danach. Man könnte beinahe meinen, dass er kein Ich besitzt, sondern lediglich aus verschiedenen Rollen besteht, die zeitlich befristet sind. Dafür spricht sein ständiger Rollentausch.
- Auch Karl in Der Verschollene entspricht nicht der klassischen Vorstellung Eriksons von einem Jugendlichen, der seine soziale Rolle in der Gesellschaft erfolgreich etabliert bzw. auf einem guten Weg ist, dies zu tun. Offen bleibt, ob der Protagonist am Ende des Werks nicht doch von seinem Selbstgefühl dominiert wird und sich damit auf extreme Art eine Form von individueller Identität zuschreibt, zu der der Leser jedoch keinen Zugang erhält. Die Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdbild bleibt jedoch auch dann aus.