Aufgabe 2 - Gedichtvergleich
Vergleichende Interpretation zweier Gedichte
Thema: Georg Trakl (* 1887 - † 1914): Sommersonate (1909-1912)Joachim Ringelnatz (* 1883 - † 1934): Sommerfrische (1932)
- Interpretiere und vergleiche beide Gedichte.
1
Täubend duften faule Früchte.
2
Büsch' und Bäume sonnig klingen,
3
Schwärme schwarzer Fliegen singen
4
Auf der braunen Waldeslichte.
5
In des Tümpelstiefer Bläue
6
Flammt der Schein von Unkrautbränden.
7
Hör' aus gelben Blumenwänden
8
Schwirren jähe Liebesschreie.
9
Lang sich Schmetterlinge jagen;
10
Trunken tanzt auf schwülen Matten
11
Auf dem Thymian mein Schatten.
12
Hell verzückte Amseln schlagen.
13
Wolken starre Brüste zeigen,
14
Und bekränzt von Laub und Beeren
15
Siehst du unter dunklen Föhren
16
Grinsend ein Gerippe geigen.
Aus: Georg Trakl, „Das dichterische Werk“, hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar,
München 2001 (Deutscher Taschenbuch Verlag), S. 56. Material 2 Sommerfrische Joachim Ringelnatz
1
Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß,
2
Das durch den sonnigen Himmel schreitet.
3
Und schmücke den Hut, der dich begleitet,
4
Mit einem grünen Reis.
5
Verstecke dich faul in die Fülle der Gräser.
6
Weil's wohltut, weil's frommt
7
Und bist du ein Mundharmonikabläser
8
Und hast eine bei dir, dann spiel, was dir kommt.
9
Und laß deine Melodien lenken
10
Von dem freigegebenden Wolkengezupf.
11
Vergiß dich. Es soll dein Denken
12
Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.
Aus: Joachim Ringelnatz, „Das Gesamtwerk. Bd. 2: Gedichte 2“, hrsg. v. Walther Pape,
Berlin 1985 (Henssel-Verlag), S. 31 f.
Einleitung
- Im Folgenden sollen die beiden Gedichte Im Spätboot aus dem Jahr 1882, geschrieben von Conrad Ferdinand Meyer, sowie Rückkehr, aus der Feder des Autors Stefan George stammend und im Jahr 1897 veröffentlicht, zunächst jeweils formal und inhaltlich interpretiert werden.
- In einem zweiten Schritt sollen die beiden Gedichte im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede verglichen werden.
Hauptteil
Sommersonate (Georg Trakl)
- Schönheit und Vergänglichkeit: Inhaltlich besteht das Gedicht aus Gegensätzlichem (Tod vs. Leben). Im Werk lassen sich sowohl Vergänglichkeitsmotive („faule Früchte“ V. 1) als auch Schilderungen für die blühende Hülle und Fülle des Sommers finden.
- Musische Komponente: Das Zusammenspiel aus Alliterationen („faule Früchte“ V. 1, „Büsch und Bäume“ V. 2) und dunklen („duften“ V. 1, „braun[e] V. 4“) sowie hellen („klingen“ V. 2, „singen“ V. 3) Vokalen bewirkt, dass vor dem inneren Auge des Lesers ein buntes und vielschichtiges Bild der sommerlichen Natur entsteht.
- Einbezug aller Sinne: Der Geisteszustand des lyrischen Ichs wird zu Beginn des Gedichts als „täubend“ (V. 1) beschrieben. Beispiele für Synästhesie stellen etwa die „duftend[en]“ (V. 1) Früchte, die „klingen[de]“ (V. 2) Landschaft sowie „singen[de]“ Fliegen dar.
- Wahrnehmungen der sommerlichen Umgebung werden in ihrem spannungsvollen synästhetischen Miteinander geschildert: Fäulnis wird als „duftend“ (V. 1) erlebt, die Vegetation „klingt“ (V. 2) „sonnig“ (V. 2) und Fliegenschwärme - eigentlich Anzeichen für Tod und Verwesung - „singen“ (V. 3).
- Formale Untersuchung: umarmender Reim, unreine Reime (V. 1, 4, 5, 8, 14, 15), vierhebiger Trochäus (mit weiblicher Kadenz). Besonders der durch den schweren, gleichmäßigen Trochäus hervorgehobene Rhythmus des Gedichts verleiht ihm einen sich aufdrängenden, gnadenlosen Charakter.
- Antithetischer Charakter: Der als „Tümpel“ (V. 5) bezeichnete See wird im selben Atemzug als Gewässer mit „tiefer Bläue“ (V. 5) beschrieben, der „Schein von Unkrautbränden“ (V. 6) wird mit „[F]lamm[en]“ (V. 6) verglichen und „gelbe[...] Blumenwände[...]“ (V. 7) schützen Liebende vor Blicken (Vgl. V. 8).
- Lyrisches Ich: Mit dem Imperativ angesprochen („Hör“ V. 7) tritt das erste Mal das lyrische Ich in Erscheinung und wird in der Folge etwa als „Du“ (V. 15) bezeichnet. Grundsätzlich hält sich der Erzähler im Hintergrund, nur „[s]ein Schatten“ (V. 11) ist zu erkennen. Als Geschöpf des Schattens wird das lyrische Ich einzig allein durch das Possessivpronomen „mein“ (V. 11) beim Namen genannt, umgeben von einer elektrisierenden Stimmung, die nicht zuletzt durch die Bewegungen der Schmetterlinge und das Zwitschern der Amseln entsteht.
- Morbide: Der Tod, versteckt „unter dunklen Föhren“ (V. 15) ist auf den ersten Blick nicht zu sehen, doch geigt „grinsend“ (V. 16) und vergnügt, was wiederum das Ende des Sommers andeuten soll. Der Kranz aus „Laub und Beeren“ (V. 14) steht entweder stellvertretend für das lyrische Ich, da Laub und Beeren auch als Emblem des Autors gelten, oder auch für den Tod an sich.
Sommerfrische (Joachim Ringelnatz)
- Der Erzähler in Ringelnatz' Gedicht hält den Leser dazu an, die Sommerfrische zu genießen und innezuhalten. Der Erzähler spricht zu einem „du“ (V. 7) und damit zu sich selbst.
- Skizzenhafte Darstellung der Umgebung: Anstatt ins Detail zu gehen, beschränkt sich der Autor auf eine oberflächliche Beschreibung der ihn umgebenden Natur mit „sonnige[m] Himmel“ (V. 2) mit einzelnen „Wölkchen“ (V. 1).
- Spätsommer: Die Ernte steht kurz bevor („Fülle der Gräser“ V. 5), was daraufhin hindeutet, dass sich der Sommer dem Ende zuneigt. Obwohl Insekten wie der „Grashüpferhupf“ (V. 12) für Leben in der Wiese sorgen, büßt das Gedicht dadurch nicht seinen beruhigenden und ausgeglichenen Charakter ein.
- Durch imperatives Auffordern („Zupf“ V. 1) weckt Ringelnatz einen Impuls beim Leser, sich am „durch den sonnigen Himmel schreite[nde]“ (V. 2) „Wolkenweiß“ (V. 1) zu erfreuen.
- Als Wandermotiv kann der „Hut“ (V. 3), an welchen „grüne[r] Reis“ (V. 4) gesteckt wird, angesehen werden.
- Ruhe und Gelassenheit: Die Aufforderung zum Entspannen {„Verstecke dich faul“ (V. 5)) erweckt im Leser das Empfinden, sich voll und ganz im Moment fallen lassen zu können. Wenn einem danach ist „dann spiel, was dir kommt“ (V. 8), ganz nach dem Credo: Alles kann, nichts muss.
- Das Motiv Mundharmonika: Spontanität, Tradition, Kreativität. Diese Bedeutungen verstärken noch einmal den Impuls loszulassen und dem Gefühl zu folgen, welches der Autor beim Leser hervorrufen möchte.
- Formale Untersuchung: wiederholte Konjunktionen („und“ V. 7, 8, 9) deuten auf die stille Übereinkunft von Natur und Erzähler hin. Imperative („Vergiß dich“ V. 11) ermutigen den Leser darin, sich ganz und gar dem Moment hinzugeben. Die zahlreichen Imperative, die parataktische Struktur sowie Diminutive („Wölkchen“ V. 1) und Neologismen („Wolkengezupf“ V. 10) verleihen dem Text eine Leichtigkeit. Auch das abwechselnde Metrum von Jambus und Daktylus bewirkt einen beinahe unsteten und leicht fröhlichen Charakter des Gedichts, ebenso wie die Reimform, welche im umarmenden Reim beginnt und dann im Kreuzreim mündet.
- „Es soll dein Denken. Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.“ (V. 11 f.): Übertriebenes Nachdenken gefährdet das persönliche Glück.
Vergleich
- Die Darstellung der sommerlichen Idylle wird in den beiden vorliegenden Gedichten auf sehr unterschiedliche Weise dargestellt.
- Beide Stücke sprechen den Leser auf der Sinnesebene an, sodass man sich gut in die jeweilige Szenerie hineinzuversetzen vermag. Diesen Effekt erzielen die Gedichte, indem sie synästhetische, akustische sowie visuelle (Hackl: Differenzierung von Hell und Dunkel) rethorische Mittel verwenden.
- Sowohl in Hackls als auch in Ringelnatz' Gedicht sind die Erzähler jeweils beseelt vom Naturgeschehen und empfinden die sommerliche Gartenkulisse als wohltuend.
- Weniger ähnlich ist hingegen die jeweilige Stimmung in den einzelnen Gedichten: Während von Hackls Werk eine Schwere ausgeht, umgibt Ringelnatz' Sommerfrische ein Hauch von Leichtigkeit. Zwar deutet Ringelnatz ebenso die Gefahr des „Überreflektierens“ an, jedoch nur auf subtile Art und Weise. Er beschreibt eine fröhliche und leichte Atmosphäre, in der die Natur in ihrer vollen Pracht erstrahlt und das Leben in vollen Zügen genossen wird. Die Verse sind geprägt von einem spielerischen und humorvollen Tonfall. Das Gedicht vermittelt ein Gefühl von Freiheit, Unbeschwertheit und Lebensfreude.
- In Hackls Sommersonate hingegen tritt der Tod leibhaftig als Memento mori Motiv auf und kann als Anprangern an die Vergänglichkeit der Hülle und Fülle des Sommers verstanden werden. Außerdem liegt in diesem Gedicht eine düstere und melancholische Stimmung vor. Die Hitze des Sommers wird als bedrückend empfunden und die Natur erscheint in einer bedrohlichen und beklemmenden Art und Weise. Die Verse sind geprägt von einer tiefen Melancholie, Einsamkeit und Verzweiflung. Das Gedicht wirkt wie eine düstere Meditation über den Verfall und die Vergänglichkeit.
Schluss
- Der Vergleich der beiden Gedichte Sommerfrische von Joachim Ringelnatz und Sommersonate von Georg Trakl zeigt, dass beide Werke das Thema Sommer aufgreifen, jedoch mit unterschiedlichen Stimmungen und Bildern.
- Beide Gedichte zeigen somit verschiedene Facetten des Sommers und laden den Leser ein, sich mit unterschiedlichen Emotionen auseinanderzusetzen. Während Ringelnatz eine heitere und positive Sichtweise auf den Sommer präsentiert, zeigt Trakl eine düstere und pessimistische Perspektive. Diese unterschiedlichen Darstellungen verdeutlichen die Vielschichtigkeit des Themas Sommer und regen dazu an, über die verschiedenen Aspekte dieser Jahreszeit nachzudenken.