Aufgabe 3
Analyse eines pragmatischen Textes
Thema: Sprache in politisch-gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen Alexander Cammann (* 1973): Die neue Macht der Stimme (2021) Aufgabenstellung:- Analysiere den Text von Alexander Cammann. Berücksichtige dabei die Argumentation, die sprachlich-stilistische Gestaltung sowie die Intention des Textes. (ca. 60 %)
- Setze dich mit Cammanns Einschätzung der „neue[n] Mündlichkeit“ (Z. 41) auseinander. (ca. 40 %)
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Ein mittleres Beben geht momentan durch das literarische Leben in Deutschland:
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Ein öffentlich-rechtlicher Sender plant wieder einmal eine Reform seiner Bericht-
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erstattung über Literatur. WDR 3 hatte kürzlich seine freien Mitarbeiter darüber
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informiert, dass es dort künftig keine Literaturrezensionen mehr geben werde,
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sondern Bücher in anderen Formaten vorkommen sollten, in Interviews zum Bei-
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spiel. Daraufhin war die öffentliche Empörung groß, zumal im NDR zuvor eben-
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falls brachial gestrichen worden war, es gab Unterschriftenlisten mit Tausenden
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Unterzeichnern, selbst der Börsenverein des Deutschen Buchhandels protest-
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ierte. Schließlich ruderte man in Köln zurück: Alles sei nur ein Missverständnis,
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unter dem Stichwort „abwechslungsreicher“ und „zeitgemäß“ solle Literatur auf
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WDR 3 weiterhin stattfinden, und es könne immer mal wieder auch Rezensionen
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geben, also vorgelesene, analysierende Texte über Bücher.
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Das alles mag nach einer Geringfügigkeit aussehen. Was machen schon ein paar
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Rezensionen weniger? Doch zeigt sich in der Debatte ein altbekanntes Übel: die
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notorische Unterschätzung des Publikums, dem man niedrigschwellige, leben-
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dige Angebote mit „echten Menschen“ machen zu müssen glaubt. Ebenso frag-
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würdig ist die Sparlogik eines Milliardensenders wie des WDR, der ausgerechnet
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bei den Schwachen kürzt, bei den freien Rezensenten, die vielleicht 300,
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400 Euro für einen Text bekommen, während das Liveinterview durch einen Re-
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dakteur mit sechs, sieben Fragen an eine Buchautorin für null Euro zu haben ist.
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All das steht vollkommen zu Recht in der empörten Kritik.
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Allerdings muss man den Konflikt vor allem als Symptom verstehen. Hier mani-
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festiert sich im Kleinen eine der größten Umwälzungen der Gegenwart: der Sie-
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geszug der Mündlichkeit. Ohne Weiteres lässt sich darin der revolutionärste Wan-
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del in der Bewusstseinsindustrie des 21. Jahrhunderts erblicken: Auf den iconic
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turn, den Siegeszug der Bilder, folgt jetzt der oral turn. Er findet überall statt,
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ganz im Privaten und Alltäglichen – statt auf dem Smartphone Textnachrichten
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an andere zu tippen, nimmt man Sprachnachrichten auf und versendet sie. Man
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spricht in sein Gerät, um einen Begriff zu googeln. Und hört nebenbei, beim Spa-
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ziergang oder im Bus, einen Podcast oder macht mit in den Diskussionsrunden
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der neuen App Clubhouse, begeistert sich für das schnell Dahingesagte, für
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Palaver und Gequatsche und ebenso für die ernsthaft um Argumente bemühten
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Debatten.
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Das Erfolgsgeheimnis liegt auf der Hand: Individuell, nahbar, frei, ungezwungen,
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ungeregelt, locker, formlos oder geschickt auf Formlosigkeit getrimmt ist diese
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Form der Mündlichkeit. Sie gilt als authentisch, man kann leicht glauben, man sei
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als Hörer mit dabei, derart echt und eben nicht fälschbar wie Bilder klingt die
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menschliche Stimme, anders als in den geregelten Formaten des klassischen
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Radios, das jetzt mit großen Anstrengungen auf den Zug in die Podcast-Leichtig-
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keit aufspringen will und ganz dringend auch ein Teilhabegefühl suggerieren will.
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Diese neue Mündlichkeit trifft auf einen gesellschaftlichen Resonanzraum. Es ist
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kein Zufall, dass zwei zentrale Begriffsformeln der politischen Debatten hierzu-
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lande perfekt zu dieser Mündlichkeit passen: „Lasst uns miteinander reden“ und
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„Endlich eine Stimme geben“. Für beide Formulierungen wurden man vom politi-
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schen Establishment noch vor nicht allzu langer Zeit für unzurechnungsfähig er-
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klärt worden. Heute kommt dieses Vokabular in fast jeder Rede des Bundesprä-
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sidenten Steinmeier vor. Beide Redensarten sind vermutlich weniger eine Reak-
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tion auf eine gesellschaftliche Krise, sondern vielmehr auf eine veränderte Art der
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Kommunikation.
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Woher kommt diese neue Lust am Sprechen, an der Mündlichkeit? Sie geht ein-
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her mit der allmählichen Auflösung der normierten Schriftsprache als Zielutopie
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der Kommunikation, die in Deutschland mit der Rechtschreibreform um die Jahr-
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tausendwende herum einsetzte; mittlerweile schreibt man kaum noch falsch, man
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schreibt anders. Normen und Regeln stehen ohnehin auch in der Sprache immer
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stärker unter Herrschaftsverdacht. Das ungezwungene Reden hingegen ist da-
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von vermeintlich frei und schier grenzenlos – befeuert von allseits griffbereiter
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Technik.
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Entscheidend für den Aufstieg der Mündlichkeit dürften aber wieder einmal die
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ewigen Mutationen des guten alten, immer jungen Kapitalismus sein. Denn der
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Reiz des Sprechens liegt ja auch in seiner Flexibilität: Nichts ist fixiert, alles ist
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fluide, anders als bei den vermaledeiten gedruckten Buchstaben; vieles bleibt
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vorläufig, man kann sich schnell in einem Nachsatz korrigieren und erklären,
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bleibt im Flow, sagt das jetzt einfach mal so, auch in der Zwiesprache, und kann
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schon durch den Tonfall klarmachen, was beim geschriebenen Wort leicht miss-
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verstanden werden kann. Und wenn es nicht aufgeht, fängt man einfach neu an
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anderer Stelle an, alles darf immer unvollständig sein.
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Genau das ist der flexible Traum des modernen Kapitalismus, den dieser seit
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einigen Jahrzehnten verwirklicht: Schrift ist demnach eine ziemlich fordistische
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Idee des stets nur neu kombinierten Immergleichen; das Sprechen hingegen die
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postfordistische Freiheit der kleinsten Nuancen, des flüchtigen Augenblicks.
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Für das Publikum ist diese allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden
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ein faszinierendes Schauspiel („Die machen das ja eigentlich wie ich!“). Hingegen
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wäre ein Livestream, der das Schreiben dieses Textes begleitete, allenfalls für
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philologische Freaks von Interesse. Nur darf man sich von der allgegenwärtigen
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Dominanz des Mündlichen nicht täuschen lassen. Denn der flexible Mensch ist
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bekanntlich ein komplett inkonsistentes Wesen und mithin zu unterschät-
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zen: Wer sich in dem einen Moment von fixierten Buchstaben angestrengt und
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bedroht fühlt, sorgt im nächsten für Rekordumsätze auf dem Buchmarkt während
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der Pandemie und hört interessiert im Radio vorgelesenen, unaufgeregt argu-
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mentierenden Rezensionen zu.
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Umso trauriger, dass, um nur ein besonders auffälliges Beispiel zu wählen, die
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legendären Radiovorträge Adornos aus den 1950er- und 1960er-Jahren im
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heutigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk keine Chance hätten, weil hier der
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Sound noch buchstabengläubig an die Schriftkultur gekoppelt war: stoisch abge-
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lesene, statisch fein gefügte, eherne Satzkaskaden, denen man genau deswe-
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gen hypnotisiert lauschte. Allzu Fremdes passt eben immer noch nicht in die
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neuen Normen der fluiden Kultur von heute.
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Man ahnt, was der elitäre Radiostar Adorno über die heutige vor sich hin brab-
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belnde Bewusstseinsindustrie gesagt hätte. Gegenüber seiner Kulturkritik gibt es
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allerdings Trost. Denn auch wenn das 19. Jahrhundert die Epoche des massen-
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haft Gedruckten und das 20. die der überwältigenden Bildermacht war; auch
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wenn das 21. Jahrhundert vom alles beherrschenden Sprechen geprägt sein
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wird: Die Aura der Buchstaben wirkt immer noch – bei unzähligen Leserinnen und
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Lesern, trotz erhöhten Konkurrenzdrucks und unabhängig von allen Rundfunk-
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reformen. Das belegen ja trotz vieler Niedergangsklagen die Buch- und E-Book-
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Verkäufe und die Neugier auf Literatur. Und für ausreichend viele Gläubige bleibt
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es daher beim Credo: Es gilt das geschriebene Wort.
Anmerkungen zum Autor:
Alexander Cammann (* 1973) ist Journalist. Aus: Cammann, Alexander: Die neue Macht der Stimme. In: Die Zeit.; Zugriff am 07.11.2024.
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Einleitung
- Alexander Cammanns 2021 in der ZEIT erschienener Essay Die neue Macht der Stimme untersucht einen medial-kulturellen Wandel: die Aufwertung von Mündlichkeit in Öffentlichkeit und Alltag und die damit verbundene Relativierung von Schriftlichkeit.
- Ausgangspunkt ist ein Streit um Literaturkritik beim WDR, den Cammann als Symptom einer viel größeren Umwälzung deutet.
- Im Folgenden werden Argumentationsgang, sprachlich-stilistische Gestaltung und Intention des Textes analysiert.
Hauptteil
1. Argumentationsgang und Gedankengliederung- Cammann eröffnet mit einer aktuellen Medienkontroverse: Ein öffentlich-rechtlicher Sender plant, keine Literaturrezensionen mehr zu senden. (Vgl. Z. 2–5) Es folgt „öffentliche Empörung“ (Z. 6) (Unterschriftenlisten, Protest des Börsenvereins). Obwohl der Sender zurückrudert (Vgl. Z. 9–13), markiert der Fall für Cammann mehr als nur eine Kleinigkeit: Er ist Anzeichen eines umfassenden Trends. (Vgl. Z. 14–22)
- Der Konflikt „manifestiert sich im Kleinen“ (Z. 22 f.)als Teil „der größten Umwälzungen der Gegenwart“ (Z. 23): Nach der Dominanz der Bilder im 20. Jahrhundert vollzieht sich nun der „oral turn“ (Z. 26). Mündlichkeit findet „überall“ (Z. 26) statt: Sprachnachrichten, Podcasts, spontane Debatten (Vgl. Z. 27–33). Damit verankert Cammann den Einzelfall in einer kulturgeschichtlichen Makrodiagnose.
- Das Erfolgsgeheimnis liege in Authentizität, Nähe, Ungezwungenheit (Z. 34–37); die menschliche Stimme wirke „echt“ (Z. 37). Zugleich trifft Mündlichkeit auf einen gesellschaftlichen Resonanzraum: Politische Schlagworte wie „Lasst uns miteinander reden“ (Z. 43) und „Endlich eine Stimme geben“ (Z.44) passen zur neuen Kommunikationsform. Cammann deutet die Aufwertung also nicht nur medial, sondern sozio-politisch.
- Auf die Frage „Woher kommt diese neue Lust am Sprechen, an der Mündlichkeit?“ (Z. 50) antwortet er mit einer Historisierung: Seit der Rechtschreibreform um 2000 (Vgl. Z. 51–53) gilt geschriebene Norm „unter Herrschaftsverdacht“ (Z. 55). Sprechen erscheint „frei“ (Z. 56) und „grenzenlos“ (Z. 56) – verstärkt durch allzeit verfügbare Technik (Vgl. Z. 56 f.).
- Mündlichkeit ermögliche Korrektur im „Nachsatz“ (Z. 62) und einen „Flow“ (Z. 63), während Schrift Fixierung verlange. So erklärt Cammann den Trend ökonomisch-kulturell. Doch die Dominanz der Mündlichkeit dürfe nicht „täuschen“ (Z. 75). Der „flexible Mensch“ (Z. 75) sei „inkonsistent“ (Z. 76); während der Pandemie zeigten Buchmarkt-Rekordumsätze, dass Schrift weiter Bedeutung hat (Vgl. Z. 79).
- Cammann vergleicht Adornos legendäre Radiovorträge der 1950er/60er mit der „fluiden“ (Z. 87) Kultur heute (Vgl. Z. 80-87): Der elitäre Radiostil hätte im heutigen Setting keine Chance. Das Beispiel schärft den Befund: Der Habitus anspruchsvoller Schriftkultur passt schlecht zur gegenwärtigen Mündlichkeitsdominanz.
- Trotz Bilder- und Stimmenmacht bleibe die „Aura der Buchstaben“ (Z. 93) wirksam; Buch- und E-Book-Verkäufe und die Neugier auf Literatur belegten dies (Vgl. Z. 95–96). Cammann schließt mit der bewusst traditionsstiftenden Sentenz: „Es gilt das geschriebene Wort.“ (Z. 97). Die argumentativ ausgewogene Bewegung lautet: Zunehmende Mündlichkeit ja – aber Schrift bleibt normativ und kulturell unverzichtbar.
- Der Text ist ausgeprägt hypotaktisch gebaut (z. B. Z. 2, 16) 90–93) und arbeitet mit rhetorischen Fragen als themenlenkenden Drehpunkten (z. B. Z. 50). Indirekte Rede rahmt den Aufhänger (Z. 2, 9 f.), Inversionen akzentuieren Wichtiges (z. B. „Entscheidend… dürften… sein“, Z. 58 f.). Diese Verfahren markieren einen elaborierten, schriftsprachlichen Gestus, der selbst schon gegen die These der Schrift-Erosion steht: Cammann demonstriert Schriftlichkeit, während er ihre Relativierung diagnostiziert.
- Cammann mischt Bildungssprache und scharfe Polemik. Gelehrte oder kulturell markierte Termini und Anspielungen: „Bewusstseinsindustrie“ (Z. 25), „oral turn“ (Z. 26), „postfordistische Freiheit“ (Z. 70), „philologische Freaks“ (Z. 74) stehen neben wertenden bzw. abwertenden Alltagswörtern: „Palaver und Gequatsche“ (Z. 32), „vermaledeiten [...] Buchstaben“ (Z. 61).
- Bildfelder strukturieren den Text: Kampf/Sieg („Siegeszug“, Z. 26), Flüssigkeit/Bewegung („fluide“, „Flow“, Z. 59–63), Aura/Heiligtum der Schrift (Vgl. Z. 94–97). Dadurch entsteht ein wertendes Bedeutungsnetz, das Mündlichkeit attraktiv, aber auch gefährlich verführerisch erscheinen lässt.
- Der Ton ist häufig ironisch (Vgl. Z. 8–11 oder das Staunen über „Podcast-Leichtigkeit“ des Radios, Z. 39 f.). Cammann operiert mit einem distanzierten „man“, das den Blick des aufgeklärten Beobachters markiert (z. B. Z. 28, 53, 62). Dem steht das „Publikum“ (Z. 71) gegenüber, das sich faszinieren lässt, und der implizite Leser, dem Adorno (Z. 82) und theoretische Vokabeln geläufig sind. Diese Adressatenführung wirkt bildungsbürgerlich: Sie inkludiert Kenner, exkludiert jedoch Leser*innen ohne diese Vorbildung – ein bewusster Gestus kultureller Selbstvergewisserung.
- Kontrastmarker („Allerdings“, Z. 22; „Ums so trauriger“, Z. 81), Chronologisierungen (von der Rechtschreibreform bis zur Pandemie, Vgl. Z. 51–79) und Exempla (WDR, Adorno) verbinden Einzelfall, Diagnose, Historisierung und Wertung zu einem logisch folgerichtigen Aufbau. Die Schlussformel fungiert als These-Wiederaufnahme und als normative Setzung.
- Cammann will aufklären und gewichten: Er erkennt die Stärken der Mündlichkeit – Authentizität, Teilhabegestus, Flexibilität an – und erklärt ihren Erfolg sozial-, kultur- und ökonomiekritisch. Zugleich warnt er vor einem naiven Triumph des Mündlichen (Vgl. Z. 75) und plädiert für die kulturelle und demokratische Notwendigkeit von Schriftlichkeit (Vgl. Z. 90–97).
- Seine Intention ist damit balanciert normativ: Mündlichkeit als mächtige Gegenwartspraxis verstehen, aber Schrift als Ort der Reflexion, Verbindlichkeit und Kritik bewahren. Die Schlussformel setzt ein bewusst pathetisches Bekenntnis, das der Leserschaft eine Positionierung anbietet.
Fazit
- Cammanns Essay entwickelt aus einem Anlassfall eine großräumige Kulturdiagnose: den „oral turn“ (Z. 26) als Folge technischer Verfügbarkeit, politischer Teilhaberhetorik und eines kapitalistischen Flexibilitätsregimes. Der Argumentationsgang ist stimmig strukturiert und durch bildungssprachliche, teils ironisch-polemische Stilmittel profiliert.
- Wirkung und Intention zielen auf Differenzierung: Die Mündlichkeit dominiert gegenwärtige Kommunikation, doch Schriftlichkeit bleibt als kritisches, nachhaltiges Medium unverzichtbar. Damit positioniert sich der Text zwischen kulturkritischer Skepsis und pragmatischer Akzeptanz – und lädt zur reflektierten Abwägung der beiden Kommunikationsmodi im öffentlichen Diskurs ein.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Aufbauend auf der Analyse wird Cammanns Deutung eines gegenwärtigen Übergangs zu stärkerer Mündlichkeit geprüft. Ausgehend vom WDR-Anlassfall entfaltet er eine kulturkritische Diagnose, verbindet sie mit politischen und ökonomischen Kontexten und insistiert am Ende auf der fortdauernden Rolle der Schrift.
- Im Folgenden soll seine Position sowohl anerkennend als auch kritisch betrachtet werden.
Hauptteil
Zustimmende Position- Cammanns Diagnose eines „oral turn“ ist schlüssig, weil sie mediale, politische und ökonomische Faktoren bündelt. Die aktuell hohe Attraktivität mündlicher Formate (Nähe, Authentizität, Beteiligung) erklärt er überzeugend aus der alltäglichen Verbreitung von Sprachnachrichten, Podcasts und Gesprächsrunden und aus einem öffentlichen Resonanzraum, in dem Sprechen als Teilhabe markiert wird (Vgl. Z. 41–46).
- Als weiterer Treiber wirkt die Logik eines auf Flexibilität ausgerichteten Kapitalismus: Was schnell, fluide und leicht korrigierbar ist, setzt sich gegenüber fixierenden, langsamen Verfahren häufiger durch (Vgl. Z. 58–66).
- Vor diesem Hintergrund ist seine Mahnung gerechtfertigt, die Funktionsstärke der Schrift nicht preiszugeben: In Recht, Verwaltung, Prüfung und Wissenschaft sichern Fixierung, Nachprüfbarkeit und Verbindlichkeit die Qualität von Entscheidungen und Argumenten (Vgl. Z. 90–97).
- Auch der Anlassfall im Kulturbetrieb erscheint damit nicht zufällig, sondern als Effekt von Spar- und Reichweitenkalkülen, die gesprochene, vermeintlich zugänglichere Formate begünstigen (Vgl. Z. 14–21). Insgesamt liefert Cammann so eine plausible Kulturdiagnose, die den Bedeutungszuwachs des Mündlichen erklärt, ohne den normativen Rang der Schrift aus dem Blick zu verlieren.
- Korrekturbedarf entsteht dort, wo der Essay den Gegensatz zu scharf stellt. Die Gleichsetzung von Mündlichkeit mit Spontaneität und von Schriftlichkeit mit Fixierung greift zu kurz. Viele mündlich verbreitete Angebote sind redaktionell geplant und damit konzeptionell schriftlich; umgekehrt zeigen Chats und Kurzposts schriftlich-mediale Formen, die konzeptionell mündlich funktionieren.
- Der Wandel erscheint daher weniger als Ablösung, sondern als Hybridisierung aus medialer Oralisierung und fortbestehender schriftlicher Struktur. Auch die Herleitung über eine generelle Erosion normierter Schrift seit der Reform (Vgl. Z. 50–57) ist nur bedingt tragfähig; die Ausweitung auditiver Formate lässt sich mindestens ebenso durch Technikverfügbarkeit, Mobilnutzung und Zeitökonomie erklären.
- Zudem werden die produktiven Potenziale konzeptioneller Mündlichkeit unterschätzt: Gut moderierte Talkformate, lange Interviews und wissenschaftsnahe Podcasts können Differenzierung leisten und über Transkripte, Kapitelmarken und Shownotes dokumentationsfähig werden – ein Gegenakzent zur Annahme durchweg flüchtiger Rede.
- Schließlich wirkt die kontrastive Bezugnahme auf ältere Radiokultur als bildungsbürgerliche Zuspitzung (Vgl. Z. 80–87), die zwar pointiert, aber die Breite heutiger, qualitativ heterogener Formate nicht vollständig abbildet. In der Summe bleibt Cammanns Kernintuition richtig, doch sie gewinnt, wenn man die gegenwärtige Kommunikationswirklichkeit als ausdifferenzierte oral-schriftliche Mischkultur beschreibt.
Schluss
- Cammanns Warnung vor einem unkritischen Triumph der Stimme ist berechtigt; er erinnert daran, dass demokratische Öffentlichkeit die Kompetenzen der Schrift—präzises Formulieren, Dokumentieren, Prüfen—weiter pflegen muss.
- Nachhaltig wird die Diagnose jedoch erst, wenn der Trend als Hybridisierung mit wechselseitigen Stärken gelesen wird: Mündlichkeit steigert Zugang, Tempo und Resonanz; Schrift sichert Haltbarkeit und Genauigkeit.
- Aufgabe von Schule, Medien und Politik ist es daher, beide Register bewusst zu lehren, ihre Schnittstellen (Transkription, Redaktion, Archivierung) auszubauen und so Teilhabe wie inhaltliche Tiefe zugleich zu gewährleisten.