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Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 1

Erörterung eines literarischen Textes

Thema:
Juli Zeh (* 1974): Corpus Delicti. Ein Prozess (2009)
Aufgabenstellung:
  • Stelle die wesentlichen Aussagen des Textauszugs von Jan Wittmann dar und formuliere schlussfolgernd den zentralen Interpretationsansatz. (ca. 30 %)
  • Erörtere auf der Basis deiner Kenntnisse zum Roman Corpus Delicti. Ein Prozess, ob bzw. inwiefern Wittmanns Aussagen über den Justizapparat im Roman auf dessen Vertreter Sophie Stock und Lutz Rosentreter zutreffen. (ca. 70 %)
Beachte, dass der Schwerpunkt der Gewichtung auf der zweiten Teilaufgabe liegt.
Material
Kriminalistisches Wissen und richterliches Urteilen in Zehs Zukunftsentwurf Corpus Delicti (2018)
Jan Wittmann

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Der Roman zeigt […] eine höchst politische Instrumentalisierung des Rechts, das
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die Kritik als Gefährdung brandmarkt und die Gegner gewaltsam unterdrückt.
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Das Recht ist hier, so zeigt der Text, kein autonomes System, das dem Schutz
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übergeordneter Rechtsgüter, sondern vielmehr dem Erhalt eines Gesellschafts-
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modells dient.
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Insbesondere das am Ende des Romans erzählte Verfahren gegen Mia Holl stellt
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den Inszenierungscharakter und die Performativität einer Strafrechtspflege aus,
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der eine system- und weniger eine rechtssichernde Funktion zukommt. […]
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Kennzeichnend sind zum einen die als „schwarze Puppen“ betitelten Justizfigu-
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ren, zu denen neben den Richtern auch der Staatsanwalt und der Verteidiger
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zählen. Diese Umschreibung hebt auf die schwarzen Roben ab, die als vorge-
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schriebene Kleidung während der Gerichtsverhandlung ihre Träger von der au-
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ßergerichtlichen Welt abgrenzen und markieren, dass sich ihr Handeln außerhalb
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des gewöhnlichen und eigentlichen Lebens bewegt. Zudem dient die Robe der
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sichtbaren Differenzierung der im Gerichtssaal anwesenden Menschen zwischen
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denjenigen, die über die Taten des Angeklagten zu Gericht sitzen, und jenen Au-
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ßenstehenden, die das Verfahren durch Zeugnisse unterstützen oder ihm be-
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obachtend beiwohnen. Allerdings bleibt es im Text nicht bei einer bloßen Refe-
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renz auf die konventionalisierte Berufskleidung, vielmehr ist dem Begriff „Puppe“
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eine Wertung eingeschrieben, die neben dem Spielcharakter des Gericht-Haltens
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die Justizfiguren als marionettenhaft und persönlichkeitslos beschreibt.
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Diese subtextuell vermittelte Charakterisierung von Richtern, Staatsanwälten
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und Verteidigern als fremdgesteuerte Ausführungsorgane einer Staatsideologie
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fügt sich in das vom Roman entworfene Bild der Justiz, die das vermeintliche
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Allgemeininteresse schützt und zugleich die „METHODE“ stützt. […]
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Dass der Roman kein rechtsstaatliches Verfahren zeigt, sondern gerade dieser
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Prozess gegen Mia Holl von der Instrumentalisierung des Rechts durch die
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Staatsideologie erzählt, wird auch bei dem Blick auf die Verteidigung durch die
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Figur Rosentreter erkennbar. Der Anwalt verzichtet nach der Verlesung der An-
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klage durch Staatsanwalt Bell entgegen dem Waffengleichheit garantierenden
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Grundsatz der Pflichtverteidigung „aufgrund der erdrückenden Beweislage […]
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auf einen Gegenantrag“ (JZ CD, 253) und „beruft sich auf den Selbstschutz
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von Justizorganen im Strafprozess“ (JZ CD, 254). Die Wahrung der Rechte des
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Angeklagten durch einen hierzu bestellten Verteidiger stellt eine zentrale Errun-
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genschaft des modernen Prozessrechts dar, in dem Anklage, Verteidigung und
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Urteilsfindung nicht mehr im Amt des Inquirenten zusammenfallen, sondern in-
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stitutionell getrennt sind. Die Verteidigung des Angeklagten ist somit ein zentrales
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Merkmal einer ausdifferenzierten und demokratischen Rechtspflege, die in der
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erzählten Welt nicht zuletzt durch diese Einlassung Rosentreters aufgehoben
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wird. Der Anwalt verzichtet auf die Vertretung Mia Holls, weil er sich „durch die
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Verteidigung eines Gefährders [nicht] zum Methodenfeind machen“ (JZ CD, 253)
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möchte. Diese Begründung offenbart, dass das Verfahren nicht der Durchset-
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zung des Rechts dient, das die Gemeinschaft ebenso wie den Angeklagten
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schützt, sondern primär dem Schutz der Staatsideologie. Auch hier wird erken-
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nbar, dass das Recht nicht als ein autonomes System verstanden wird, sondern viel-
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mehr als abhängiges Ausführungsorgan eines totalitären Staates.
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Das Richterhandeln weist ebenso auf diese Verschränkung zwischen Staatspo-
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litik und Rechtspflege hin, da die Gerichtsentscheidung ganz im Sinne eines aus-
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schließlich für die Öffentlichkeit inszenierten Prozesses bereits vor der richterli-
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chen Ermittlung feststeht: „‚Ich komme zur Verlesung der Urteilsformel.‘ Er zieht
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einen Zettel aus der Akte, von dem angenommen werden muss, dass er schon
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vor der Verhandlung geschrieben wurde.“ (JZ CD, 258) Das vorab gefasste Urteil
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macht eine Untersuchung der Tatumstände und aller relevanten Fakten überflüs-
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sig, da die richterliche Ermittlung und Entscheidung grundsätzlich aufeinander
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bezogen sind: Der Richter ermittelt, um auf Grundlage dieser Erkenntnisse an-
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schließend die Sache zu entscheiden. Insgesamt kommt der Richterfigur in die-
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sem Gerichtssetting keine ermittelnde Funktion zu, vielmehr ist er Verfahrenslei-
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ter, der die Durchführung des formalen Prozessablaufs sicherstellt, aber selbst
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keine Untersuchung vornimmt.
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Es ist deutlich geworden, dass der Roman einen Strafprozess erzählt, der in ers-
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ter Linie durch die Sicherung des politischen Gemeinziels bestimmt ist. […]


Anmerkungen zum Autor:
Jan Wittmann (* 1983) ist Germanist, Rechtswissenschaftler und Lehrer.
Aus: Wittmann, Jan: Recht sprechen. Richterfiguren bei Kleist, Kafka und Zeh. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2018, S. 230–233

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