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Aufgabe 3 - Interpretation eines Kurzprosatextes

Interpretation eines Kurzprosatextes

Thema:
Brigitte Kronauer (* 1940 - † 2019): Ihr Gesicht (2004)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Text. Im Rahmen der Interpretation ist sowohl die Untersuchung von Funktion als auch die Form von Sprache zu analysieren.
Material
Ihr Gesicht
Brigitte Kronauer
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Hans Schneider, ich meine natürlich mich selbst, nenne mich nur so zur
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Erleichterung, Hans Schneider habe mir, Verzeihung, hatte sich angewöhnt, in den
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ruhigen Intervallen eines sonst etwas gehetzt verlaufenden Lebens, etwa auf
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Zugfahrten, unauffällig Gesichtsgymnastik zu machen, dazu gehört auch der schnelle
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Wechsel der Blickrichtungen von oben nach unten und diagonal, was wache,
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schöne, große Augen verleiht, sowie das Anspannen und Lockern der Arm- und
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Beinmuskulatur. Systematisch betrieben, schenkt es die unwiderstehliche Aura des
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Lauernden, auf dem Sprung Liegenden.

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Man kann auf solchen Fahrten auch über den Sinn von allem nachdenken, aber davon
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wird man schläfrig, richtig dösig im Kopf, und es muß doch auch gar nicht sein. Es führt ja
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letzten Endes zu nichts, sagte sich Hans Schneider. Gerade vorher hatte ihn etwas
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gerührt, als er durch die Scheibe sah. Es war ein bestimmter, wenn auch namenloser
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Acker, ein verfallendes Maisfeld wohl, das er gestern, auf derselben Strecke von Ham
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burg nach Koblenz fahrend, gesehen und nun, obschon kein markantes Bauwerk oder
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Merkmal in der Nähe war, auf der Rückreise wiedererkannt hatte an der bescheidenen
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Miene, die es machte, dieses stille, kennzeichenlose Stückchen Erde. Die Bevölkerung
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von Landstrichen und die ganzer Bundesländer stellte er sich dagegen als schnaufenden,
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schnarchenden, flächendeckenden Pfannekuchen vor.

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Da hörte er was mit dem linken Ohr. Ein Mann, der irgendwas dabei im Mund haben
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mußte, berichtete, daß man auf südafrikanischen Farmen den Löwen, den uralten König
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der Tiere, zu Tausenden züchte, um diese dann an Trophäenjäger zu verkaufen, die sie
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häufig mit Bauchschuß erlegten, damit das Kopffell nicht verletzt werde. Aber, so ein Zufall,
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gleichzeitig sah Hans, da seine Augen von rechts oben nach unten links schnellten im
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Verlauf der gymnastischen Übung, auf dem Gang ein dunkelhäutiges Kind, ein kleines
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afrikanisches Mädchen, das am eben Gesagten schuld zu haben
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schien, es stammte ja aus jenem Erdteil, und es trug auf dem Kopf zwanzig, dreißig
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Zöpfchen, die mit winzigen bunten Spangen gehalten wurden.

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Es war nicht direkt ein Zufall, das nicht. Ein Ehemann, schräg gegenüber von Hans,
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hatte den Satz in die Welt geschickt. Bestimmt war es ihm eingefallen, weil auch er das
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schwarze Gesichtchen entdeckt hatte. Er fügte, noch immer kauend und friedlich mahlend,
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hinzu, man betreibe dort auch Lustjagden auf Leoparden mit Hunden, keine Chance für die
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Raubkatze. Die Frau neben ihm verzog keine Miene, sah ihre goldenen Sandalen an, dann
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wieder die Spangen der kleinen Schwarzen, die sprachlos das festliche Schuhwerk der
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Frau bestaunte.

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Etwas größere Kinder stiegen ein. Sie teilten einander tiefernst mit, sie seien jetzt zwei
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fellos Fernsehjournalist und Devisenanalystin. Das Ehepaar aber, Hans entging es
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keineswegs, lächelte zum ersten Mal, und zwar angesichts frisch eingetroffener Leute, die
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kurzfristig verzweifelt oder erbittert nach freien und reservierten Plätzen suchten, auch
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danach trachteten, sie zu erlisten, notfalls zu erkämpfen. Das Paar lächelte von
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Grund auf behaglich und schlief, auf gesicherter Heimstatt thronend, dann um so
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rascher ein.

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Hans Schneider konnte sie nun, seine Gymnastik vergessend, ausgiebig studieren,
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ohne sich ein Gewissen daraus zu machen, aber auch ohne es extra darauf anzule
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gen. Sie ließen ihm keine Wahl, so ehebettlich ruhten sie in der Öffentlichkeit. Aus
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seinem Mund da, sagte sich Hans, sind eben die Sätze über Afrikas Großwild gekom
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men. Da träumen sie, zwei Eheleute zwischen fünfzig und sechzig Jahren, ordentlich
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gekleidet und auf dem Weg ans Meer. Wie rundum wohlgenährt! Schlafen hier neben
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einander wie auf den hohen Kissen ihres Bettes und von den Regelmäßigkeiten eines
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langen Ehelebens ausruhend. Man kann es ihnen nicht vorwerfen, und doch gehört es
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sich so keinesfalls, in dieser Nachahmung fünfundzwanzigjähriger Intimitäten, bei de nen
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alle Triebe befriedigt, aber nie, niemals erleuchtet wurden. Es so ohne Scham in die
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Welt zu dünsten und auf mißvergnügte Perpetuierung setzend in irgendeinem Sylter
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Pensionsbett. Sie schlummerten in ganz gewöhnlicher Verdrossenheit schon jetzt
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darin: Den Stumpfsinn so wenig zu kaschieren!

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Wie kam er bloß drauf?
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Durch die Gesichter, in denen bei beiden die schmalen, zusammengekniffenen nach
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unten gebogenen Münder einsanken in die Wülste des umgebenden Fleisches, außer
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Kontrolle in die mürrische Gemeinsamkeit beharrlichen Zweierlebens gesackt. Ob sie
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einander damit küßten? Mit diesen Lippen, die im wachen Zustand der Gesichtsmasse
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den rechthaberischen Schliff verpaßten, jetzt aber, wie in den zahllosen Nächten, die sie
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nebeneinander verbracht hatten unter dicken Oberbetten und auf Paradekissen,
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ob aus Leinen oder Microfaser, das änderte nichts, in der Erschlaffung den zwillings
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haften Niedergang ihrer dicken, ja speckigen Existenzen ans helle Tageslicht zerrten.
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Die beiden hätten niemals hier einschlafen dürfen. Das, was die in ihren Gesichtern
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zu erkennen gaben, durfte man nur dem Dunkel des Schlafzimmers zeigen. Da tauchte
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wieder das schwarzhäutige Kind mit dem Köpfchen voller Plastikblüten auf und
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verehrte, dabei ein wenig in die Knie gehend, die Goldschuhe der Frau. Mein Hans
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Schneider betrachtete die Kleine in großer Dringlichkeit. Er hoffte, sie würde noch
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etwas bleiben mit den zum Schimmern polierten Puppengliedern und der
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schwarzäugigen Bewunderung für die Sandaletten, grandios, am gemeinsam mit dem
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Kopf eingenickten Fuß. Wie von Hans Schneider gewünscht, lief sie nicht fort. Es half
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aber nichts. Er empfand weder Zuneigung noch Interesse. Es rührte ihn selbst dieses
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Kind nicht. Es blieb ihm gleichgültig wie dessen Haarschmuck. Er verfügte über kein
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Mitgefühl, für sie alle nicht, nicht über das geringste.
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Das aber gehörte sich nicht. Was war er, Hans Schneider, doch für ein mißratener
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Mensch unter diesen hier!

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Die für ihr schreckliches Ende extra gezüchteten Löwen und Leoparden allerdings:
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Mit denen war es etwas ganz anderes. Etwas ganz anderes als mit den Menschen?
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Ja, und das gehörte sich aber noch weniger. Und doch verhielt es sich so. Wäre er klein,
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wie die kleine Afrikanerin, hätte er die ganze Zeit ungestählt geweint über das Schicksal
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der schönen, verlorenen Tiere, der Geschöpfe aus dem Mund des Ehemannes.
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Jedoch: Ob der vielleicht log, ob es sie am Ende gar nicht so gab, wie er behauptete?
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Ob diese Leute hier gar nicht solche Teufel waren, wie unsere eigenen Herzen, meins
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oder wenigstens das von Hans Schneider, vielleicht nicht aus Stein?

Aus: Brigitte Kronauer: Die Tricks der Diva. Die Kleider der Frauen. Geschichten. Stuttgart 2004, S. 34–37.

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