Aufgabe 3 - Gedichtvergleich
Vergleichende Interpretation zweier Gedichte
Thema: Friedrich Schlegel (* 1772 - † 1829): Der Wanderer (1802)Stefan Zweig (* 1881 - † 1942): Fahrten (1906) Aufgabenstellung:
- Interpretiere und vergleiche die beiden Gedichte.
1
Wie deutlich des Mondes Licht
2
Zu mir spricht,
3
Mich beseelend zu der Reise:
4
„Folge treu dem alten Gleise,
5
Wähle keine Heimat nicht.
6
Ew’ge Plage
7
Bringen sonst die schweren Tage;
8
Fort zu andern
9
Sollst du wechseln, sollst du wandern,
10
Leicht entfliehend jeder Klage.“
11
Sanfte Ebb’ und hohe Flut,
12
Tief im Mut,
13
Wandr’ ich so im Dunkel weiter,
14
Steige mutig, singe heiter,
15
Und die Welt erscheint mir gut.
16
Alles reine
17
Seh’ ich mild im Widerscheine,
18
Nichts verworren
19
In des Tages Glut verdorren:
20
Froh umgeben, doch alleine.
Aus: Ernst Behler (Hg.): Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 5: Dichtungen.
Hrsg. v. Hans Eichner. Verlag Ferdinand Schöningh u. Thomas Verlag:
München u.a. 1962, S. 186. Material 2 Fahrten Stefan Zweig Ein Wandrer, der zwei Fremden
Und keine Heimat hat.
Grillparzer
1
Noch immer hat kein liebes Band
2
Mich angeschmiegt an stillen Sinn,
3
Noch wird mir Heimat jedes Land,
4
Dem ich gerad zu Gaste bin.
5
Den hellen Straßen geh ich nach
6
Wie Staub, der nach den Rädern rennt,
7
Gern rastend unter einem Dach,
8
Wo nicht ein Herz das meine kennt.
9
Landfahrer ward ich mit dem Wind
10
Und des Gedenkens ganz entwöhnt,
11
Daß mir daheim noch Freunde sind,
12
Die ich mir einst als Glück ersehnt.
13
Ein Träumer in die runde Welt,
14
Der wegwärtswandernd schon vergißt,
15
Wohin der eigne Sinn ihn schnellt
16
Und wo sein Herz zu Hause ist.
Aus: Stefan Zweig: Silberne Saiten. Gedichte. Hrsg. v. Knut Beck. S. Fischer Verlag:
Frankfurt am Main 1982, S. 93.
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- Im Folgenden sollen die beiden Gedichte Der Wanderer aus dem Jahr 1802, geschrieben von Friedrich Schlegel, sowie Fahrten, aus der Feder des Autors Stefan Zweig stammend und im Jahr 1906 veröffentlicht, zunächst jeweils formal und inhaltlich interpretiert werden.
- In einem zweiten Schritt sollen die beiden Gedichte im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede verglichen werden.
Hauptteil
Der Wanderer (Friedrich Schlegel)
Formale Analyse- Das Gedicht ist in zwei Strophen gegliedert, die sich über 20 Verse erstrecken.
- Allliterarischer Parallelismus („Sollst du wechseln, sollst du wandern“ V. 9) steht für den Fluss und die damit einhergehende Leichtigkeit des Lebens.
- Auch antithetische Begriffspaare wie Sonne-Mond, Wanderschaft-Heimat sind im vorliegenden Gedicht zu finden, ebenso wie das Metrum Trochäus, welcher die Strophen in zwei Fünfzeiler in das Reimschema aabba gliedert.
- In der ersten Strophe „spricht“ „des Mondes Licht“ (V. 1) zum Wanderer, indem es ihn dazu anhält, nicht innezuhalten und noch „keine [finale] Heimat“ (V. 5) anzusteuern. Auch wird in dieser Strophe festgehalten, dass einzig und allein Fortschritt gegen „ew'ge[...] Plage“ (V. 6) helfen würde.
- In der zweiten Strophe schildert das lyrische Ich, wie es sich im Laufe der Wanderung fühlt und beschreibt seine gegenwärtigen Empfindungen. Während in der ersten Strophe ein Impuls für die Wanderschaft gegeben wird, setzt der Wanderer in der zweiten Strophe die Reise in die Tat um (Vgl. V. 14).
- Übereinkunft des lyrischen Ichs und des Mondscheins (Vgl. V. 1): Als „deutlich“ (V. 1) und „beseelend“ (V. 3) empfindet das lyrische Ich die Worte, die ihm das Mondlicht (Vgl. V. 1) mit auf die Reise gibt. Letzteres deutet darauf hin, dass es sich bei der Aufforderung, weiterzugehen, nicht um einen Befehl, sondern um einen auf Augenhöhe stattfindenden Austausch handelt. Das lyrische Ich wird durch den Mond, der ebenfalls seine Kreise zieht, zur Wanderschaft inspiriert (Vgl. V. 3).
- Ruhe im Unterwegssein: Dass die Wanderung impliziert, niemals stillzustehen und stets weiter vorwärtszuschreiten, verursacht kein Gefühl der Unruhe im Wanderer. Das Gegenteil ist der Fall: Es erweckt „Mut“ (V. 12) und erlöst auch von altem Leid (Vgl. „ew'ger Plage“ (V. 6)), die mit der Niederlassung an einem festen Ort einhergehen würde.
- Der Mond als Begleiter: Über die gesamte Wanderung hinweg weicht er dem Wanderer nicht von der Seite (Vgl. „mild[en] Widerscheine“ V. 17), sodass der Reisende auch nachts zwar „alleine“, (V. 20), doch nicht einsam ist. Während das sanfte Mondlicht (Vgl. V. 17) positiv dargestellt wird, führt das Licht der Sonne dazu, dass alles „verworrenen“ (V. 18) erscheint und die Erde „verdorr[t]“ (V. 19).
- Das Gefühl von Heimatlosigkeit: Neben dem euphorischen Empfinden des neuen Entdeckens und Fortschritts darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Wanderer über sein zielloses Wandern auch in das melancholische Gefühl gerät, nirgends wirklich dazuzugehören. Dieses Streben nach Zugehörigkeit drückt die Sehnsucht nach Heimat und Ankommen des Wanderers aus.
Fahrten (Stefan Zweig)
Formale Analyse- Fahrten besteht aus vier Strophen á jeweils vier Versen.
- Als Reimschema liegt ein Kreuzreim vor, in welchem sich immer der erste und dritte sowie der zweite und vierte Vers aufeinander reimen und damit das Reimschema abab vorliegt.
- Durch den Kreuzreim wird dem Gedicht eine gewisse rhythmische Struktur verliehen.
- Die Sprache des Gedichts zeichnet sich durch ihre Einfachheit und Klarheit aus, wobei eine übermäßige Verwendung von Metaphern oder komplexen Bildern vermieden wird.
- Die Wortwahl ist präzise und vermittelt dem Leser ein deutliches Gefühl von Bewegung und Reisen. Das zentrale Thema des Gedichts liegt im Verlangen nach Abenteuer und der Sehnsucht nach neuen Erfahrungen.
- Das lyrische Ich beschreibt in Zweigs Gedicht, wie es sich bisher auf seinen Reisen weder niedergelassen, noch ein Bedürfnis danach empfunden hat (V. 1-8) und greift damit abermals den Topos der Heimatlosigkeit auf.
- Obwohl der Erzähler die Begriffe „Heimat“ (V. 3) und „Freunde“ (V. 11) verwendet und über einen Ort spricht, „wo sein Herz zu Hause ist“, (V. 16), kam es bisher nicht dazu, dass er sich tatsächlich niedergelassen hat. Gleichzeitig erinnert er sich daran, dass „daheim [auch noch Freunde“ (V. 11) sind, jedoch hat er sich inzwischen „des Gedenkens [an seine Freunde] ganz entwöhnt“ (V. 10)
- Durch die Verwendung des Ausdrucks und Adverbs „noch immer“ (V. 1) erhält der Leser den Eindruck, dass der Erzähler bereits seit Längerem ein Gefühl der Heimatlosigkeit in sich trägt. Gleichzeitig kann dieser Dauerzustand auch so gedeutet werden, dass sich das lyrische Ich inzwischen an den heimatlosen Zustand gewöhnt hat und möglicherweise das Gefühl von Heimat auch ortsungebunden empfinden kann (Vgl. V. 3f.).
- Es wird erkennbar, dass selbst romantische Gefühle die Rastlosigkeit des Erzählers bisher noch nicht ändern konnten (Vgl. V. 1). Die Annahme einer romantischen Verbindung als „liebes Band“ (V. 1) ist deshalb naheliegend, da es im selben Atemzug mit „angeschmiegt“ (V. 2) erwähnt wird.
- Das lyrische Ich identifiziert sich mit einem „Landfahrer“ (V. 9), der dafür steht, sich an seine äußeren Umstände flexibel anzupassen und seine Reiserichtung ändert, je nachdem wie der Wind steht. Diese Flexibilität kann auf der anderen Seite auch als Unbeständigkeit verstanden werden, die für einen unsteten Lebensstil wie den eines Reisenden essenziell ist.
- Der Erzähler sieht sich außerdem als „Träumer in die runde Welt“ (V. 13), was als ein Hinweis auf die Ziellosigkeit und fehlende Beständigkeit in seinem Leben deuten kann. Da im eben genannten Zitat eine Akkusativ-Form anstatt eine Dativ-Form verwendet wird, handelt es sich eher um eine richtungs- als zielverweisende Aussage.
- Bis zuletzt bleibt das lyrische Ich in seiner Heimatlosigkeit haften, so verwundert es sich, dass „[d]er wegwärtswandernd schon vergißt,/ Wohin der eigne Sinn ihn schnellt“ (V. 14 f.).
Vergleich beider Gedichte
- Sowohl Der Wanderer als auch Fahrten liegt das Motiv der Heimatlosigkeit zugrunde. Allerdings realisieren beide Autoren den Topos auf unterschiedliche Art und Weise und verfolgen verschiedene Ansätze.
- Während in Der Wanderer die Wanderschaft einen negativ behafteten Beigeschmack trägt, da die Reise auch dazu dient, um der „ew'gen Plage“ (V. 6) zu entfliehen, verwendet Stefan Zweig in Fahrten einen durchgängig positiv gefärbten Tonus.
- Das lyrische Ich flieht in Fahrten nicht vor etwas, sondern reist, da es keine konventionellen, ortsgebundenen Heimatgefühle besitzt und sich im Umkehrschluss überall zu Hause fühlen kann.
- Die erzählerische Struktur in Der Wanderer ist dialogartig aufgebaut, obwohl es sich nur um einen Erzähler handelt. Und auch in Fahrten findet ein Wechsel der Perspektive des lyrischen Ichs vom erlebten in den reflektierenden Modus statt.
- Sowohl in Der Wanderer als auch in Fahrten setzt sich das lyrische Ich reflektiert mit den Themen Heimatlosigkeit und Wanderschaft auseinander. In Schlegels Werk zieht der Erzähler das Fazit, eine dauerhafte Reise sei nur dann möglich, wenn man völlig ungebunden und alleine sei. Auch Zweig stimmt der Ansicht, dass fortdauernde Wanderschaft zwischenmenschliche Beziehungen und ein hohes Maß an Ungebundenheit zum Opfer fallen müssten, zu.
Schluss
- Grundsätzlich geht der Erzähler in Fahrten im Hinblick auf seine Haltung zum Thema Heimatlosigkeit weniger ins Detail als das lyrische Ich in Der Wanderer, welches sich klar für den Reisetopos ausspricht.
- Formal: Während in Der Wanderer als Metrum ein Trochäus vorliegt, welcher dem Gedicht seinen lebhaften Charakter verleiht, besitzt Fahrten einen jambischen Rhythmus, der gleichmäßig und stetig ist.