Aufgabe 3 - Interpretation eines Kurzprosatextes
Interpretation eines Kurzprosatextes
Thema: Alfred Polgar (* 1873 - † 1955): Der Eremit (1922) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Text.
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Ich besuchte den Eremiten und fragte ihn ohne lange Faxen: „Wie werde ich
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glücklich?“
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Er scheuchte ein Schwalbenpärchen aus seinem Vollbart, das dort nistete, und
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sprach: „Indem du den Wunsch, glücklich zu sein, aufgibst.“
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„Das geht über meine Kräfte“, sagte ich.
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Der Greis lächelte. „Oh, mein Sohn, das ist das einfachste von der Welt. Wün-
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schest du, ewig zu leben? Nein. Wünschest du dir, Weltmeister im Boxen zu sein
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oder Filmdiva oder Feldherr? Du wünschest dir das nicht, weil kein vernünftiges
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Wesen Wünsche hegt, die es als unerfüllbar erkennt. Es handelt sich also nur
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darum, einzusehen, dass du nicht glücklich werden kannst, damit du auch auf-
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hörst, glücklich sein zu wollen. Ziele als unerreichbar erkennen und sich Mühsal
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der Wege zu ihnen zu ersparen: das ist aller praktischen Weisheit A und O.“
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Ich warf ein: „Was ist es denn mit den Idealen?“
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Er antwortete: „Gerade wer sie im Busen hegt, muß meine Lehre anerkennen.
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Nicht wahr, wer das Vollkommene ahnt, kann doch das Mittelmäßige nicht erstre-
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benswert finden?“
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„Gewiß nicht.“
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„Nun also! Die Mittelmäßigkeit scheidet als Objekt unseres Strebens aus, und
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das Vollkommene, weil es nie erreicht werden kann, ebenfalls. Unerreichbarkeit
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ist der erlösende Schönheitsfehler des Ideals – gepriesen sei er! –, der von der
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Pflicht, diesem nachzujagen, befreit. In meiner Jugend wollte ich Musiker werden.
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Bald erkannte ich, daß ich da zum ewigen Dilettantismus verurteilt sei. Ich ließ
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die Musik. Es erging mir in gleicher Weise mit den anderen Künsten, mit fremden
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Sprachen, mit Geldverdienen, mit sportlichen Übungen, mit der Liebe, mit hun-
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derterlei Dingen, die in summa das Leben ausmachen. Überall stieß ich auf die
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hohe Mauer, über die es kein Hinüberkommen gab. Anfangs tat das weh, später
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hatte ich immer ein Gefühl großer Erleichterung, wenn die Mauer am Horizont
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auftauchte und mich legitimierte, umzukehren. Ich lernte, alles, was ich nicht ver-
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stand, und erst recht das, wozu mir jede verpflichtende Begabung fehlte, als Ak-
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tivposten meiner Glücksbilanz zu buchen. Hat dir noch niemals eine Frau, die dir
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von ferne reizvoll erschien, als sie näher kam, den behaglichen Schmerz, die
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angenehme Enttäuschung bereitet, daß sie es durchaus nicht war und du somit
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aller Plackereien als Wünschender, Werbender, die dir da drohten, mit einem
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Schlag ledig wurdest? Also auf diese Weise, das Unerreichbare als unerreichbar,
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das Erreichbare als zu gering ablehnend, wurde ich immer leichter, freier, heite-
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rer. Noch quälte mich Bildungshunger. Ein Besuch in der Bibliothek des Britischen
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Museums befreite mich von ihm. Ich sah die unendliche Fülle der Bücher – wer
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könnte auch nur einen Bruchteil des zu Lesenden lesen, des zu Lernenden ler-
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nen? – und las nie eine Zeile mehr. Den größten Sprung zur vollkommenen Frei-
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heit aber machte ich, als mir die Sinnlosigkeit des Denkens aufging, als ich er-
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kannte, daß der Weg zu den Geheimnissen des Seins unendlich und das ge-
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ringste Stück von ihm, das auch in angestrengtester Mühe zu durchdenken wäre,
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eine, wie die Mathematiker das nennen, zu ‚vernachlässigende Größe‘ ist. Seit-
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dem denke ich auch nicht mehr, wie du ja meinen Reden schon entnommen ha-
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ben wirst. Denken ist aller Übel Anfang und aller Zwecklosigkeit Inbegriff. Ein
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Mensch, der denkt, der durch Denken geistig zunehmen, also aus sich heraus
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etwas in sich hineinkriegen will, erscheint mir wie einer, der sich mit seinem Spei-
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chel seinen Durst zu löschen versucht. Noch übler sind freilich Menschen dran,
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die ihr ganzes Leben lang unter dem schweren seelischen Durst stehen, Gott
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‚wohlgefällig‘ sein zu wollen. Rechtzeitig zu verspüren, daß man bei ihm unter
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allen Umständen durchfallen muß – ein Großteil der Menschheit glaubt deshalb,
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wie du weißt, an Seelenwanderung, also gewissermaßen an ein Repetieren der
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Klasse unter einem andern Klassenvorstand –, erleichtert die Daseinslast.
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Merke: Mißgeschick, dessen du nicht Herr werden kannst, mußt du dir umdeuten,
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so zwar, daß dein Müssen weise Fügung wird. Das lernt sich rasch. (Es ist ja
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alles, glaube mir, einem alten, erfahrenen Einsiedler, Dialektik!) In diesem Punkt
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kann dir jene Seelenkunde, die deine Ängste als geheime Wünsche deutet, un-
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gemeine Dienste leisten.
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Aller besonderen Ratschläge und Fingerzeige aber kannst du entbehren, wenn
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du immer des Worts eingedenk bist, das ein großer indischer Kollege einem
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Schüler zur Antwort gab, der ihn auch, wie du mich, mit der Frage: ‚Wie werde
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ich glücklich?‘ bedrängte. Solcher Frage des Schülers erwiderte der indische
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Meister mit der wundervollen, das Problem wahrlich erledigenden Gegenfrage:
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‚Was, o Knabe, hat der Mensch schon davon, wenn er glücklich ist?‘“
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Hier brach ich die Unterhaltung ab und gab dem Orakel eine Mark.
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„Die Taxe ist zwei fünfzig“, sagte es.
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Ich äußerte Erstaunen über solche Habgier eines wunschlosen, beruhigten Phi-
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losophen. „Geld“, sagte der Eremit, „ist eine Sache für sich und hat mit Philoso-
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phie nichts zu tun. Über derlei einfachste Anfangsgründe der Weltweisheit dachte
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ich dich wirklich schon hinaus, mein Sohn.“
Anmerkung zum Autor:
Alfred Polgar war ein österreichischer Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer. Aus: Polgar, Alfred: Kreislauf. Kleine Schriften. Band 2. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. 3. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2021, S. 146-149.
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- Der Kurzprosatext Der Eremit stammt von Alfred Polgar und wurde im Jahr 1922 veröffentlicht.
- Der Text kann der Gattung Kurzgeschichte zugeordnet werden und thematisiert unterschiedliche Vorstellungen von Glück und einem gelingenden Leben. Die Figuren Ich-Erzähler und Eremit sind dabei in eine Gesprächssituation verwickelt, in welcher der Eremit seinen Gesprächspartner über seine persönliche Vorstellung von Glück und einem glücklichen Leben aufklärt.
- Die Kurzprosa thematisiert die Frage nach dem Weg zum Glück. Führt das Glücksstreben den Menschen zu einem vermeintlich gelingenden Leben oder sollte man sich stattdessen vom Glücksstreben abkehren, weil es sinnlos ist?
Hauptteil
Formal-sprachliche und erzählerische Analyse
- Polgar lässt zu Beginn seines Textes einen Ich-Erzähler zu Wort kommen, der eine authentische Wirkung auf den Leser hat. In den einfachen, knappen Dialogbeiträgen des Erzählers sind umgangssprachliche Redewendungen erkennbar (z. B. „ohne lange Faxen“, Z. 1).
- Hingegen macht der Eremit einen selbstironischen, herablassenden sowie belehrenden Eindruck (z. B. „Merke:“, Z. 54; „glaube mir, einem alten, erfahrenen Einsiedler“, Z. 56) auf den Leser. Mithilfe rhetorischer Fragen („Wünschest du, ewig zu leben? Nein. Wünschest du dir, Weltmeister im Boxen zu sein oder Filmdiva oder Feldherr?“, Z. 6ff.) und Alliterationen („Wünschender, Werbender“, Z. 33) verdeutlicht er seine Sichtweisen eindringlich und möchte seine Glaubwürdigkeit und intellektuelle Fähigkeiten unter Beweis stellen.
- Das darauffolgende kurze Gespräch zwischen den Gesprächspartnern Ich-Erzähler und Eremit mündet in eine spätere Figurenrede des Eremiten. Die Kommunikation innerhalb der Kurzgeschichte kann als asymmetrisch bezeichnet werden. Sowohl quantitativ als auch qualitativ scheint der Eremit dem Ich-Erähler überlegen zu sein. Es scheint, als würde der weise Eremit als Lehrer seinen Schüler, den Ich-Erzähler belehren, nachdem er von ihm mit der Frage „Wie werde ich glücklich?“ (Z. 1f.) konfrontiert wird. Die asymmetrische Kommunikationssituation zeigt sich auch daran, dass der Eremit seinen Gesprächspartner bereits zu Beginn des Textes mit den Worten „Oh, mein Sohn“ (Z. 6) anspricht.
- Seinen vielschichtigen Charakter erhält der Text durch die verschiedenen Erzählebenen: In der Rahmenhandlung (vorgelagerte Erzählebene), die das Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und dem Eremiten umfasst, ist eine weitere Handlung, die sogenannte Binnenhandlung, eingebettet. Die Binnenhandlung besteht nicht aus einer dialogartigen Situation, wie es zuvor im kurzen Abschnitt der Rahmenhandlung noch der Fall ist, sondern aus der alleinigen Figurenrede des Eremiten (Monolog), in dem dieser als Erzähler über sein Lebenskonzept spricht. Den pointenhaften Wendepunkt findet der Monolog an der Stelle, als der Eremit seine Geldforderung ausspricht, die offensichtlich im Gegensatz zu dem zuvor postulierten Lebenskonzept des Eremiten steht.
- Die Binnenhandlung lässt den Eremiten im Vordergrund stehen und gibt dem Leser die Chance, einen unmittelbaren Anteil an seinen Ausführungen zu haben. Der Leser hat das Gefühl, direkt vor Ort zu sein und dem Eremiten zuzuhören. Die daraus resultierende Authentizität und Glaubwürdigkeit wird nicht zuletzt durch die Deckungsgleichheit von Erzählzeit und erzählter Zeit erzeugt, mit welcher der Leser in der gesamten Kurzprosa konfrontiert ist. Auch diese Tatsache trägt dazu bei, dass sich der Leser womöglich mit dem Ich-Erzähler identifizieren kann und als Reaktion auf die paradoxe Geldforderung des Eremiten am Ende seiner Ausführungen vermutlich genauso erstaunt ist, wie der Ich-Erzähler selbst. („Ich äußerte Erstaunen über solche Habgier eines wunschlosen, beruhigten Philosophen“, Z. 67f.)
Inhaltliche Analyse
- Der Ich-Erzähler initiiert die Gesprächssituation mit dem Eremiten, bei dem er zu Besuch ist mit folgender Frage: „Wie werde ich glücklich?“ (Z. 1f.). Er wird als interessierte Figur in das Geschehen eingeführt. Die Figur des Eremiten wird hingegen sowohl äußerlich („Er scheuchte ein Schwalbenpärchen aus seinem Vollbart, das dort nistete“, Z. 3) als auch durch seine später dargestellte Lebensphilosophie des Verzichts als ein typischer, stellenweise skurriler und weltfremder Eremit dargestellt.
- Der Eremit spricht ausgehend von der zu Beginn gestellten Frage über seine Lebensphilosophie. Laut ihm besteht diese nämlich gerade nicht darin, nach Glück zu streben, sondern sich vom Glücksstreben abzuwenden. Seine Antwort auf die Frage des Erzählers lautet: „Indem du den Wunsch, glücklich zu sein, aufgibst.“ (Z. 4). Außerdem geht er davon aus, dass es besser ist, sich die Mühen, nach der Erreichung eigener Lebensziele, zu sparen, da sie sowieso nicht erreicht werden können (vgl. Z. 9ff.). Auch Idealen nachzueifern, ist aufgrund ihrer Unerreichbarkeit sinnlos (vgl. Z. 13-21).
- Darauf aufbauend exemplifiziert er seine These anhand Vergnügen und Beschäftigungen, von denen er sich im Laufe seines Lebens abgekehrt hat, weil sie ihm sinnlos erschienen. Dazu gehören die Musik, der Sport, die Liebe und das Geld (vgl. Z. 14-36). Diese Abkehr führte bei ihm zu „ein[em] Gefühl großer Erleichterung“ (Z. 27). Diese Befreiung beschreibt er auch im Streben nach dem Wohlgefallen Gottes (vgl. Z. 49ff.).
- Seine Ausführungen nehmen außerdem den Rahmen des Absurden an, wenn er sogar dem menschlichen Denken einen jeglichen Sinn und Zweck abspricht (vgl. Z. 39-45) und erklärt, wie er durch diese Erkenntnis die „vollkommen[e] Freiheit“ (Z. 39f.) erreicht hat.
- Am Ende fasst er seine Gedanken in einer Anekdote über einen indischen Meister, der sich für die Funktionslosigkeit von Glück ausspricht, zusammen (vgl. Z. 59-64): „‚Was, o Knabe, hat der Mensch schon davon, wenn er glücklich ist?‘“ (Z. 64).
- Stellenweise erkennt man einen paradoxen und ironischen Charakter des Textes. Insbesondere die Tatsache, dass sich der Eremit nach dem Abbruch seines Monologs am Ende des Textes plötzlich doch für Geld interessiert. Dies steht im Widerspruch zu seiner zuvor propagierten Lebensphilosophie, die ein mangelndes Interesse an Geld mit einschließt.
- Dies bietet aus mehreren Gründen Anlass zur Kritik und weiterem Nachdenken. Die Lebensphilosophie, die der Eremit in seinem Monolog propagiert, kann sich in der Praxis von den Lebenskonzepten anderer Menschen deutlich unterscheiden. Der Weg nach dem Glücksstreben ist ein individueller, genauso wie unterschiedliche Vorstellungen von Glück existieren. Glück wird oft als ein Gefühl beschrieben, welches unterschiedlich wahrgenommen und aufgefasst werden kann. Ebenfalls trifft der Eremit paradoxe Aussagen. Die These, dass man auf ein Glücksstreben verzichtet, um zum Glück zu gelangen, klingt widersprüchlich, da das Glück an sich oft als eine Art Prozess des Glücklichwerdens verstanden wird.
- Ebenfalls kann die widersprüchliche Geldforderung des Eremiten als heuchlerisch aufgefasst werden. Er geht nicht mit gutem Beispiel voran und lebt sein zuvor beworbenes Lebenskonzept, sondern verhält sich im Gegenteil dazu besonders habgierig. Er ruft zwar zur Selbsterkenntnis und Reflexion auf, doch das Verhalten nach seinem Monolog enthüllt seine Inkonsequenz.
Schluss
- Alfred Polgars Kurzgeschichte thematisiert die Frage nach dem Weg zum Glück exemplarisch anhand der Lebensphilosophie eines Eremiten, die nicht unbedingt widerspruchsfrei und nachvollziehbar ist. Diese Problematik erkennt auch der Ich-Erzähler, mit dem sich ein aufmerksamer Leser durchaus identifizieren kann.
- Der Schreibstil, in dem die Kurzprosa verfasst ist, insbesondere die Sprache des Ich-Erzählers, ist durchaus typisch für den Autor. Polgar war dafür bekannt, eigene Themen und Anliegen seinen Lesern konkret und unprätentiös mithilfe einer für sich selbst stehenden Geschichte wie Der Eremit nahezubringen.
- Der Autor schafft mit dem Thema „Glücksstreben" und „gelingendes Leben“ einen durchaus aktuellen Bezug. Die Frage, wie man sein eigenes Leben so sinnvoll und gelingend wie nur möglich gestalten kann, treibt die Menschen seit jeher um. Sie gehört zu den wichtigsten Sinn- und Existenzfragen des Menschen. Der Begriff Glück wird heute oft inflationär verwendet, weshalb es schwierig ist, eine allumfassende Definition aufzustellen. Fraglich ist, ob es diese überhaupt benötigt, denn auf die Frage, was Glück ist und wie man glücklich werden kann, wird man stets eine Fülle unterschiedlicher Antworten erhalten.