Aufgabe 2 - Interpretation eines Kurzprosatextes
Interpretation eines Kurzprosatextes
Thema: Thomas Bernhard (* 1931 - † 1989): Von einem Nachmittag in einer großen Stadt (1952)- Interpretiere den Text.
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Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich suchte irgendwo die Sonne. Ich wußte, daß es
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sie gibt. Und das hielt mich aufrecht. Was mir aber die meiste Kraft verlieh, war meine
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Jugend. Ich hatte erst (oder schon?) zwanzig Jahre durchschritten. Eine wundervolle
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Zeit, vielleicht zu schön. „Je ergreifender die Erinnerung, desto schwerer die Gegen-
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wart“, dachte ich. So seltsam und doch „lebendig“ erschien mir das Leben.
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Drei Tage hielt ich mich hier auf, in einer großen Stadt. – Wir waren Millionen Men-
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schen, alle anders und doch im Grunde dieselben. Ich sah sie täglich, ja stündlich, und
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nur die Nacht schob sich wie ein Wunder vor diese konzentrierte Welt. Jeden Tag
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waren es fünfhundert oder tausend Gesichter, an denen ich vorüberging. Und jedes
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verbarg hinter sich ein anderes Geheimnis. Es gab breite, schmale, runde, blasse,
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aufgedunsene, fröhliche, kindliche, entsetzte, gleichgültige, dumme und solche, die
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nur mehr aus Fleisch und einem unangenehmen Wassergemisch bestanden. Diese
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hatten keinen Ausdruck mehr. Sie lebten ihrer selbst willen. Ich habe sie noch gut vor
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den Augen, diese „Fleisch“gesichter.
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Sie war mir sehr fremd, die Stadt. Und diese Fremde verwandelte sich von Stunde zu
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Stunde in eine rücksichtslose Kälte. War es vielleicht schon Feindschaft? Vergangene
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Nacht träumte ich, daß ich einen alten Eichenbaum umarmte, und daß ich ihn atmen
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fühlte ...
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Das schrille Abbremsen eines Autos riß mich zurück. Aus einem Wagenfenster drohte
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ein verzerrtes Gesicht. Ringe glänzten an breiten Fingern, ein mächtiger Hals ragte
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aus einem Anzug. Von rückwärts schrie eine Männerstimme laut und drohend. Das
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Auto verschwand um die Ecke. Eine riesige Gaswolke nahm mich auf. Für Sekunden
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glaubte ich den Tod ...
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Der Sang der Straßenbahnschienen schwoll immer mehr an. Ich fühlte ihr Zittern unter
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meinen Füßen. Es klang aufregend, unendlich hastend. Irgendwo heulte ein Zug.
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Kleine Hunde bellten durcheinander und eine ekelhafte Frauenstimme mischte sich da-
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rein. Ich zählte die Randsteine, die großen und kleinen, dann sah ich die Türen und
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Fenster, einhundert, zweihundert. Es waren so viele. Ein Drahtgewirr spannte sich zwi-
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schen mir und der Weite. Ich kam mir vor wie ein Tier innerhalb der Stäbe eines großen
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Käfigs. Und ich ging und ging, immer weiter. Und über allem schwebte der Rauch aus
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den hohen, starren Kaminen in den gelblich-grauen Himmel.
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Ich hatte kein Ziel. Die Stadt wollte ich kennenlernen, in ganzen acht Tagen. Es gab
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an manchen Straßenkreuzungen, die mich in ihrer Art, nämlich mit den roten, gelben
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und grünen Lichtern, die in kurzen Abständen aufblitzten, an früheres Spielzeug erin-
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nerten, kleine Parks. Vielleicht sechs oder zehn Bäume standen dort im Rasen. Alles
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war gepflegt, alles war der übrigen Umgebung angepaßt. Die kleinen Sträucher mit
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den roten Blüten waren numeriert. Ein kleines Schild war an ihren zarten Stämmen
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festgenagelt. Sie trugen hohe Nummern, weit über tausend, denn die Stadt war groß,
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eben eine Millionenstadt mit vielen Parks. Langsam begann ich vieles zu begreifen.
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Schmale Edelkieswege durchquerten das Grün. Ich ging eine lange Reihe von Eisen-
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rohrsesseln entlang. Und wieder sah ich Gesichter, sie glichen den anderen. Sie waren
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schmal und bleich, hatten sehr viel „Verbrauchtes“ an sich. Alte, gebrechliche Frauen
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wurden in Fahrstühlen vorübergeschoben. Und die Stadt? Ihr Getöse setzte sich fort,
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eine Unterbrechung schien undenkbar. Es war nur etwas gedämpft, etwas entfernt.
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Ich setzte mich und rastete. Vielleicht hatte ich sogar das Bedürfnis, zu schlafen? Noch
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einmal hob ich den Kopf und ... da stand plötzlich ein mächtiges Weib vor mir, grinsend,
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mit angefaulten Zähnen und einem flatternden Doppelkinn. Mit der Rechten nestelte
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sie in einem ihrer beiden Nasenlöcher, die Linke wühlte in einer schwarzen Ledergeld-
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tasche.
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„Sechzig Groschen der Herr!“ sagte sie und hielt einen weißen Zettel vor meine Augen.
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Ihr Mund öffnete sich, ihre Augen starrten in eine Richtung, die unendlich war.
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Im Moment wußte ich nicht, was geschah, aber dann griff ich in meine Tasche, suchte
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lange Zeit, war enttäuscht und zornig zugleich, starrte in das rote Gesicht mit den lan-
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gen Haaren, stand rasch auf und ging. Es war mir, als hörte ich ein Schimpfwort hinter
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meinem Rücken, da ich über den Kies ging, die Hände am Rücken verschränkt und
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plötzlich wieder in der belebten Straße stand, mit den vielen Menschen und den rot-
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grün-gelben Lichtern, die mich an mein frühes Kinderspielzeug erinnerten ...
Aus: Thomas Bernhard: Werke. Band 14: Erzählungen und Kurzprosa. Hrsg. von Hans Möller, Martin Huber
und Manfred Mittermayer. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 2003, S. 463-465.
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- In der Kurzprosa Von einem Nachmittag in einer großen Stadt von Thomas Bernhard aus dem Jahr 1952, wird die subjektive Wahrnehmung und Erfahrung des Protagonisten in einer ihm fremden Großstadt dargestellt.
- Der Text zeichnet sich durch eine intensive und detailreiche Beschreibung der Umgebung und der Menschen aus, die den Protagonisten umgeben. Die Erzählung ist geprägt von einer Atmosphäre der Fremdheit und Entfremdung, die durch die Sprache und die Darstellung der Stadt und ihrer Bewohner erzeugt wird.
Hauptteil
- Den Ich-Erzähler des Textes von Bernhard umgibt eine Aura der Ziellosigkeit und Trostlosigkeit, die nicht zuletzt auf die Anonymität und Isolation zurückzuführen ist, welche er in der Großstadt empfindet.
- Dem Textausschnitt Thomas Bernhards ist zu entnehmen, dass es sich bei dem Erzählenden um einen jungen Mann (Vgl. Z. 2 f.) handelt, der zunächst Lebensfreude ausstrahlt, auch wenn ihn bereits im ersten Absatz ein Hauch von Melancholie umgibt (Vgl. Z. 3 f.). So bezeichnet er seine bisherige Biografie als „[e]ine wundervolle Zeit, vielleicht zu schön“ (Z. 3f.).
- Die Zukunft ist ungewiss und der Erzähler ist sich bezüglich seines weiteren Lebenswegs nicht sicher, er könnte „irgendwo“ (Z. 1) hinführen. Zwar treibt ihn seine neugierige Haltung vorwärts und er besitzt eine zuversichtliche Haltung (Vgl. Z. 1 f.), doch umgibt ihn ein Gefühl der Einsamkeit.
- Von den „Millionen Menschen“ (Z. 6 f.) in der Großstadt grenzt sich der Ich-Erzähler ab, indem er vom Plural „wir“ (Z. 6) in die Ich-Perspektive (vgl. Z. 7) wechselt. Die nicht greifbare Menge an Menschen schildert er, indem er ihre Gesichter beschreibt. Hierbei ist der Erzähler zugleich fasziniert und entsetzt von der emotionalen Leere, die von diesen Gesichtern ausgeht. Indiz dafür ist, dass er die einzelnen Visagen beinahe lieblos und sehr nüchtern auf ihre äußerlichen Merkmale untersucht und etwa lediglich zwischen „breite[n]“, „schmale[n]“ oder „runde[n]“ Gesichtern differenziert. Insbesondere die sogenannten „Fleischgesichter“ (Z. 14) sind ihm zuwider, da sie auf ihn ausdruckslos (Vgl. Z. 12 f.) wirken.
- Sukzessive Entfremdung des Menschenbildes und das damit einhergehende Empfinden von Einsamkeit: „Fremd“ (Z. 15), „rücksichtslose Kälte“ (Z. 16), „Feindschaft“ (Z. 16). Außerdem entfacht die Anonymität der Großstadt im Erzähler eine Sehnsucht nach Natur und Nähe (Vgl. Z. 17).
- Ambivalenz: Als der Erzähler sein Bedürfnis schildert, „einen alten Eichenbaum“ (Z. 17) zu umarmen, wird diese Intimität jäh durch „das schrille Abbremsen eines Autos“ (Z. 19) unterbrochen. Obwohl er eben noch den Atem des Baumes spürte, (Vgl. Z. 17 f.) „glaubt[...] [er nun] den Tod“ (Z. 23) zu sehen.
- Negative Eindrücke: Der Ich-Erzähler erlebt die Lautstärke der Straßenbahn (Vgl. Z. 24), das Heulen eines Zuges (Vgl. Z. 25), das Bellen von Hunden (Vgl. Z. 26) sowie eine „eine ekelhafte Frauenstimme“ (Z. 26) als sehr unangenehm und erdrückend. Dass die Anzahl der vielen Türen und Fenstern (Vgl. Z. 27 f.) ihm nahezu unendlich erscheint und „Rauch aus den hohen, starren Kaminen“ (Z. 30 f.) in den Himmel emporsteigt, verstärkt den großstädtischen Charakter noch zusätzlich. Was für den Erzähler in einem entspannten Spaziergang begann, gleicht immer mehr einer Art Flucht, die ihn durch die Straßen der Stadt treibt. Der Erzähler hat den Eindruck, „wie ein Tier innerhalb der Stäbe eines großen Käfigs“ (Z. 29 f.) zu leben, fremdbestimmt zu sein durch die Massen an Menschen und die Anonymität des Individuums.
- Obwohl die vielen Eindrücke der Großstadt den Erzähler innerlich beunruhigen, halten sie ihn nicht davon ab, die Stadt dennoch zu erkunden. Besonders die Grünanlagen der Stadt empfindet er als Ruheoasen, doch auch hier ist der Eingriff der menschlichen Hand in das Naturgeschehen unübersehbar: So haben die Parkanlagen mit Natur wenig gemein. Die Bäume stehen in Reih und Glied (Vgl. Z. 35) und sind „numeriert“ (Z. 37).
- Auch wenn ihn der Park eher anzieht als die breiten Straßen, bemerkt der Erzähler auch hier eine niedergeschlagene Stimmung, die sich in den „schmal[en] und bleich[en]“ (Z. 42) Gesichtern der Menschen widerspiegelt. Obwohl man von Bäumen umgeben ist, scheint das „Getöse“ (Z. 43) der Fahrzeuge nicht abzunehmen, sodass ein ständiger Lärmpegel, der zwar „etwas gedämpft“ (Z. 44), aber dennoch pausenlos zu hören ist.
- Als sich der erschöpfte Erzähler niederlassen möchte, wird er von „ein[em] mächtige[n] Weib“ (Z. 46) angesprochen. Der Erzähler empfindet sowohl die Erscheinung als auch die Art und Weise der Frau als sehr unangenehm, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass sie ihn um Geld bittet (Vgl. Z. 50). Der Erzähler kramt „enttäuscht und zornig zugleich“ (Z. 53) nach ein paar Münzen, doch da er kein Bargeld mit sich führt, sieht er sich gezwungen, die Frau ohne eine Spende stehen zu lassen und um seine Anonymität zu wahren, kehrt er wieder zurück in die Menschenmenge (Vgl. Z. 55).
- Formale Untersuchung: Es liegt ein teilweise parataktischer Satzbau vor. Akustische, optische sowie synästhetische Beschreibungen zeichnen das Weltbild des Erzählers, welches trotz des Einstreuens „fröhliche[t], kindliche[r]“ Gesichter (Z. 11) einen vorrangig negativen Unterton trägt. Durch die Masse an Menschen und der damit verbundenen Anonymität der Großstadt vermag der Erzähler keine Verbindung zu seinen Mitmenschen aufzubauen, er stellt jedoch auch keine Versuchungen an, den Kontakt zu suchen. Die bettelnde Frau im Park kann sinnbildlich für die Stadt stehen, welche fordert, einem jegliche Energie abverlangt und dennoch nichts zurückgibt. Während die vorherige Schilderung des Stadtbilds als eine Art Steigerung angesehen werden kann, ist das Aufeinandertreffen mit der Bettlerin und das daraufhin fluchtartige Aufbrechen des Erzählers als Klimax des Textes zu verstehen.
Schluss
- Insgesamt ist Von einem Nachmittag in einer großen Stadt ein eindrucksvolles Beispiel für Thomas Bernhards Fähigkeit, durch Sprache eine intensive Atmosphäre zu erzeugen und tiefe Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Figuren zu geben.
- Der Text thematisiert das Gefühl der Entfremdung und Isolation in einer modernen Großstadt auf eine Weise, die sowohl emotional berührt als auch zum Nachdenken anregt.