Aufgabe 5 - Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes (Schwerpunkt: Erörterung)
Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes
Schwerpunkt: Erörterung
Thema:
Peter Strasser: Der Selbstbetrug in der digitalen Selbstverwirklichung – über das Elend des Nicht-vergessen-Könnens
Aufgabenstellung:
- Arbeite die Argumentation des Textes heraus und bestimme die Position des Verfassers. (30 %)
- Setze dich mit der Position Strassers zur Selbstdarstellung im Internet auseinander. (70 %)
1
[...] „The End of Forgetting“ heisst das kürzlich publizierte Buch von Kate Eichhorn,
2
einer Kulturwissenschaftlerin an der New Yorker New School. Warum das Ende des
3
Vergessens? Weil, so Eichhorns wenig überraschende These, im Universum der so-
4
zialen Netzwerke nichts verloren geht; und je früher man als junger Mensch beginnt,
5
sich dort zu äussern, zu exponieren, Fotos von sich und seinen Freunden zu posten,
6
umso weniger wird man später noch in der Lage sein, seiner Vergangenheit zu ent-
7
kommen, bis hinein ins kleinkindliche Töpfchenalter.
8
Schliesslich sind heutzutage nicht wenige Eltern Tag für Tag damit beschäftigt, die
9
Entwicklung ihrer lieben Kleinen mit möglichst originellen Bildern zu dokumentieren.
10
Dass es dann aber dem pubertierenden Sohn – nennen wir ihn Sam – zu einer Iden-
11
titätsfalle werden mag, wenn seine Mitschüler entdecken, wie er als Dreijähriger mit
12
einer Mädchenperücke, „like an angel“, und sonst nackt, wie Gott ihn schuf, abgelich-
13
tet und auf Facebook gestellt wurde – das war damals, als solche „love jokes“ noch
14
harmlos schienen, den Eltern nicht in den Sinn gekommen.
15
Wie ging es weiter mit Sam? Mobbings an unterschiedlichen Highschools. Später
16
wurden potenzielle Arbeitgeber im Rahmen der routinemässigen Internetüberprüfung
17
auf das erwähnte Kindheitsfoto aufmerksam. Weitere Recherchen ergaben – auch
18
Arbeitgeber leben im Zeitalter der Political Correctness –, dass Sam ein Scheidungs-
19
kind war, dessen Vater sich eines Tages als bisexuell outete. [...]
20
Sam hingegen, als junger Erwachsener vielfach traumatisiert wegen seines Nacktfo-
21
tos mit Engelsperücke, engagierte sich seinerseits bei einem Verein zur Wahrung
22
christlicher Werte, der das LGBT-Movement als gottlos und pervers brandmarkte.
23
Entsprechende Statements, allesamt politisch inkorrekt, sind nach wie vor auf Youtu-
24
be einsehbar. Deshalb wurde in jedem Fall von einer Anstellung Sams bedauernd
25
Abstand genommen.
26
Mittlerweile ist Sam dabei, sich „neu zu erfinden“. Er hat als freier Journalist der In-
27
ternet-Community mitgeteilt, sein sexistisches Verhalten von ehedem tief zu bedau-
28
ern, nicht ohne ein Comingout anzufügen: Er, Sam, fühle sich seit je zuinnerst als
29
Frau. [...]
30
Das geschilderte Szenario besteht aus Versatzstücken, die für das Leben vieler Zeit-
31
genossen und erst recht derer, die heute in das digitale Universum hineinwachsen,
32
prägend sind und sein werden. In der präelektronischen Zeit waren die persönliche
33
Entwicklung und die spätere Lebenslaufbahn zwar locker durch Vorkommnisse in der
34
Kindheit und Jugend geprägt. Gleichzeitig wurde vieles vergessen oder im Lichte der
35
Persönlichkeitsreifung neu gesehen und bewertet. Das Modell der Selbstverwirkli-
36
chung funktioniert nur, solange es weisse Flecken und formbare Erzählepisoden in
37
der Biografie eines Menschen gibt.
38
Während in China die Überwachung total, doch weitgehend geheim ist, wird bei uns,
39
im liberalen, menschenrechtsbewussten, individualistischen Westen, das legitim Ge-
40
heime, weil Private zusehends lustvoll ins Netz gestellt. Man verzichtet, scheint’s,
41
freiwillig auf alle dunklen Ecken, Ambivalenzen, Hintertüren des eigenen Lebens.
42
Und die gar nicht triviale Frage lautet: Warum? Woher kommt diese – man findet
43
kaum ein passendes Wort – Publizitätspsychose?
44
Verschiedenes mag hier zusammenwirken, primär die allzu menschliche Eitelkeit,
45
sich selbst und sein „Eigenstes“ öffentlich zu präsentieren, es den Weltstars gleichzu-
46
tun. Hinzu tritt die spezielle Reizbarkeit der postmodernen Psychodynamik. Diese
47
hat das Modell der Selbstverwirklichung durch die permanente Anstrengung ersetzt,
48
„sich selbst neu zu erfinden“. Die klassische Bildungsgeschichte wurde vor einem of-
49
fenen Horizont geschrieben: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu
50
besitzen“ (Goethe). Nun formen Brüche die „serielle Persönlichkeit“ des Einzelnen.
51
Dabei unterliegt der höchstpersönliche Narzissmus ironischerweise den sozial nor-
52
mierten Schemata, wie das alte Selbst gegen eine frische Individualität auszutau-
53
schen sei. [...]
54
Werde, der du bist.“ Ist erst alles, Erwünschtes und Unerwünschtes, im globalen
55
Netz für alle Zeiten festgehalten und im Prinzip von allen einsehbar, dann wird „Au-
56
thentizität“ ein leerlaufendes Wort. [...]
57
Dass der humanistisch geprägte Mensch authentisch, also nicht entfremdet leben
58
wollte, drückte sein Verlangen aus, „sich selbst zu finden“ – Goethes Faust und Stif-
59
ters Protagonist im „Nachsommer“ sind herausragende literarische Beispiele. Der
60
Mensch hingegen, der sich immer wieder neu erfindet, gleicht Tantalus, dem das
61
Wasser grausam vor dem Munde zurückweicht: Während er jede künstliche Neufor-
62
mierung seines Persönlichkeitsdesigns als Lebendigkeitsgewinn verbucht, kreiert er
63
eine seelenlose Gestalt – einen potenziell unendlich hochladbaren Digitalzombie. [...]
Aus: Der Selbstbetrug in der digitalen Selbstverwirklichung – über das Elend des Nicht-vergessen-Könnens,
letzter Zugriff am 31.07.2020.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?Teilaufgabe 1
Einleitung
- In der heutigen digitalen Ära ist das Teilen von persönlichen Informationen und Erlebnissen auf sozialen Medien zur Norm geworden. Doch welche Auswirkungen hat diese ständige Präsenz und Offenlegung unserer Privatsphäre auf unser Leben und unsere Identität?
- Dieser Frage geht Peter Strasser in seinem Text Der Selbstbetrug in der digitalen Selbstverwirklichung – über das Elend des Nicht-vergessen-Könnens nach.
- Strasser kritisiert scharf die Veröffentlichung privater Inhalte in sozialen Netzwerken und beleuchtet die negativen Konsequenzen, die sich daraus ergeben können. Dabei stellt er insbesondere die These auf, dass das digitale Zeitalter ein Ende des Vergessens bedeutet und somit eine neue Form der Selbstverwirklichung hervorbringt, die nicht ohne Probleme ist.
Hauptteil
Die Kernaussagen Peter Strassers- Die Quintessenz Strassers Standpunkts verrät bereits der Titel des Artikels: Der Selbstbetrug in der digitalen Selbstverwirklichung – über das Elend des Nicht-vergessen-Könnens. Der Autor positioniert sich also von Anfang an ganz klar gegen die Selbstinszenierung im Internet.
- In seinem Text stellt sich der Autor gegen die permanente Selbstdarstellung und Dokumentation des eigenen Lebens in sozialen Netzwerken. Er sieht darin eine Gefahr für die individuelle Entwicklung und Authentizität des Menschen.
- Strasser stützt sich auf Kate Eichhorns Aussage, die bemerkt, dass man durch das filterlose und unreflektierte Teilen privater Inhalte wie Fotos eine neue Identität schaffen würde, welcher man nur schwer wieder „entkommen“ könne (Vgl. Z. 1-7).
- Um seine These, ein bereits einmal gezeichnetes Bild von einem im World Wide Web sei nahezu irreversibel, führt Strasser ein Beispiel an: Ein sogenannter „Sam“ (Z. 10) wird aufgrund in seiner Kindheit veröffentlichter nudistischer Bilder bis ins Erwachsenenalter gemobbt und geht „traumatisiert“ (Z. 20) aus der Publikation der scheinbar harmlosen Kinderfotos hervor. Erst als er erwachsen ist, Jahrzehnte später, schafft es der junge Mann, sich selbst zu finden und folgt seiner inneren Wahrheit (Vgl. Z. 26).
- Strasser nutzt das eben aufgeführte Beispiel, um zu verdeutlichen, dass das permanente Festhalten von persönlichen Momenten im Internet dazu führt, dass man seiner Vergangenheit nicht entkommen kann und diese immer wieder gegen einen verwendet werden kann (Z. 6 f.).
- Strasser empfindet das verstärkte Mitteilungsbedürfnis heutiger Konsumenten sozialer Medien als ein Sinnbild der „menschlich[en] Eitelkeit“ (Z. 44). Die ständige Selbstdarstellung raubt dem Menschen seiner Meinung nach das Menschliche, Lebendige und lenkt von den „Hintertüren des eigenen Lebens“ (Z. 41) ab. Dass er in dem Zuge China als Negativbeispiel anführt, verleiht seiner Position einen zynischen Charakter.
- Die ständige zur Schaustellung des eigenen Gesichts, Körpers und eigenen Lebens vergleicht der Autor mit einem „hochladbaren Digitalzombie“ (Z. 63), der nur noch wenig mit einem lebendigen Menschen gemein hat.
- Strasser stellt diese „seelenlose Figur“ (Z. 63), wie er sie nennt, deutlich dem positiven Gegenbild einer authentischen, gleichzeitig kohärenten und offenen „Bildungsgeschichte“ (Z. 48) gegenüber, die idealerweise von literarischen Hauptfiguren repräsentiert wird (Vgl. Z. 58 f.).
Schluss
- Peter Strasser kritisiert in seinem Text Der Selbstbetrug in der digitalen Selbstverwirklichung – über das Elend des Nicht-vergessen-Könnens die heutige Praxis, private Inhalte in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen.
- Er argumentiert, dass diese Praxis dazu führt, dass Menschen ihrer Vergangenheit nicht mehr entkommen können und dadurch ihre persönliche Entwicklung und Identitätsbildung beeinträchtigt wird.
- Strasser sieht darin einen Verlust von Privatsphäre und eine Gefahr für die individuelle Freiheit. Er bezeichnet diese Tendenz als „Publizitätspsychose“ (Z. 43) und kritisiert insbesondere die Eitelkeit und den Narzissmus, die er als treibende Kräfte hinter dieser Entwicklung sieht.
- Darüber hinaus warnt der Autor vor den Folgen der ständigen Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, die er als eine Form des Selbstbetrugs betrachtet.
Teilaufgabe 2
Einleitung
- In seinem Essay setzt sich der Philosoph Peter Strasser kritisch mit der Selbstdarstellung und dem Verlust von Privatsphäre in sozialen Netzwerken auseinander.
- Er argumentiert, dass die permanente Präsenz und Verfügbarkeit persönlicher Informationen im Internet zu einer Entfremdung des Individuums führt und die Möglichkeit zur persönlichen Entwicklung und Selbstverwirklichung einschränkt.
Hauptteil
Peter Strasser zur Selbstdarstellung im Internet- Strasser steht der digitalen Selbstdarstellung sehr kritisch gegenüber. Er sieht darin einen Verlust von Authentizität und Individualität, da alles, was im Internet veröffentlicht wird, dauerhaft festgehalten und potenziell von jedem eingesehen werden kann (Z. 54 ff.).
- Zudem kritisiert er die Tendenz, sich ständig „neu zu erfinden“ und das eigene Leben nach sozial normierten Schemata zu gestalten (Z. 47 ff.).
- In der Auseinandersetzung mit Strassers Position könnte man argumentieren, dass die digitale Selbstdarstellung auch positive Aspekte hat, wie zum Beispiel die Möglichkeit zur Selbstexpression und zur Vernetzung mit anderen. Allerdings ist es wichtig, sich der potenziellen Risiken bewusst zu sein und verantwortungsvoll mit den eigenen Daten umzugehen.
- Inwiefern liegt es im Interesse jedes Einzelnen, sich zum verantwortungsbewussten Umgang mit Medien und Daten, Bildmaterial sowie Informationen zur eigenen Person zu bilden?
- Kritische Betrachtung des von Strasser angeführten Beispiels der Person „Sam“ (Z. 10)
- Wo kann die Grenze zwischen biografischer Dokumentierung und missbräuchlicher Offenlegung privater Inhalte gezogen werden?
- Herausarbeitung des Diskurses, welcher sich zwischen traumatischen Erlebnissen wie die von Sam und harmloser Aufzeichnung biografischer Entwicklung (Vgl. Z. 37) bewegt.
- Inwieweit kann „die klassische Bildungsgeschichte“ (Z. 48) noch als exemplarisches Vorbild für die „Selbstverwirklichung“ (Z. 47) Heranwachsender genutzt werden bzw. inwiefern handelt es sich hierbei um ein zeitgerechtes Exempel?
- Kritisches Hinterfragen, ob Strasser in seiner gnadenlosen Abhandlung der sozialen Medien im Internet die Thematik nicht unbesonnen, subjektiv und undifferenziert betrachtet?
Schluss
- Strasser äußert eine kritische Haltung gegenüber der digitalen Selbstdarstellung, da er darin einen Verlust von Authentizität und Individualität sieht.
- Es wird argumentiert, dass die digitale Selbstdarstellung auch positive Aspekte hat, wie Selbstexpression und Vernetzung mit anderen, jedoch ist es wichtig, sich der potenziellen Risiken bewusst zu sein und verantwortungsvoll mit den eigenen Daten umzugehen.
- Es wird diskutiert, wo die Grenze zwischen biografischer Dokumentierung und missbräuchlicher Offenlegung privater Inhalte gezogen werden kann. Die Frage wird aufgeworfen, ob die klassische Bildungsgeschichte noch als Vorbild für die Selbstverwirklichung Heranwachsender genutzt werden kann.
- Auch wird kritisch hinterfragt, ob Strassers Abhandlung der sozialen Medien im Internet unbesonnen, subjektiv und undifferenziert ist.