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Aufgabe 5 - Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes (Schwerpunkt: Erörterung)

Analyse und Erörterung pragmatischer Texte

Thema:
Hilmar Klute: Wer streiten will, muss sich auch schmutzig machen
Aufgabenstellung:
  • Arbeite die Position des Autors heraus und analysiere die Struktur und die sprachliche Gestaltung des Textes.
  • Setze dich mit dieser zentralen Aussage Klutes auseinander:
  • „Eine Debatten-Gesellschaft darf sich nicht zu fein sein, auch die [...] unappetitlichen Ansichten anzuhören.“
    (Z. 66 ff.)
Material
Wer streiten will, muss sich auch schmutzig machen
Hilmar Klute
In der Affektgesellschaft wird erst zurückgewiesen, dann nachgedacht. Dabei
täten diesem Land ein paar wirkliche Debatten gut.

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Als der durchtriebene und machtverliebte Fürst Metternich sich eine Auswahl von
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Versen des deutschen Dichters Heinrich Heine kommen ließ, blätterte er spitzmün-
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dig in den champagnerlaunigen Texten, zitierte vor seinen Speichellecken wohl
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dies und das amüsante Aperçu, um dann, so die Überlieferung, den fabelhaften
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Satz zu sagen: „Vorzüglich, muss sofort verboten werden.“
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Damals, in den Zeiten der aristrokratischen Hagemonie, konnte man den Misston,
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der das Orchester der Einhelligkeit störte, mit der lässigen Geste des Fliegenklat-
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schers vom Tisch fegen, ein Handgriff war das, mehr nicht. Heute funktioniert es in den
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totalitären Staaten noch so ähnlich - was Putin nicht passt, wird verfolgt, wer der
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chinesischen Nomenklatura nicht Abweichungen vom Parteidiktat kommt, wird unter
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Hausarrest gestellt, und wer in Polen für die Pressefreiheit ist, wird böse unter
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Druck gesetzt. Solche Schikanen sind in einem freiem Land undekbar. Es gibt auch
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keinen Grund, von hoher Warte für kulturelle Ebenheit zu sorgen, das machen wir,
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bitte, schon selber.
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Die Angewohnheit, das vermeintlich Anstößige zunächst mal einer moralischen
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Reinigungsfirma zu überantworten, hat ihren festen Platz in der Asservatenkam-
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mer der Affektgesellschaft. Zuerst muss das weg, dann kann man vielleicht noch
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mal darüber reden, aber das darf höchstens in einem möglichst auf Einigkeit ge-
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getrimmten Diskurs geschehen. [...]
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Im Frühsommer fiel ein paar Studierenden der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin
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nach jahrelangem Herumscharwenzeln um die Mensamauer plötzlich Folgendes
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auf: Ein in spanischer Sprache verfasstes Gedicht des [...] Poeten Eugen Gomrin-
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ringer stand dort in schönen schwarzen Buchstaben auf die weiße Wand geschrieben;
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es enthielt, übersetzt, die Worte: Frauen, Alleen, Blumen, ein Bewunderer. Die le-
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senden Studierenden waren sich schnell einig, dass dieses sich so harmlos geben-
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de Gedicht in Wahrheit ein misogynes Machwerk sei, weil dort die Frau als Objekt
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männlicher Begierde vorgestellt werde. Kurzum, da war, wie Brecht so schön singt:
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„Tünche nötig“. Das Gedicht muss überpinselt werden, damit im intellektuellen Ru-
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heraum der Uni wieder Frieden und Wohlsein herrschen.
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Die Prorektorin der Hochschule, Bettina Völter, lobte die angestrebte Dampfreini-
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nigung als „gewaltfreies, demokratisch legitimiertes und auch ideologie-, diskriminie
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rungs-und klischeesensibles Verfahren“ - so als sei es bereits eine demokratische
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Hochleistung, dass die Lyrikexperten der Uni dem 92-jährigen Gomringer nicht
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gleich den Hals umgedreht haben.
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Der wirklich ganz große und anstößige Irrsinn in Bettina Völters Stellungnahme
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aber ist das Wort „Verfahren“. Ein Verfahren ist ein Prozess der Abwägung, in wel-
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chem ein Argument ins Verhältnis zum Gegenargument gesetzt wird. Hier wurde
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aber nicht abgewogen, hier wurde nur gehandelt - weg damit, ehe vielleicht sogar
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noch jemand mit dem diskriminierenden Besteck der Philologie aufkreuzen könnte.
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Es ist nämlich so, dass in einem Gedicht alle Schandtaten geschehen dürfen, die in
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der realen Welt verboten sind. Im Gedicht darf gemordet werden, und die Bluttat
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darf gefeiert werden; es darf mit Männern und Frauen auf jede Weise umgegangen
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werden; ein gedicht ist kein safe space, kein feministischer Raum, sondern ein wil-
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der Ort - man könnte soweit gehen zu sagen: Im Gedicht darf sogar geraucht wer-
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den. Eine Begründung der Studenten, das Gedicht zu schleifen, lautete: In der Um-
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gebung der Mensa sei es ziemlich dunkel, und Frauen würden dort öfters belästigt.
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Vor diesem düsteren Hintergrund sei das Gedicht geradezu zynisch.
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Man könnte der Einfachheit halber von einem besonders blöden Beispiel von politi-
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scher Korrektheit reden. Aber die Political Correctness war immerhin ein Debatten-
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begriff, man stritt sich um Deutungshoheiten, es wurden ideologische Grabenkämp-
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fe geführt, und die Frage, was opportun sei, zog eine Kontroverse nach sich. In der
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neuen Affektgesellschaft dagegen muss man nicht mehr groß reden. Es reicht völlig
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aus, ein schwiemeliges Unbehagen geltend zu machen - was früher das Argument
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war, ist heute das Es-fühlt-sich-falsch-an-Sentiment: Irgendwas stimmt nicht mit ei-
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nem Text, einer Meinung, einer Weltsicht - schon ist das Ding im Staubsauger der
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ethischen Raumpfleger verschwunden. [...]
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Wie irre ist das eigentlich, wenn Auseinandersetzung, Kontroversen und Debatten,
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die dieses Land seit den Sechzigerjahren ohnehin erst mühsam, dann aber sehr
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leidenschaftlich gelernt hat, inzwischen unter Bikramyoga-Bedingungen stattfinden
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sollen? Wie trist und tonlos wird ein Gespräch, bei dem man seine Worte nicht da-
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hingehend wägt, ob sie treffend sind, sondern ob sie eventuell auch zum Wort-
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schatz der AfD-Politiker gehören? Wer in der sprachlichen Auseinandersetzung
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seine Instrumente absichtlich stumpf macht, nur weil sie jemand mit den Waffen der
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Demokratiegegner verwechseln könnte, der hat schon verloren. Und wer sich in ei-
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nen gebohnerten moralischen Nebenraum zurückzieht, überlässt die Wohnung den
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Vandalen. Denn auch, wenn wir es manchmal ziemlich ungemütlich finden: Eine
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Debatten-Gesellschaft darf sich nicht zu fein sein, auch die unfrischen, auch die an-
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gefaulten und unappetitlichen Ansichten anzuhören. Diese sind nämlich Teil von ihr,
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sie kommen aus ihr oder entstehen ihretwegen - es gibt kein Recht auf die unge-
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störte Feier der eigenen moralischen Anständigkeit. [...]
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Die Frage lautet leider immer: Ist das politisch sauber oder muss das weg? Es gibt
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kein Dazwischen mehr. Das Dazwischen wäre die unaufgeregte Auseinanderset-
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zung mit Weltsichten. Aber die Angst, sich schon allein der Berührung mit nicht
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auf den ersten Blick als politisch unbedenklich einordbaren Standpunkten eventuell
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schmutzig zu machen, ist so groß, dass man lieber umgehend die Putzkolonne holt.

Aus: Wer streiten will, muss sich auch schmutzig machen, letzter Zugriff am 30.11.2023.