Aufgabe 2 - Gedichtvergleich
Vergleichende Interpretation zweier Gedichte
Thema: Conrad Ferdinand Meyer (* 1825 - † 1898): Im Spätboot (1882)Stefan George (* 1868 - † 1933): Rückkehr (1897) Aufgabenstellung:
- Interpretiere und vergleiche beide Gedichte.
1
Aus der Schiffsbank mach ich meinen Pfühl,
2
Endlich wird die heiße Stirne kühl!
3
O wie süß erkaltet mir das Herz!
4
O wie weich verstummen Lust und Schmerz!
5
Über mir des Rohres schwarzer Rauch
6
Wiegt und biegt sich in des Windes Hauch.
7
Hüben hier und wieder drüben dort
8
Hält das Boot an manchem kleinen Port:
9
Bei der Schiffslaterne kargem Schein
10
Steigt ein Schatten aus und niemand ein.
11
Nur der Steurer noch, der wacht und steht!
12
Nur der Wind, der mir im Haare weht!
13
Schmerz und Lust erleiden sanften Tod:
14
Ein Schlummrer trägt das dunkle Boot.
Aus: Hans Zeller, Alfred Zäch (Hg.), Conrad Ferdinand Meyer, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1,
Bern 1963 (Benteli Verlag), S. 80. Material 2 Rückkehr Stefan George
1
Ich fahre heim auf reichem kahne,
2
Das ziel erwacht im abendrot,
3
Vom maste weht die weisse fahne,
4
Wir übereilen manches Boot
5
Die alten ufer und gebäude
6
Die alten glocken neu mir sind,
7
Mit der verheissung neuer freude
8
Bereden mich die winden lind.
9
Da taucht aus grünen wogenkämmen
10
Ein wort, ein rosenes gesicht
11
Du wohntest lang bei fremden stämmen,
12
Doch unsre lieb starb dir nicht.
13
Du fuhrest aus im morgengrauen
14
Und als ob einen tag nur fern
15
Begrüssen dich die wellenfrauen
16
Die ufer und der erste stern.
Aus: Stefan George, Werke. Ausgabe in zwei Bänden, Bd. 1; Stuttgart 1984 (Klett-Cotta Verlag), S. 141.
Einleitung
- Im Folgenden sollen die beiden Gedichte Im Spätboot aus dem Jahr 1882, geschrieben von Conrad Ferdinand Meyer, sowie Rückkehr, aus der Feder des Autors Stefan George stammend und im Jahr 1897 veröffentlicht, zunächst jeweils formal und inhaltlich interpretiert werden.
- In einem zweiten Schritt sollen die beiden Gedichte im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede verglichen werden.
Hauptteil
Im Spätboot (Conrad Ferdinand Meyer)
- Das Gedicht ist als einstrophiges Werk aufgebaut.
- Die 14 Verse reimen sich paarweise. In Kombination mit dem ruhigen Rhythmus des fünfhebigen Trochäus mit stumpfer Kadenz wirkt es beim Lesen wie der Klang von sanften Wellen.
- Ein lyrisches Ich berichtet in Im Spätboot von seiner Fahrt auf einem Schiff. Gleich zu Beginn wird erwähnt, dass das lyrische Ich sich auf einer Bank an Deck zum Schlafen legt (V. 1).
- In Vers 2 freut sich das lyrische Ich, dass seine „heiße Stirn“ kühl wird, was als Metapher für vorangegangene Aufregung gedeutet werden kann. Die Inversion von „Endlich“ an den Versbeginn macht klar, dass diese Erholung und Entspannung langersehnt war.
- Das Oxymoron „O wie süß erkaltet mir das Herz“ (V. 3) sowie die Synästhesie „O wie weich verstummen Lust und Schmerz“ (V. 4) betonen diesen neuen Zustand des inneren Friedens, den das lyrische Ich genießt. Obwohl ein kaltes Herz und verstummte Lust auf den ersten Blick negativ besetzt scheinen, wird durch die Betonung des Doppelempfindens die positive Atmosphäre verdeutlicht, die von der Exclamatio „O“ ausgeht.
- Die sprachliche Ausgestaltung des Wechsels von Hitze zu Kälte steht als Metapher für das innere zur Ruhe kommen des lyrischen Ichs, nachdem es sich an Deck abgelegt hat.
- So angekommen, schwenkt sein Blick auf die Umgebung. Das lyrische Ich beschreibt den schwarzen Rauch des Boots über sich. Der Binnenreim „wiegt und biegt“ (V. 6) lässt den dunklen Rauch, der in der Lyrik oft für Vergänglichkeit oder gar Tod steht, leicht und friedlich wirken.
- Das lyrische Ich berichtet weiter, dass das Boot hin und her fährt und hüben und drüben am Ufer kleine Häfen ansteuert. Der Binnenreim in Vers 7 verdeutlicht den friedlichen Rhythmus der Fahrt zwischen den Häfen, welche sinnbildlich für Orte des Ankommens und der Sicherheit stehen.
- Das lyrische Ich spricht weiter vom „karge[n] Schein“ der Schiffslaterne (V. 9), woraus gelesen werden kann, dass es nachts ist. Schummriges Licht wird üblicherweise als unheimlich empfunden.
- Ein Empfinden, das zunächst bestätigt wird, wenn das lyrische Ich in Vers 10 in einem Zeugma von „Schatten“ spricht, die am Hafen aussteigen, während niemand mehr einsteigt. Auf dem Schiff wird es also immer leerer. Außerdem ist die Umschreibung von Personen als Schatten ein recht düsteres Bild, das nahelegt, dass die Passagiere zuvor keinem bekannt waren und keinen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.
- Schon in den parallelen Versen 11 und 12 macht das lyrische Ich deutlich, dass es die neue Leere auf dem Boot aber als heimelig empfindet. Dass nur noch der Steuermann an Bord ist, kommt ihm bei seinem Wunsch nach Ruhe gerade recht. Er genießt es, dass nur noch der Wind da ist, der ihm durch die Haare weht (V. 12). Ein Bild, das typischerweise für eine friedliche Situation steht. Nur der Steuermann und der Wind handeln jetzt aktiv, während das lyrische Ich entspannen kann.
- In Vers 13 wird Vers 4 noch einmal aufgegriffen, allerdings wird nun „Schmerz“ vor „Lust“ genannt. Das lyrische Ich fühlt sich also zuerst vom negativen Gefühl des Schmerzes befreit. Allerdings stirbt mit der Lust auch ein positives Empfinden.
- Die Metapher des „sanften Todes“ (V. 13) ist endgültiger gewählt als das anfängliche Bild des Verstummens. Als Contradictio in adiecto lässt es aber trotzdem eine heimelige Atmosphäre entstehen, so als schlafe das lyrische Ich sicher und geborgen ein.
- Im letzten Vers liegt durch die Inversion die Betonung auf „Schlummrer“. Das lyrische Ich wird plötzlich in der dritten Person genannt, so als würde es von oben auf das gestorbene Selbst schauen. Zugleich könnte das verniedlichte Wort „Schlummrer“ aber auch nahelegen, dass das lyrische Ich friedlich schläft und in Träumen fernab des Bewusstseins schwelgt.
- Diese doppelte Interpretationsmöglichkeit trifft auf das ganze Gedicht zu. Es kann einerseits vom friedlichen und heilsamen Schlaf handeln. Andererseits finden sich, vor allem in Bezug auf die griechische Mythologie, viele Andeutungen auf das Thema Tod. Dort bringt der Fährmann Charon die Geister der Toten mit einem Schiff ans andere Ufer, wo sie als Schatten aussteigen und ihren ewigen Frieden finden können.
Rückkehr (Stefan George)
- Stefan Georges Gedicht ist in vier Strophen mit jeweils vier kreuzweise gereimten Versen aufgebaut. Der Jambus mit alternierenden Kadenzen sorgt auch hier für eine Art Wellenklang. Besonders auffällig ist, dass George die Groß- und Kleinschreibung ignoriert.
- Ein lyrisches Ich berichtet von seiner Bootsfahrt, auf der es bei „Abendrot“ (V. 2) seinem Ziel näherkommt. Mittels der Inversion von „heim“ (V. 1) wird hervorgehoben, dass es sich um eine Fahrt in die Heimat handelt.
- Die positive Atmosphäre wird dadurch bestärkt, dass das lyrische Ich von „reichem kahne“ (V. 1) mit „weißer fahne“ (V. 3) spricht. Es scheint also kein heimkehrender Soldat oder verarmter Rückkehrer zu sein, dessen einzige Zuflucht die Heimat ist.
- Die Heimat wird vom lyrischen Ich sehnlichst erwartet. Die weiße Fahne, das Friedenssymbol, weht im Wind, weil sein Boot so schnell fährt und dabei andere Schiffe überholt (Vgl. V. 4).
- Die Metapher des im Abendrot erwachenden Ziels (Vgl. V. 2) verknüpft das Ende des Tages mit einem neuen Erwachen. Das Ziel scheint für das lyrische Ich also nicht nur verklärt in der Abendsonne zu liegen, sondern ihm auch als strahlende neue Hoffnung zu dienen.
- Das Bild der Rückkehr als ein Neuanfang wird auch in der zweiten Strophe wieder aufgegriffen. Das Ufer und die Gebäude der Heimat sind dem lyrischen Ich längst bekannt und vertraut, (Vgl. V. 5-6) erscheinen ihm nun aber trotzdem „neu“ (V. 6). In Vers 7 wird „neu“ in veränderter Form wiederholt und der Wind kündigt die „verheissung neuer Freude“ an. Die Heimat ist dem lyrischen Ich also nicht etwa unbekannt und fremd geworden. Er nimmt nach seiner Rückkehr vielmehr alles wieder intensiver mit allen Sinnen wahr, wenn er die Glocken hört, die Gebäude sieht und den Wind spürt.
- Gleich zu Beginn der dritten Strophe wird durch die Inversion von „da“ (V. 9) Spannung aufgebaut. Das lyrische Ich sieht plötzlich in den Wellen, die bildlich als „grünen wogenkämme“ (V. 9) beschrieben werden, eine Vision. „Ein wort, ein rosenes gesicht“ (V. 10) stehen hier für eine nicht reale Erscheinung. „Wort“ kann als Synekdoche für die Sprache bzw. hier eine Rede in der Muttersprache gesehen werden. Durch die Vermenschlichung („Gesicht“) und die Verknüpfung mit einer schön erblühenden Rose inmitten von Grün („rosenes Gesicht“ und „grüne wogenkämme“) wird die Vision mit positiven Emotionen assoziiert.
- Die Botschaft der Vision gilt dem lyrischen Ich, das plötzlich mit „du“ angesprochen wird (Vgl. V. 11). Die „wellenfrauen“ (Vgl. V. 15) erklären ihm, dass die Liebe ihm immer gewogen geblieben, obwohl er lange in der Fremde gelebt hat. Das Possessivpronomen „unsre“ (V. 12) lässt darauf schließen, dass die Wellenfrauen sinnbildlich für die Heimat und die Mitmenschen dort stehen, die ihm gerne empfangen werden.
- In der vierten Strophe wird das Bild des Sonnenverlaufs wieder aufgegriffen. Während das lyrische Ich bei Abendrot heimkehrt, hat es seine Heimat im „morgengrauen“ verlassen. Durch den Parallelismus in Vers 13 wird dieser Zusammenhang noch einmal hervorgehoben. Das frühe Verlassen der Heimat wird in diesem Bild mit einer dunklen Atmosphäre verknüpft, während die Heimkehr im warmen Licht stattfindet.
- Die lange Zeit in der Fremde kommt dem lyrischen Ich bei der Rückkehr plötzlich nur noch wie ein Tag vor (Vgl. V. 14), weil die Verbundenheit mit der Heimat sofort so stark spürbar ist. Dort ist seine Welt. Sein ganzes Universum liegt für das lyrische Ich einzig und allein an diesem Ort. Nur in der Heimat sieht es Wasser, Erde und Sterne („wellenfrauen“, „ufer“, „erster stern“ V. 15 - 16).
- Dass die Wellenfrauen, als Wesen des Lebenselixiers Wasser, das lyrische Ich am neuen Ufer mit Worten begrüßen, bestärkt das Bild des positiven Neuanfangs. Der Stern könnte ein Lichtblick in Richtung neuer Inspiration sein für das lyrische Ich, das endlich wieder mit allen Sinnen erleben kann. Bedenkt man, dass ein Lyriker das Gedicht verfasst hat, könnte es auch um die Hoffnung auf neues kreatives Gelingen gehen, das durch die neue Verbundenheit mit der Muttersprache in der Heimat entsteht.
- Vergleicht man beide Gedichte, finden sich formal keine Gemeinsamkeiten. Lediglich die Tatsache, dass beide Lyriker mit Reimen arbeiten, ist anzumerken.
- Inhaltlich betrachtet handeln beide Gedichte von einer Bootsfahrt und einer damit verbundenen Heimkehr. Allerdings ist diese Heimkehr mit gegensätzlichen Orten verbunden. Während bei George eine positive und fröhliche Atmosphäre bei der Rückkehr in die Heimat herrscht, sucht das lyrische Ich bei Meyer keinen bestimmten Ort auf, sondern eher einen Bewusstseinszustand des inneren Friedens.
- Im Sinne der persönlichen Zielvorstellung des lyrischen Ichs sind die beiden Gedichte also konträr. Bei Meyer sucht das lyrische Ich Erlösung in einem tiefen Schlaf, der das Bewusstsein aufhebt, oder sogar im Tod. Bei George dagegen will das lyrische Ich in der Heimat wieder zu sich selbst finden und sich und seinen Wurzeln samt der Muttersprache näher kommen, um wieder lebendiger zu sein.
- Entsprechend dieses Unterschiedes wirkt die Sprache und Bildlichkeit bei Meyers Gedicht düster. Er arbeitet mit Bildern wie dem Totenfluss oder einem erkalteten Herz. George dagegen nutzt positivere und farbigere sprachliche Bilder wie die grünen Wellen des Elements Wasser oder das rosafarbene Gesicht.
- Besonders die Verknüpfung mit Tageszeiten fällt beim Vergleich der Gedichte ins Auge. Spielt sich Im Spätboot bei Nacht ab, reist das lyrische Ich bei Rückkehr im Tageslicht. Selbst am Abend scheint dort mit einem Stern weiter ein helles Licht, das Hoffnung spendet.
- Nicht außer Acht gelassen werden sollte, dass bei kompletter Betrachtung beide Gedichte auf unterschiedliche Arten gelesen werden können. Bei Rückkehr wird nicht ganz deutlich, ob es nun um die Rückkehr zur Heimat geht oder metaphorisch um die Rückkehr zur Muttersprache in einer vielleicht nur gedanklichen Reise. Noch doppeldeutiger ist Meyers Gedicht, das sowohl als Sehnsucht nach einem friedlichen Schlaf gewertet werden kann. Oder eben als ein Gedicht über den Tod und eine Assoziation des Sterbens.
Schluss
- Beide Gedichte, Im Spätboot von Conrad Ferdinand Meyer und Rückkehr von Stefan George, behandeln das Thema der Heimkehr und einer Bootsfahrt, jedoch auf unterschiedliche Weise.
- Während Meyer ein düsteres Bild zeichnet und die Heimkehr als eine Suche nach innerem Frieden und möglicherweise sogar dem Tod darstellt, präsentiert George eine positive und farbenfrohe Darstellung der Rückkehr in die Heimat.
- Die Unterschiede in den Gedichten spiegeln sich auch in der verwendeten Sprache und Bildlichkeit wider.
- Insgesamt bieten beide Gedichte interessante Einblicke in die individuellen Vorstellungen der Lyriker von Heimkehr und Selbstfindung.