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Aufgabe 1 - Werke im Kontext

Interpretation und Vergleich der Pflichtlektüren („Werke im Kontext“)

Thema:
Hermann Hesse (* 1877 - † 1962): Der Steppenwolf
Johann Wolfgang von Goethe (* 1749 - † 1832): Faust I
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere die Textstelle; beziehe das für das Verständnis Wesentliche aus der vorangehenden Handlung ein.
  • Untersuche in einer vergleichenden Betrachtung die Bedeutung, die Hermine für Harry Haller und Gretchen für Faust hat. Erörtere dabei, inwieweit die These Antje Peddes zutrifft:
  • „Die zentrale Figur [...] ist der männliche Held, der auf seinem Weg der Selbstfindung Frauenfiguren als Stationen seiner Vervollkommnung passiert.“

Aus: Antje Pedde, „Große Dichtung redet von der Frau oft nicht anders als der Biertisch“,
Würzburg 2009 (Königshausen und Neumann), S. 69.
Material
Der Steppenwolf
Hermann Hesse
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„Du hast mich gern“, fuhr sie fort, „aus dem
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Grunde, den ich dir schon gesagt habe; ich habe deine
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Einsamkeit durchbrochen, ich habe dich gerade vor
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dem Tor der Hölle aufgefangen und wieder aufge-
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weckt. Aber ich will mehr von dir, viel mehr. Ich will
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dich in mich verliebt machen. Nein, widersprich mir
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nicht, laß mich reden! Du hast mich sehr gern, das
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spüre ich, und du bist mir dankbar, aber in mich ver-
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liebt bist du nicht. Ich will machen, daß du es wirst, das
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gehört zu meinem Beruf; ich lebe ja davon, daß ich
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Männer in mich verliebt machen kann. Aber paß gut
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auf, ich tue das nicht darum, weil ich gerade dich so
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entzückend fände. Ich bin nicht in dich verliebt, Harry,
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so wenig, wie du in mich. Aber ich brauche dich, wie
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du mich brauchst. Du brauchst mich jetzt, im Augen-
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blick, weil du verzweifelt bist und einen Stoß nötig
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hast, der dich ins Wasser wirft und dich wieder leben-
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dig macht. Du brauchst mich, um tanzen zu lernen, la-
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chen zu lernen, leben zu lernen. Ich brauche dich,
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um nicht heute, später, auch zu etwas sehr Wichtigem und
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Schönem. Ich werde dir, wenn du in mich verliebt sein
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wirst, meinen letzten Befehl geben, und du wirst gehor-
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chen, und das wird für dich und mich gut sein.“
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Sie hob eine von den braunvioletten grüngeäderten
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Orchideen ein wenig im Glase, beugte ihr Gesicht einen
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Augenblick darüber und starrte die Blume an.
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„Du wirst es nicht leicht haben, aber du wirst es tun.
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Du wirst meinen Befehl erfüllen und du wirst mich töten.
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Das ist es. Frage nicht mehr!“
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Mit dem Blick noch bei der Orchidee, verstummte
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sie, ihr Gesicht entspannte sich, wie eine aufgehende
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Blumenknospe entrollte sich der Druck und die Span-
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nung, und plötzlich stand ein entzückendes Lächeln
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auf ihren Lippen, während die Augen noch einen Au-
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genblick starr und gebannt blieben. Und jetzt schüttelte
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sie den Kopf mit der kleinen Bubenlocke, trank einen
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Schluck Wasser, sah plötzlich wieder, daß wir am Es-
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sen waren und fiel mit freudigem Appetit über die Spei-
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sen her.
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Ich hatte Wort für Wort ihrer unheimlichen Rede
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deutlich gehört, hatte sogar ihren „letzten Befehl“ erra-
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ten, noch ehe sie ihn aussprach, und war über das „Du
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wirst mich töten“ nicht mehr erschrocken. Alles, was
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sie sagte, klang mir überzeugend und schicksalhaft, ich
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nahm es an und wehrte mich nicht dagegen, und doch
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war alles, trotz dem grauenhaften Ernst, mit dem sie
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gesprochen hatte, für mich ohne volle Wirklichkeit und
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Ernsthaftigkeit. Ein Teil meiner Seele sog ihre Worte
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auf und glaubte ihnen, ein andrer Teil meiner Seele
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nickte begütigend und nahm zur Kenntnis, daß also
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doch auch diese kluge, gesunde und sichere Hermine
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ihre Phantasien und Dämmerzustände habe. Kaum
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war ihr letztes Wort gesprochen, so überzog eine
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Schicht von Unwirklichkeit und Unwirksamkeit die
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ganze Szene.

Aus: Hermann Hesse, „Der Steppenwolf“. Frankfurt/M. 2016 (Suhrkamp Verlag), S. 143 f.