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Aufgabe 3 - Interpretation eines Kurzprosatextes

Interpretation eines Kurzprosatextes

Thema:
Brigitte Kronauer (* 1940): Der Störenfried
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Text.
Material
Der Störenfried
Brigitte Kronauer
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Ja sicher nahm er sich die Freiheit, während er die naiv gezogenen Wege abging und
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mit Vergnügen die vorgeschriebenen, sinnlosen Haken schlug, eine Lakritzschnecke
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nach der anderen zu futtern, bis er die ganze Tüte leergefressen hatte! Er ging gerade-
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aus und bog plötzlich, sich selbst überraschend, willkürlich ab, er sah sich zu, einer
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kleinen Menschärgeredichnichtfigur, bis etwas außer Rand und Band geraten, aber
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immer geometrischen Zügen, die er selbst verantwortete. Dazu also und zurecht: eine
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Schnecke nach der anderen. Er biß sie in seinem Mund zugrunde, in großer Vertil-
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gungswut, die reine Freude war. Jetzt sirrte das alte Buchenlaub nicht bösartig in den
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Hecken. Mit dem kalten Februarwind war es für lange Zeit aus. Hier staute sich die Witte-
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rung zu jeder Jahreszeit. Nun also war Frühling dran, und hier eben sofort ein hun-
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dertprozentiger Frühling. Die Anordnung der Bäume und Büsche erzeugte oft um die
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Gräber herum den Eindruck,von Spezialkabinetten mit jeweils eigenem Zimmergeruch,
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und er, K. R. Schnurrer, konnte überall eintreten ohne anzuklopfen.
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Schließlich war er hier annähernd zu Hause. Er hatte Gewohnheitsrechte, beuchte zwar
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niemanden, aber stellte sich gern sein eigenes Grab vor mit dem Namen „K. R. Rotze-
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kocher“. Ja sicher, das würde ihm gefallen, genau der richtige Name für den Stein.
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Zu den Steinen und Namen dachte er sich mit Vorliebe passende Berufe aus. Die Toten
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mochten neuerdings vielleicht besonders gern Systemanalytiker, Netzadministrator sein.
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Auch bei dieser Berufsgruppe gab es längst Verschiedene, und er nickte ihnen von
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oben in die Tiefe freundlich hinab. Netzadministrator! Da lag der Herr und wurde von
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oben vom Menschärgeredichnichtmännchen respektvoll gegrüßt. Der da unten war eben
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schon „Himmelen gegangen“. Mochte für ihn das Beste sein.
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Es machte ihm auch Spaß, nach den Daten unter den Namen die Verwandtschaftsbe-
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ziehungen der Begrabenen zu erraten. Ließ sich das aus den Zahlen nicht eindeutig er-
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mitteln, reagierte erkurzfristig verdrossen, als hätte er vor einem Rätsel versagt, einem
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unsauber formulierten allerdings.
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Die Grabschächte! Gern begriff er sie als endlos in die Tiefe verlaufende, wie die Gänge
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in den nebligen Monaten es in der Horizontale taten. Dan konnte man sich nämlich
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auch umgekehrt ausmalen, man stiege, in der Waagerechten ausschreitend, in die Tiefe
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hinab. Es blieb ja alles folgenlos, war ja nicht gefährlich, auch seine kleine Nichte sprach
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mit Genugtuung vom Helden eines eben gelesenen Buches,der allerdings verloren hatte,Ar-
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me und Beine, Augenlicht, Gehör, den halben Kopf offenbar, und immer noch lebte, total
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kaputt der junge Mann, aber tapfer. So hatte sie es berichtet, durch so viel Tugend und
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radikale Reduzierung entflammt. Von ihr wußte er sicher, daß sie unter den Lebenden
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weilte, von anderen Bekannten oder sogar von Blutsverwandten konnte er das auf Anhieb
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nicht genau sagen. Wenn er sie nie traf, was macht es dann überhaupt für einen Unter-
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schied?
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Er riß mit den Zähnen an einer Lakritzschnecke. Aber nun zum ersten Mal dieser Läufer
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im Turnanzug, locker an den verwilderten und den frischen, hoch mit Blumen be-
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schichteten Gräbern vorbeitänzelnd. Artistische Technik geradezu. Ein 1a Boden hier,
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Waldverhältnisse. Dieser Mann war von der ersten Sekunde an sein Feind. Er rannte un-
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beirrbar, sah nicht nach rechts und links, ganz hingegeben dem unbändigen Lauf-
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vergnügen auf idealer Unterlage. Ribbelte den ganzen Friedhof auf mit seinem nichts-
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würdigen Sport und scherte sich an nichts. Schnurrer schlich ihm nach. Er kannte sich ja
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gut aus und konnte es taktisch so einrichten, daß er ihn, obwohl er sich viel langsamer
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bewegte, im Augen behielt.
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Das ging zu weit! Hierher durften sich Pragmatiker einfach nicht vorwagen. Er,
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Schnurrer,verlor die Lust an seinem Friedhof. Damit hätte er nie gerechnet. Dieser Ra-
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sende! Zerstörer! Ein maschinengleich rasender oder pendelnder, voranfedernder Zer-
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störer, der alles in Schutt und Asche legte, während er ungestraft seine Technik zwi-
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schen den Grabhügeln vervollkommnete.
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Warum ziehe ich denn hier herum, fragte sich Schnurrer, als Menschärgeredichnichtmänn-
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chen, und esse ausgerechnet hier so lüstern und fanatisch rabenschwarzes Lakritz? Es
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ist in Wahrheit Trotz, ja, gut, jetzt ist es leider gesagr, aber natürlich nicht gegen diesen
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Wahnsinnigen, der seine Beine nicht stillhalten kann. Ebensogut könnte ich mir was
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Schönes aus dem Weltall ansehen, zum Beispiel die Wasserstoffgaswolke im Sternbild
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Orion, hundertfünfzig Billionen Kilometer groß. Man mußte gegen den Tod aufzutrump-
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fen wissen. Die Gaswolke und ihr Glühen halfen manchmal. Manchmal war dies hier
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besser. Mitten auf dem Friedhof ging er dann großartig gelaunnt und gefeit herum, strei-
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chelte auch die schönen Marmorengel-Busen, die weniger kalten als man glaubte.
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Von Augenblick zu Augenblick die Gegenwart genießen? Schön und gut. Sollte er etwa
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seine Frau, der er immerhin noch deutlich zugetan war, jahrzehntelang sekundenweise
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lieben, und was war, bei Befolgung dieses Rezepts, mit einem gewissen Garteneingang,
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der seinerseits in unentwegter Treue auf ihn wartete?
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Der Störenfried trug Schuld daran, daß er sich diese Unerquicklichkeit klarmachen muß-
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te. Aus war das heimliche Kinderspiel. Nun stand der klobige Grund für seine Praktiken,
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völlig unnötigerweise, vor ihm.
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Seine Nichte hatte ihm erzählt, in der Kirche hätten Kinder jetzt oft die Hostie und ein
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Kaugummi gleichzeitig im Mund.Wenig später, wenn es mitden Hostien vorbei war,
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wurden diese Kinder, das stand ab heute fest, Läufer, die auf Friedhöfen ihre Muskeln
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stählten. Das ließe sich nicht aufhalten. Aber konnte man sie, eine letzte Gegenwehr, viel-
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leicht überlisten?
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Da zog der Verrückte wieder in seine Bahn, jetzt mit kleinen,steilen Übungs-oder Über-
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mutssprüngen zwischendurch, unaufhaltsam und in Begeisterung über das entdeckte
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Terrain immer noch eine zusätzliche Streckenvariation auskundschaftend.
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Da hatte er's: Erbitterung über den Turner oder Tod: Das war völlig egal, nämlich ein
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und dasselbe! Schnurrer würde sich in Zukunft den Tod als diesen schreiend gekleideten
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Läufer vorstellen. „Jan Klapperbeen? Das hatte ihn noch nie überzeugt. Aber dieser
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nicht müde zu Kriegende, sein Ziel sorgenfrei Verfolgende, ohne Blick für die hin-
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gehauchten Biografien, die ihn rechts und links flankierten, der schaffte es. So würde er,
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Schnurrer, Rotzekocher, von nun an den Tod leibhaftig sein Wesen treiben sehen, als
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unersättlicher Jogger im optimistischen Kampfanzug, ob das Laub kam oder ging.
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Nun riskierte er selbst einen Luftsprung als überaus fröhliche Pardodie: War das nichts?
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Mit einem Trick hatte er seinen Feind besiegt und in seine Gewalt gebracht, nicht direkt
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und vollständig den Tod, aber den gespenstisch sich abmühenden Jüngling gewiß. Der
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war erledigt, erlegt und tot.

Aus: Brigitte Kronauer: Schnurrer, Geschichten. Stuttgart 1992 (Klett-Cotta Verlag), S.7 ff.