Lerninhalte in Deutsch
Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 4

Materialgestütztes Schreiben eines Kommentars

Thema:
Sprache in politisch-gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen
Aufgabenstellung:

  • Eine überregionale Tageszeitung richtet einen Schreibwettbewerb zu der Frage aus, ob bzw. inwiefern durch soziale Medien eine demokratische Verständigung über gemeinsame gesellschaftliche Themen, Probleme und Ziele ermöglicht werden kann. Der Beitrag der Siegerin bzw. des Siegers soll im Kulturteil der Zeitung veröffentlicht werden.
  • Verfasse für den Schreibwettbewerb einen Kommentar, in dem du zu der strittigen Frage Stellung nimmst.
  • Nutze dazu die folgenden Materialien 1 bis 6 und beziehe unterrichtliches Wissen über Sprache in politisch-gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen sowie eigene Erfahrungen ein.
  • Formuliere eine geeignete Überschrift.
  • Verweise auf die Materialien erfolgen unter Angabe des Namens der Autorin bzw. des Autors und ggf. des Titels.
  • Dein Kommentar sollte ca. 1000 Wörter umfassen.

Material 1
Zwischen Partizipationsversprechen und Algorithmenmacht. Wie soziale Medien politisches Handeln prägen (2022)
Jan-Hinrik Schmidt

1
Das vorherige Kapitel hat deutlich gemacht, dass soziale Medien die Mechanismen
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und Möglichkeiten erweitern, sich über gesellschaftlich relevante Themen zu informie-
3
ren und eine eigene Meinung zu bilden. Doch damit nicht genug: Bürgerinnen und
4
Bürger können die sozialen Medien auch nutzen, um ihre eigenen Interessen und An-
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sichten zu äußern und andere Menschen zu aktivieren, sich ebenfalls zu engagieren.
6
In dieser Hinsicht unterstützen soziale Medien also gesellschaftliche Teilhabe bzw.
7
Partizipation […]:
8
1. Sich positionieren: Menschen können an Debatten zu gesellschaftlich relevanten
9
Themen teilhaben, indem sie selbst in den sozialen Medien Stellung beziehen und
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bestimmte politische Haltungen offen nach außen signalisieren. Dies geschieht be-
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reits niederschwellig, etwa durch den Beitritt zu spezifischen Gruppen oder Foren,
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durch die Angabe der eigenen politischen Überzeugung im Nutzerprofil oder ein
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entsprechend gestaltetes Profilbild. Selbst das „Liken“ oder „Faven“ von entspre-
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chenden Inhalten kann solche Signale aussenden. Zum einen kann diese Hand-
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lung für die eigenen Kontakte sichtbar sein, zum anderen tauchen häufig „gelikte“
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Inhalte in den Nachrichtenströmen anderer Nutzer auf und ziehen weitere Aufmerk-
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samkeit auf sich.
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2. Sich einbringen: Soziale Medien erlauben es auch, in vielfältiger Art und Weise die
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eigene Meinung in Debatten und Entscheidungen einfließen zu lassen. Diese Form
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der Teilhabe schließt die Bezugnahme auf andere und eine Auseinandersetzung
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mit deren Positionen ein. Dies kann unterschiedlich ausführlich geschehen, etwa
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als kurze und möglicherweise unreflektierte Reaktion in einem Kommentar oder
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Tweet, in Form einer länger andauernden Diskussion mit anderen, bis hin zum aus-
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führlichen Ausdrücken eigener Standpunkte in einem eigenen Blog-Eintrag, Thread
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oder Video.
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3. Andere aktivieren: Die beiden genannten Arten von Teilhabe können in manchen
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Fällen auch darin münden, dass man andere Nutzer gezielt anspricht und zum
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Handeln bewegt. […]

Anmerkungen zum Autor:
Jan-Hinrik Schmidt (1972) erforscht digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) in Hamburg.
Aus: Schmidt, Jan-Hinrik: Zwischen Partizipationsversprechen und Algorithmenmacht. Wie soziale Medien politisches Handeln prägen. Hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Erfurt 2022, S. 49f.
Material 2
Facebook, Twitter und Co. Social Media – Fluch und Segen zugleich. Zusammenfassung eines Radiointerviews des Deutschlandfunk Kultur mit der Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan (2020)
Nikita Dhawan
1
Es sei wichtig, die Geschichte des öffentlichen Raumes zu kennen, um den Kontext
2
zu verstehen, sagt Dhawan. Die sozialen Medien seien ein virtueller öffentlicher Raum.
3
Der Aufstieg des öffentlichen Raumes in Europa sei grundsätzlich eng mit dem Auf-
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stieg der europäischen Aufklärung verbunden. Ein Beispiel seien die Kaffeehäuser, in
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denen sich die Männer des Bürgertums trafen, um über wichtige Themen zu diskutie-
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ren, was einen großen Einfluss für die Entstehung der Demokratie in Europa gehabt
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habe. Aus Sicht des Philosophen Jürgen Habermas sei der öffentliche Raum dadurch
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zu einer wichtigen Infrastruktur für die Aufklärung geworden. […]
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Der heutige virtuelle und digitale öffentliche Raum sei sehr viel demokratischer als
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seine Vorläufer. Doch obwohl er zugänglicher sei, seien immer noch ausschließende
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Mechanismen vorhanden. Einerseits würde dieser neue öffentliche Raum Möglichkei-
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ten des Austausches schaffen, auf der anderen Seite aber auch die Reproduktion von
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Hate Speech, Antisemitismus, Rassismus und Sexismus ermöglichen. Dies mache
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Social-Media-Plattformen zu einer Art „Pharmakon“, das gleichzeitig Gift, Gegengift
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und auch Medizin sein könne.
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Dhawan beschreibt das so: „Ich denke, einer der Vorteile von Plattformen wie Twitter,
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Instagram und Facebook ist, dass sich dort sehr viele Menschen schnell mobilisieren
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lassen. Traditionelle Formen der Berichterstattung können zwar auch eine breitere Öf-
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fentlichkeit erreichen, aber nur mit Einschränkungen. Nehmen wir das Beispiel Zei-
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tungen: Das Publikum muss sich Zeitungen leisten können, […] es muss die Zeit haben,
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die Zeitung zu lesen. […] Deshalb sagen viele Experten, dass die sozialen Plattformen
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schnell ein großes Publikum erreichen. Es wird aber auch darüber diskutiert, ob diese
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Form der Berichterstattung nicht auch zu oberflächlich ist.“
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Darum fordert Dhawan, dass es Möglichkeiten geben sollte, diese schnelle Mobilisie-
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rung und den Ideenaustausch in sozialen Netzen mit detaillierterer und nuancierterer
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Berichterstattung zu unterfüttern. Ein ermutigendes Ereignis, das Dhawan momentan
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in den sozialen Medien beobachtet, seien die Solidaritätsbekundungen nach dem Tod
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George Floyds. Diese zeigten, dass die Welt dem Schmerz und dem Leid anderer
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nicht gleichgültig gegenübersteht. Wir hätten eine globale Öffentlichkeit, die die Idee
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lebt, dass wir alle im selben Boot sitzen und Gewalt gegen eine Person nicht toleriert
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wird, meint die Politologin. […]
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Dhawan ist allerdings weniger optimistisch, dass die aktuellen Proteste in den USA
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schnell zu Änderungen im System führen könnten: „Ich glaube, dass alle, die gerade
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die Ereignisse verfolgen oder sich daran beteiligen, hoffen, dass diese eine Reform
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des Systems, wenn nicht gar eine Revolution auslösen werden. Aber wir wissen auch,
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wie schwer es ist, Strukturen wirklich zu verändern. […] Eine grundlegende Reform
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und Transformation, ganz egal, ob es um das Rechtssystem oder um soziale Bezie-
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hungen geht, ist ein schmerzlichst langsamer Prozess.“

Anmerkungen zur Autorin:
Nikita Dhawan (*1972) ist Politikwissenschaftlerin. Seit 2021 ist sie Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden.
Aus: Deutschlandfunk Kultur (06.06.2020): Facebook, Twitter und Co. Social Media – Fluch und Segen zugleich.
Material 3
Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik (2022)
Jürgen Habermas
1
Für die Medienstruktur der Öffentlichkeit ist dieser Plattformcharakter das eigentlich
2
Neue an den neuen Medien. Denn damit entledigen sie sich auf der einen Seite jener
3
produktiven Rolle der journalistischen Vermittlung und Gestaltung von Programmen,
4
die die alten Medien wahrnahmen; insofern sind die neuen Medien keine „Medien“ im
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bisherigen Sinne. Sie verändern auf radikale Weise das bisher in der Öffentlichkeit
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vorherrschende Kommunikationsmuster. Denn sie ermächtigen alle potentiellen Nut-
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zer prinzipiell zu selbstständigen und gleichberechtigten Autoren. Die „neuen“ unter-
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scheiden sich von den traditionellen Medien dadurch, dass sich digitale Unternehmen
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diese Technologien zunutze machen, um den potentiellen Nutzern die unbegrenzten
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digitalen Vernetzungsmöglichkeiten wie leere Schrifttafeln für eigene kommunikative
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Inhalte anzubieten. Sie sind nicht wie die klassischen Nachrichtendienste oder Ver-
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lage, wie Presse, Radio oder Fernsehen für eigene „Programme“ verantwortlich, also
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für kommunikative Inhalte, die professionell hergestellt und redaktionell gefiltert sind.
14
[…]
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Programmsendungen stellen eine lineare und einseitige Verbindung zwischen einem
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Sender und vielen potentiellen Empfängern her; beide Seiten begegnen sich in ver-
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schiedenen Rollen, nämlich als öffentlich identifizierbare oder bekannte, für ihre Ver-
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öffentlichungen verantwortliche Produzenten, Redakteure und Autoren auf der einen,
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als anonymes Publikum von Lesern, Hörern oder Zuschauern auf der anderen Seite.
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Demgegenüber stellen Plattformen eine vielseitig vernetzungs­offene kommunikative
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Verbindung für den spontanen Austausch möglicher Inhalte zwischen potentiell vielen
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Nutzern her. Diese unterscheiden sich nicht schon aufgrund des Mediums in ihren Rol-
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len voneinander; sie begegnen sich vielmehr als prinzipiell gleiche und selbst verant-
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wortliche Teilnehmer am kommunikativen Austausch zu spontan gewählten Themen.
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Die dezentralisierte Verbindung zwischen diesen Mediennutzern ist im Unterschied zu
26
der asymmetrischen Beziehung zwischen Programmsendern und Empfängern grund-
27
sätzlich reziprok, aber wegen der fehlenden professionellen Schleusen inhaltlich un-
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geregelt. Der egalitäre und unregulierte Charakter der Beziehungen zwischen den
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Beteiligten und die gleichmäßige Autorisierung der Nutzer zu eigenen spontanen Bei-
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trägen bilden das Kommunikationsmuster, das die neuen Medien ursprünglich aus-
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zeichnen sollte. Dieses große emanzipatorische Versprechen wird heute zumindest
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partiell von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echo-
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räumen übertönt.
34
Aus dem neuen Kommunikationsmuster haben sich zwei für die strukturelle Verände-
35
rung der Öffentlichkeit bemerkenswerte Effekte ergeben. Zunächst schien sich der
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egalitär-universalistische Anspruch der bürgerlichen Öffentlichkeit auf gleichberech-
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tigte Inklusion aller Bürger in Gestalt der neuen Medien endlich zu erfüllen. Diese Me-
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dien würden allen Bürgern eine eigene öffentlich wahrnehmbare Stimme und dieser
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Stimme sogar mobilisierende Kraft verleihen. Sie würden die Nutzer aus der rezeptiven
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Rolle von Adressaten, die zwischen einer begrenzten Anzahl von Programmen wäh-
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len, befreien und jedem Einzelnen die Chance geben, sich im anarchischen Austausch
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spontaner Meinungen Gehör zu verschaffen. Aber die Lava dieses zugleich antiutopi-
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tären und egalitären Potentials, die im kalifornischen Gründergeist der frühen Jahre
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noch zu spüren war, ist im Silicon Valley alsbald zur libertären Grimasse weltbeherr-
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schender Digitalkonzerne erstarrt. Und das weltweite Organisationspotential, das die
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neuen Medien bieten, dient rechtsradikalen Netzwerken ebenso wie den tapferen bela-
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russischen Frauen in ihrem ausdauernden Protest gegen Lukaschenko. Die Selbst-
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ermächtigung der Mediennutzer ist der eine Effekt; der andere ist der Preis, den diese
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für die Entlassung aus der redaktionellen Vormundschaft der alten Medien bezahlen,
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solange sie den Umgang mit den neuen Medien noch nicht hinreichend gelernt haben.
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Wie der Buchdruck alle zu potentiellen Lesern gemacht hatte, so macht die Digitalisie-
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rung heute alle zu potentiellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen
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gelernt hatten? […]

Anmerkungen zum Autor:
Jürgen Habermas (*1929) ist Philosoph und Soziologe.
Aus: Habermas, Jürgen: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp Verlag 2022, S. 44–46.
Material 4
Die große Gereiztheit (2018)
Bernhard Pörksen
1
[…] Aber tatsächlich belegen Befragungen, dass die Beleidigungen und Belästigungen
2
im Netz weit verbreitet sind. 73 Prozent der erwachsenen Internetnutzer geben an,
3
jemanden zu kennen, der online bedroht wurde. 40 Prozent haben selbst solche Be-
4
drohungserfahrungen gemacht. […] Dass solche Erlebnisse im offenen Kommunikati-
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onsraum der digitalen Welt einschüchtern, ist evident.
6
Vor diesem Hintergrund lohnt sich grundsätzlich und unabhängig von konkreten Reiz-
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themen die Frage, was Auseinandersetzungen und Debatten entgleisen lässt. Was
8
vergiftet sie? Was treibt sie in eine ungesunde Überhitzung und Polarisierung hinein?
9
Zum einen ist es ein Gefühl der Anonymität, das enthemmt, wie der Psychologe John
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Suler gezeigt hat. Er unterscheidet zwei Formen der Enthemmung, die gutartige und
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die toxische. In positiver Hinsicht erlaubt die Kommunikation unter dem Deckmantel
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der Anonymität, sich vorsichtig, gleichsam tastend über eigene Sehnsüchte klar zu
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werden, die sexuelle Identität, den Wunsch nach einem anderen Leben, was auch im-
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mer. Im Negativen senkt anonyme bzw. pseudonyme Kommunikation die Hemm-
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schwellen bei der Verbalattacke, weil man – häufig irrtümlich – glaubt, man könne nicht
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verfolgt und auch nicht verantwortlich gemacht werden für das Gesagte; die Aggressi-
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onsabfuhr sei also risikolos möglich. Hinzu kommt, dass das Gegenüber zumeist nicht
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sichtbar ist und oft nonverbale, Empathie fördernde Signale und unmittelbare, zeitnahe
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Reaktionen fehlen, die greifbar werden lassen, welchen Schmerz man einem anderen
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gerade zufügt. […]
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Zum anderen aber, auch das gehört zu den Bedingungen, die das Diskursklima beein-
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trächtigen, taugt die Netzöffentlichkeit grundsätzlich als Instrument und Katalysator
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der aggressiven Polarisierung – frei nach dem Motto des Medientheoretikers Marshall
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McLuhan: Das Medium radikalisiert die Botschaft. Denn nun können sich auch die
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einst Marginalisierten mit Gleichgesinnten verbunden und eine hemmende Isolations-
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furcht überwunden, die sie zuvor noch blockiert und eingeschüchtert haben mag. Und
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wer will, bekommt in der Epochen­demokratie der Gegenwart für jede Idee ein Forum
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bzw. schafft sich dieses selbst. Auch der gerade noch einsam vor sich hin rasende
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Wutbürger findet nun blitzschnell Bestätigung und scheinbar gute Gründe für die ei-
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gene Erregung – ohne dass diese Beweise und Bestätigungen notwendigerweise die
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Art offiziellen Glaubwürdigkeits- und Realitätsfilter der klassischen Mediendemokratie
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passiert haben müssten. […]

Anmerkungen zum Autor:
Bernhard Pörksen (* 1969) ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.
Aus: Pörksen, Bernhard: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Carl Hanser Verlag ²2018, S. 76–78.
Material 5
Umfrageergebnisse aus der JIM-Studie (2023)

Abbildung


Aus: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2023, S. 52. 26.12.2023.
Material 6
„Dialog ist die Mutter der Demokratie“. Auszug aus einem Interview mit dem Politikwissenschaftler Roland Roth (2019)

1
Dialog ist einer der Schlüsselbegriffe, wenn von Demokratie und Bürgerbeteiligung die
2
Rede ist. Was ist in diesem Kontext mit Dialog gemeint?
3
Roland Roth: Dialog ist der Austausch von Meinungen, von Ideen und Vorstellungen,
4
die sich im Gespräch entwickeln und verändern können. Dialog ist das Grundprinzip
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demokratischer Verständigung. Dialog setzt Empathie voraus, Dialog bedeutet, sich
6
auf die Perspektiven des anderen einzulassen. Wenn das gelingt, kann es sein, dass
7
man die eigenen Präferenzen und Vorstellungen verändert.
8
Wie steht es um die Dialogfähigkeit in der Gesellschaft?
9
Der Dialog ist zu einem knappen Gut geworden. Das hat auch mit veränderten Arbeits-
10
prozessen zu tun, die immer weniger auf Dialoge, auf Gespräche, auf Zusammenarbeit
11
mit anderen Menschen angewiesen sind. Eine weitere Quelle ist die Mediatisierung in
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dem Sinne, dass Dialoge und Gespräche immer stärker medienvermittelt sind. Das
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hängt auch mit der Ausbreitung der neuen sozialen Medien oder eher „unsozialen“
14
Medien zusammen. Heute ersetzen alle möglichen Formen der Internet-Kommunika
15
tion zunehmend das direkte Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Dadurch gehen
16
zentrale demokratische Qualitäten verloren, zum Beispiel der Aufbau von Vertrauen
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das für politische Kontexte besonders wichtig ist. Ich kann Vertrauen nur mit Menschen
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und zu Menschen entwickeln, wenn ich direkt mit ihnen kommuniziere. Ich kann das
19
nicht abstrakt in irgendeinem medialen Zusammenhang tun, in dem Wut-Kommunika-
20
tion, Vorurteile oder Vorbehalte dominieren.
21
Es ist zentral für die demokratische Qualität des Dialogs, gute Argumente für die ei-
22
gene Perspektive, für die eigenen Vorschläge zu liefern, aber auch die Bereitschaft
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mitzubringen, nicht nur Meinungen auszutauschen und nicht nur ja oder nein zu ir
24
gendeiner Ansicht zu sagen, sondern sich genauer anzuhören: Weshalb ist die oder
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der Betreffende denn ganz anderer Ansicht als man selber? Dialog ist die Mutter der
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Demokratie. Je knapper diese Ressource im demokratischen Prozess ist, desto gerin-
27
ger ist die demokratische Qualität.
28
Was ist notwendig, um Dialoge führen zu können, welche Kompetenzen und Ressour
29
cen sind dafür nötig?
30
Man muss den Dialog im Grunde genommen von klein auf lernen. Beteiligungspro-
31
zesse, in Kitas, in Kinderstuben aller Art, in der Familie, sind dafür notwendige Lern-
32
orte. Sich eine Meinung zu bilden, sie auch in der Auseinandersetzung begründen und
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andere überzeugen zu können, diese Grunderfahrung zu stärken, ist wesentlich. Weil
34
sie auch bedeutet: Ich nehme mich selber ernst und werde ernstgenommen. Aber
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auch: Du bist mir wichtig genug, Dir zuzuhören, und ich gehe davon aus, dass Du
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etwas zu sagen hast, was für mich Bedeutung hat. Und von daher ist es sehr wichtig,
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Orte zu schaffen, an denen das möglich ist. Und das umso mehr, je heterogener und
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vielfältiger unsere Gesellschaften werden.


Anmerkungen zum Autor:
Roland Roth (* 1949) ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft.
Aus: Dialog ist die Mutter der Demokratie. Interview mit Roland Roth. In: mitarbeiten. Informationen der Stiftung Mitarbeit 3 (2019), S. 2 f. 26.12.2023

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