Achtes Kapitel
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      Kaufmann Block – Kündigung des Advokaten
     
    
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      Endlich hatte sich K. doch entschlossen, dem Advokaten seine
     
    
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      Vertretung zu entziehen. Zweifel daran, ob es richtig war, so zu handeln,
     
    
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      waren zwar nicht auszurotten, aber die Überzeugung von der Notwendigkeit
     
    
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      dessen überwog. Die Entschließung hatte K. an dem Tage, an dem er zum
     
    
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      Advokaten gehen wollte, viel Arbeitskraft entzogen, er arbeitete besonders
     
    
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      langsam, er mußte sehr lange im Büro bleiben, und es war schon zehn Uhr
     
    
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      vorüber, als er endlich vor der Tür des Advokaten stand. Noch ehe er
     
    
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      läutete, überlegte er, ob es nicht besser wäre, dem Advokaten telephonisch
     
    
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      oder brieflich zu kündigen, die persönliche Unterredung würde gewiß sehr
     
    
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      peinlich werden. Trotzdem wollte K. schließlich auf sie nicht verzichten, bei
     
    
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      jeder anderen Art der Kündigung würde diese stillschweigend oder mit ein
     
    
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      paar förmlichen Worten angenommen werden, und K. würde, wenn nicht
     
    
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      etwa Leni einiges erforschen könnte, niemals erfahren, wie der Advokat die
     
    
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      Kündigung aufgenommen hatte und was für Folgen für K. diese Kündigung
     
    
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      nach der nicht unwichtigen Meinung des Advokaten haben könnte. Saß
     
    
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      aber der Advokat K. gegenüber und wurde er von der Kündigung
     
    
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      überrascht, so würde K., selbst wenn der Advokat sich nicht viel entlocken
     
    
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      ließ, aus seinem Gesicht und seinem Benehmen alles, was er wollte, leicht
     
    
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      entnehmen können. Es war sogar nicht ausgeschlossen, daß er überzeugt
     
    
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      wurde, daß es doch gut wäre, dem Advokaten die Verteidigung zu
     
    
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      überlassen und daß er dann seine Kündigung zurückzog.
     
    
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      Das erste Läuten an der Tür des Advokaten war, wie gewöhnlich,
     
    
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      zwecklos. »Leni könnte flinker sein«, dachte K. Aber es war schon ein
     
    
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      Vorteil, wenn sich nicht die andere Partei einmischte, wie sie es gewöhnlich
     
    
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      tat, sei es, daß der Mann im Schlafrock oder sonst jemand zu belästigen
     
    
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      anfing. Während K. zum zweitenmal den Knopf drückte, sah er nach der
     
    
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      anderen Tür zurück, diesmal aber blieb auch sie geschlossen. Endlich
     
    
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      erschienen an dem Guckfenster der Tür des Advokaten zwei Augen, es
     
    
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      waren aber nicht Lenis Augen. Jemand schloß die Tür auf, stemmte sich
     
    
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      aber vorläufig noch gegen sie, rief in die Wohnung zurück: »Er ist es!« und
     
    
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      öffnete erst dann vollständig. K. hatte gegen die Tür gedrängt, denn schon
     
    
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      hörte er, wie hinter ihm in der Tür der anderen Wohnung der Schlüssel
     
    
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      hastig im Schloß gedreht wurde. Als sich daher die Tür vor ihm endlich
     
    
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      öffnete, stürmte er geradezu ins Vorzimmer und sah noch, wie durch den
     
    
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      Gang, der zwischen den Zimmern hindurchführte, Leni, welcher der
     
    
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      Warnungsruf des Türöffners gegolten hatte, im Hemd davonlief. Er blickte
     
    
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      ihr ein Weilchen nach und sah sich dann nach dem Türöffner um. Es war
     
    
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      ein kleiner, dürrer Mann mit Vollbart, er hielt eine Kerze in der Hand. »Sie
     
    
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      sind hier angestellt?« fragte K. »Nein«, antwortete der Mann, »ich bin hier
     
    
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      fremd, der Advokat ist nur mein Vertreter, ich bin hier wegen einer
     
    
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      Rechtsangelegenheit.« »Ohne Rock?« fragte K. und zeigte mit einer
     
    
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      Handbewegung auf die mangelhafte Bekleidung des Mannes. »Ach,
     
    
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      verzeihen Sie!« sagte der Mann und beleuchtete sich selbst mit der Kerze,
     
    
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      als sähe er selbst zum erstenmal seinen Zustand. »Leni ist Ihre Geliebte?«
     
    
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      fragte K. kurz. Er hatte die Beine ein wenig gespreizt, die Hände, in denen
     
    
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      er den Hut hielt, hinten verschlungen. Schon durch den Besitz eines
     
    
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      starken Überrocks fühlte er sich dem mageren Kleinen sehr überlegen. »O
     
    
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      Gott«, sagte der und hob die eine Hand in erschrockener Abwehr vor das
     
    
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      Gesicht, »nein, nein, was denken Sie denn?« »Sie sehen glaubwürdig aus«,
     
    
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      sagte K. lächelnd, »trotzdem kommen Sie.« Er winkte ihm mit dem Hut und
     
    
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      ließ ihn vor sich gehen. »Wie heißen Sie denn?« fragte K. auf dem Weg.
     
    
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      »Block, Kaufmann Block«, sagte der Kleine und drehte sich bei dieser
     
    
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      Vorstellung nach K. um, stehenbleiben ließ ihn aber K. nicht. »Ist das Ihr
     
    
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      wirklicher Name?« fragte K. »Gewiß«, war die Antwort, »warum haben Sie
     
    
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      denn Zweifel?« »Ich dachte, Sie könnten Grund haben, Ihren Namen zu
     
    
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      verschweigen«, sagte K. Er fühlte sich so frei, wie man es sonst nur ist,
     
    
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      wenn man in der Fremde mit niedrigen Leuten spricht, alles, was einen
     
    
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      selbst betrifft, bei sich behält, nur gleichmütig von den Interessen der
     
    
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      anderen redet, sie dadurch vor sich selbst erhöht, aber auch nach Belieben
     
    
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      fallen lassen kann. Bei der Tür des Arbeitszimmers des Advokaten blieb K.
     
    
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      stehen, öffnete sie und rief dem Kaufmann, der folgsam weitergegangen
     
    
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      war, zu: »Nicht so eilig! Leuchten Sie hier!« K. dachte, Leni könnte sich hier
     
    
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      versteckt haben, er ließ den Kaufmann alle Winkel absuchen, aber das
     
    
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      Zimmer war leer. Vor dem Bild des Richters hielt K. den Kaufmann hinten
     
    
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      an den Hosenträgern zurück. »Kennen Sie den?« fragte er und zeigte mit
     
    
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      dem Zeigefinger in die Höhe. Der Kaufmann hob die Kerze, sah blinzelnd
     
    
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      hinauf und sagte: »Es ist ein Richter.« »Ein hoher Richter?« fragte K. und
     
    
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      stellte sich seitlich vor den Kaufmann, um den Eindruck, den das Bild auf
     
    
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      ihn machte, zu beobachten. Der Kaufmann sah bewundernd aufwärts. »Es
     
    
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      ist ein hoher Richter«, sagte er. »Sie haben keinen großen Einblick«, sagte
     
    
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      K. »Unter den niedrigen Untersuchungsrichtern ist er der niedrigste.« »Nun
     
    
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      erinnere ich mich«, sagte der Kaufmann und senkte die Kerze, »ich habe es
     
    
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      auch schon gehört.« »Aber natürlich«, rief K., »ich vergaß ja, natürlich
     
    
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      müssen Sie es schon gehört haben.« »Aber warum denn, warum denn?«
     
    
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      fragte der Kaufmann, während er sich, von K. mit den Händen angetrieben,
     
    
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      zur Tür fortbewegte. Draußen auf dem Gang sagte K.: »Sie wissen doch, wo
     
    
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      sich Leni versteckt hat?« »Versteckt?« sagte der Kaufmann, »nein, sie
     
    
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      dürfte aber in der Küche sein und dem Advokaten eine Suppe kochen.«
     
    
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      »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« fragte K. »Ich wollte Sie ja
     
    
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      hinführen, Sie haben mich aber wieder zurückgerufen«, antwortete der
     
    
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      Kaufmann, wie verwirrt durch die widersprechenden Befehle. »Sie glauben
     
    
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      wohl sehr schlau zu sein«, sagte K., »führen Sie mich also!« In der Küche
     
    
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      war K. noch nie gewesen, sie war überraschend groß und reich
     
    
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      ausgestattet. Allein der Herd war dreimal so groß wie gewöhnliche Herde,
     
    
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      von dem übrigen sah man keine Einzelheiten, denn die Küche wurde jetzt
     
    
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      nur von einer kleinen Lampe beleuchtet, die beim Eingang hing. Am Herd
     
    
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      stand Leni in weißer Schürze, wie immer, und leerte Eier in einen Topf aus,
     
    
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      der auf einem Spiritusfeuer stand. »Guten Abend, Josef«, sagte sie mit
     
    
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      einem Seitenblick. »Guten Abend«, sagte K. und zeigte mit einer Hand auf
     
    
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      einen abseits stehenden Sessel, auf den sich der Kaufmann setzen sollte,
     
    
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      was dieser auch tat. K. aber ging ganz nahe hinter Leni, beugte sich über
     
    
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      ihre Schulter und fragte: »Wer ist der Mann?« Leni umfaßte K. mit einer
     
    
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      Hand, die andere quirlte die Suppe, zog ihn nach vorn zu sich und sagte:
     
    
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      »Es ist ein bedauernswerter Mensch, ein armer Kaufmann, ein gewisser
     
    
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      Block. Sieh ihn nur an.« Sie blickten beide zurück. Der Kaufmann saß auf
     
    
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      dem Sessel, auf den ihn K. gewiesen hatte, er hatte die Kerze, deren Licht
     
    
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      jetzt unnötig war, ausgepustet und drückte mit den Fingern den Docht, um
     
    
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      den Rauch zu verhindern. »Du warst im Hemd«, sagte K. und wendete ihren
     
    
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      Kopf mit der Hand wieder dem Herd zu. Sie schwieg. »Er ist dein
     
    
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      Geliebter?« fragte K. Sie wollte nach dem Suppentopf greifen, aber K. nahm
     
    
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      ihre beiden Hände und sagte: »Nun antworte!«. Sie sagte: »Komm ins
     
    
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      Arbeitszimmer, ich werde dir alles erklären.« »Nein«, sagte K., »ich will, daß
     
    
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      du es hier erklärst.« Sie hing sich an ihn und wollte ihn küssen. K. wehrte
     
    
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      sie aber ab und sagte: »Ich will nicht, daß du mich jetzt küßt.« »Josef«,
     
    
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      sagte Leni und sah K. bittend und doch offen in die Augen, »du wirst doch
     
    
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      nicht auf Herrn Block eifersüchtig sein. – Rudi«, sagte sie dann, sich an den
     
    
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      Kaufmann wendend, »so hilf mir doch, du siehst, ich werde verdächtigt, laß
     
    
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      die Kerze.« Man hätte denken können, er hätte nicht achtgegeben, aber er
     
    
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      war vollständig eingeweiht. »Ich wüßte auch nicht, warum Sie eifersüchtig
     
    
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      sein sollten«, sagte er wenig schlagfertig. »Ich weiß es eigentlich auch
     
    
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      nicht«, sagte K. und sah den Kaufmann lächelnd an. Leni lachte laut,
     
    
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      benützte die Unaufmerksamkeit K.s, um sich in seinen Arm einzuhängen,
     
    
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      und flüsterte: »Laß ihn jetzt, du siehst ja, was für ein Mensch er ist. Ich
     
    
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      habe mich seiner ein wenig angenommen, weil er eine große Kundschaft
     
    
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      des Advokaten ist, aus keinem andern Grund. Und du? Willst du noch
     
    
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      heute mit dem Advokaten sprechen? Er ist heute sehr krank, aber wenn du
     
    
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      willst, melde ich dich doch an. Über Nacht bleibst du aber bei mir, ganz
     
    
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      gewiß. Du warst auch schon so lange nicht bei uns, selbst der Advokat hat
     
    
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      nach dir gefragt. Vernachlässige den Prozeß nicht! Auch ich habe dir
     
    
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      Verschiedenes mitzuteilen, was ich erfahren habe. Nun aber zieh fürs erste
     
    
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      deinen Mantel aus!« Sie half ihm, sich auszuziehen, nahm ihm den Hut ab,
     
    
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      lief mit den Sachen ins Vorzimmer, sie anzuhängen, lief dann wieder zurück
     
    
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      und sah nach der Suppe. »Soll ich zuerst dich anmelden oder ihm zuerst
     
    
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      die Suppe bringen?« »Melde mich zuerst an«, sagte K. Er war ärgerlich, er
     
    
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      hatte ursprünglich beabsichtigt, mit Leni seine Angelegenheit,
     
    
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      insbesondere die fragliche Kündigung genau zu besprechen, die
     
    
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      Anwesenheit des Kaufmanns hatte ihm aber die Lust dazu genommen.
     
    
     131
     
    
      Jetzt aber hielt er seine Sache doch für zu wichtig, als daß dieser kleine
     
    
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      Kaufmann vielleicht entscheidend eingreifen sollte, und so rief er Leni, die
     
    
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      schon auf dem Gang war, wieder zurück. »Bring ihm doch zuerst die
     
    
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      Suppe«, sagte er, »er soll sich für die Unterredung mit mir stärken, er wird
     
    
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      es nötig haben.« »Sie sind auch ein Klient des Advokaten«, sagte, wie zur
     
    
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      Feststellung, der Kaufmann leise aus seiner Ecke. Es wurde aber nicht gut
     
    
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      aufgenommen. »Was kümmert Sie denn das?« sagte K., und Leni sagte.
     
    
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      »Wirst du still sein. – Dann bringe ich ihm also zuerst die Suppe«, sagte
     
    
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      Leni zu K. und goß die Suppe auf einen Teller. »Es ist dann nur zu
     
    
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      befürchten, daß er bald einschläft, nach dem Essen schläft er bald ein.«
     
    
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      »Das, was ich ihm sagen werde, wird ihn wacherhalten«, sagte K., er wollte
     
    
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      immerfort durchblicken lassen, daß er etwas Wichtiges mit dem Advokaten
     
    
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      zu verhandeln beabsichtige, er wollte von Leni gefragt werden, was es sei,
     
    
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      und dann erst sie um Rat fragen. Aber sie erfüllte pünktlich bloß die
     
    
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      ausgesprochenen Befehle. Als sie mit der Tasse an ihm vorüberging, stieß
     
    
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      sie absichtlich sanft an ihn und flüsterte: »Wenn er die Suppe gegessen
     
    
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      hat, melde ich dich gleich an, damit ich dich möglichst bald
     
    
     148
     
    
      wiederbekomme.« »Geh nur«, sagte K., »geh nur.« »Sei doch freundlicher«,
     
    
     149
     
    
      sagte sie und drehte sich in der Tür mit der Tasse nochmals ganz um.
     
    
     150
     
    
      K. sah ihr nach; nun war es endgültig beschlossen, daß der Advokat
     
    
     151
     
    
      entlassen würde, es war wohl auch besser, daß er vorher mit Leni nicht
     
    
     152
     
    
      mehr darüber sprechen konnte; sie hatte kaum den genügenden Überblick
     
    
     153
     
    
      über das Ganze, hätte gewiß abgeraten, hätte möglicherweise K. auch
     
    
     154
     
    
      wirklich von der Kündigung diesmal abgehalten, er wäre weiterhin in
     
    
     155
     
    
      Zweifel und Unruhe geblieben, und schließlich hätte er nach einiger Zeit
     
    
     156
     
    
      seinen Entschluß doch ausgeführt, denn dieser Entschluß war allzu
     
    
     157
     
    
      zwingend. Je früher er aber ausgeführt wurde, desto mehr Schaden wurde
     
    
     158
     
    
      abgehalten. Vielleicht wußte übrigens der Kaufmann etwas darüber zu
     
    
     159
     
    
      sagen.
     
    
     160
     
    
      K. wandte sich um, kaum bemerkte das der Kaufmann, als er sofort
     
    
     161
     
    
      aufstehen wollte. »Bleiben Sie sitzen«, sagte K. und zog einen Sessel
     
    
     162
     
    
      neben ihn. »Sind Sie schon ein alter Klient des Advokaten?« fragte K. »Ja«,
     
    
     163
     
    
      sagte der Kaufmann, »ein sehr alter Klient.« »Wieviel Jahre vertritt er Sie
     
    
     164
     
    
      denn schon?« fragte K. »Ich weiß nicht, wie Sie es meinen«, sagte der
     
    
     165
     
    
      Kaufmann, »in geschäftlichen Rechtsangelegenheiten – ich habe ein
     
    
     166
     
    
      Getreidegeschäft – vertritt mich der Advokat schon, seit ich das Geschäft
     
    
     167
     
    
      übernommen habe, also etwa seit zwanzig Jahren, in meinem eigenen
     
    
     168
     
    
      Prozeß, auf den Sie wahrscheinlich anspielen, vertritt er mich auch seit
     
    
     169
     
    
      Beginn, es ist schon länger als fünf Jahre. Ja, weit über fünf Jahre«, fügte
     
    
     170
     
    
      er dann hinzu und zog eine alte Brieftasche hervor, »hier habe ich alles
     
    
     171
     
    
      aufgeschrieben; wenn Sie wollen, sage ich Ihnen die genauen Daten. Es ist
     
    
     172
     
    
      schwer, alles zu behalten. Mein Prozeß dauert wahrscheinlich schon viel
     
    
     173
     
    
      länger, er begann kurz nach dem Tod meiner Frau, und das ist schon länger
     
    
     174
     
    
      als fünfeinhalb Jahre.« K. rückte näher zu ihm. »Der Advokat übernimmt
     
    
     175
     
    
      also auch gewöhnliche Rechtssachen?« fragte er. Diese Verbindung der
     
    
     176
     
    
      Gerichte und Rechtswissenschaften schien K. ungemein beruhigend.
     
    
     177
     
    
      »Gewiß«, sagte der Kaufmann und flüsterte dann K. zu: »Man sagt sogar,
     
    
     178
     
    
      daß er in diesen Rechtssachen tüchtiger ist als in den anderen.« Aber dann
     
    
     179
     
    
      schien er das Gesagte zu bereuen, er legte K. eine Hand auf die Schulter
     
    
     180
     
    
      und sagte: »Ich bitte Sie sehr, verraten Sie mich nicht.« K. klopfte ihm zur
     
    
     181
     
    
      Beruhigung auf den Schenkel und sagte: »Nein, ich bin kein Verräter.« »Er
     
    
     182
     
    
      ist nämlich rachsüchtig«, sagte der Kaufmann. »Gegen einen so treuen
     
    
     183
     
    
      Klienten wird er gewiß nichts tun«, sagte K. »O doch«, sagte der Kaufmann,
     
    
     184
     
    
      »wenn er aufgeregt ist, kennt er keine Unterschiede, übrigens bin ich ihm
     
    
     185
     
    
      nicht eigentlich treu.« »Wieso denn nicht?« fragte K. »Soll ich es Ihnen
     
    
     186
     
    
      anvertrauen?« fragte der Kaufmann zweifelnd. »Ich denke, Sie dürfen es«,
     
    
     187
     
    
      sagte K. »Nun«, sagte der Kaufmann, »ich werde es Ihnen zum Teil
     
    
     188
     
    
      anvertrauen, Sie müssen mir aber auch ein Geheimnis sagen, damit wir uns
     
    
     189
     
    
      gegenüber dem Advokaten gegenseitig festhalten.« »Sie sind sehr
     
    
     190
     
    
      vorsichtig«, sagte K., »aber ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen, das Sie
     
    
     191
     
    
      vollständig beruhigen wird. Worin besteht also Ihre Untreue gegenüber
     
    
     192
     
    
      dem Advokaten?« »Ich habe«, sagte der Kaufmann zögernd und in einem
     
    
     193
     
    
      Ton, als gestehe er etwas Unehrenhaftes ein, »ich habe außer ihm noch
     
    
     194
     
    
      andere Advokaten.« »Das ist doch nichts so Schlimmes«, sagte K., ein
     
    
     195
     
    
      wenig enttäuscht. »Hier ja«, sagte der Kaufmann, der noch seit seinem
     
    
     196
     
    
      Geständnis schwer atmete, infolge K.s Bemerkung aber mehr Vertrauen
     
    
     197
     
    
      faßte. »Es ist nicht erlaubt. Und am allerwenigsten ist es erlaubt, neben
     
    
     198
     
    
      einem sogenannten Advokaten auch noch Winkeladvokaten zu nehmen.
     
    
     199
     
    
      Und gerade das habe ich getan, ich habe außer ihm noch fünf
     
    
     200
     
    
      Winkeladvokaten.« »Fünf!« rief K., erst die Zahl setzte ihn in Erstaunen,
     
    
     201
     
    
      »fünf Advokaten außer diesem?« Der Kaufmann nickte: »Ich verhandle
     
    
     202
     
    
      gerade noch mit einem sechsten.« »Aber wozu brauchen Sie denn soviel
     
    
     203
     
    
      Advokaten?« fragte K. »Ich brauche alle«, sagte der Kaufmann. »Wollen Sie
     
    
     204
     
    
      mir das nicht erklären?« fragte K. »Gern«, sagte der Kaufmann. »Vor allem
     
    
     205
     
    
      will ich doch meinen Prozeß nicht verlieren, das ist doch
     
    
     206
     
    
      selbstverständlich. Infolgedessen darf ich nichts, was mir nützen könnte,
     
    
     207
     
    
      außer acht lassen; selbst wenn die Hoffnung auf Nutzen in einem
     
    
     208
     
    
      bestimmten Falle nur ganz gering ist, darf ich sie auch nicht verwerfen. Ich
     
    
     209
     
    
      habe deshalb alles, was ich besitze, auf den Prozeß verwendet. So habe ich
     
    
     210
     
    
      zum Beispiel alles Geld meinem Geschäft entzogen, früher füllten die
     
    
     211
     
    
      Büroräume meines Geschäfts fast ein Stockwerk, heute genügt eine kleine
     
    
     212
     
    
      Kammer im Hinterhaus, wo ich mit einem Lehrjungen arbeite. Diesen
     
    
     213
     
    
      Rückgang hat natürlich nicht nur die Entziehung des Geldes verschuldet,
     
    
     214
     
    
      sondern mehr noch die Entziehung meiner Arbeitskraft. Wenn man für
     
    
     215
     
    
      seinen Prozeß etwas tun will, kann man sich mit anderem nur wenig
     
    
     216
     
    
      befassen.« »Sie arbeiten also auch selbst bei Gericht?« fragte K. »Gerade
     
    
     217
     
    
      darüber möchte ich gern etwas erfahren.« »Darüber kann ich nur wenig
     
    
     218
     
    
      berichten«, sagte der Kaufmann, »anfangs habe ich es wohl auch versucht,
     
    
     219
     
    
      aber ich habe bald wieder davon abgelassen. Es ist zu erschöpfend und
     
    
     220
     
    
      bringt nicht viel Erfolg. Selbst dort zu arbeiten und zu unterhandeln, hat
     
    
     221
     
    
      sich wenigstens für mich als ganz unmöglich erwiesen. Es ist ja dort schon
     
    
     222
     
    
      das bloße Sitzen und Warten eine große Anstrengung. Sie kennen ja selbst
     
    
     223
     
    
      die schwere Luft in den Kanzleien.« »Wieso wissen Sie denn, daß ich dort
     
    
     224
     
    
      war?« fragte K. »Ich war gerade im Wartezimmer, als Sie durchgingen.«
     
    
     225
     
    
      »Was für ein Zufall das ist!« rief K., ganz hingenommen und die frühere
     
    
     226
     
    
      Lächerlichkeit des Kaufmanns ganz vergessend. »Sie haben mich also
     
    
     227
     
    
      gesehen! Sie waren im Wartezimmer, als ich durchging. Ja, ich bin dort
     
    
     228
     
    
      einmal durchgegangen.« »Es ist kein so großer Zufall«, sagte der
     
    
     229
     
    
      Kaufmann, »ich bin dort fast jeden Tag.« »Ich werde nun wahrscheinlich
     
    
     230
     
    
      auch öfters hingehen müssen«, sagte K., »nur werde ich wohl kaum mehr
     
    
     231
     
    
      so ehrenvoll aufgenommen werden wie damals. Alle standen auf. Man
     
    
     232
     
    
      dachte wohl, ich sei ein Richter.« »Nein«, sagte der Kaufmann, »wir grüßten
     
    
     233
     
    
      damals den Gerichtsdiener. Daß Sie ein Angeklagter sind, das wußten wir.
     
    
     234
     
    
      Solche Nachrichten verbreiten sich sehr rasch.« »Das wußten Sie also
     
    
     235
     
    
      schon«, sagte K., »dann erschien Ihnen aber mein Benehmen vielleicht
     
    
     236
     
    
      hochmütig. Sprach man sich nicht darüber aus?« »Nein«, sagte der
     
    
     237
     
    
      Kaufmann, »im Gegenteil. Aber das sind Dummheiten.« »Was für
     
    
     238
     
    
      Dummheiten denn?« fragte K. »Warum fragen Sie danach?« sagte der
     
    
     239
     
    
      Kaufmann ärgerlich. »Sie scheinen die Leute dort noch nicht zu kennen
     
    
     240
     
    
      und werden es vielleicht unrichtig auffassen. Sie müssen bedenken, daß in
     
    
     241
     
    
      diesem Verfahren immer wieder viele Dinge zur Sprache kommen, für die
     
    
     242
     
    
      der Verstand nicht mehr ausreicht, man ist einfach zu müde und abgelenkt
     
    
     243
     
    
      für vieles, und zum Ersatz verlegt man sich auf den Aberglauben. Ich rede
     
    
     244
     
    
      von den anderen, bin aber selbst gar nicht besser. Ein solcher Aberglaube
     
    
     245
     
    
      ist es zum Beispiel, daß viele aus dem Gesicht des Angeklagten,
     
    
     246
     
    
      insbesondere aus der Zeichnung der Lippen, den Ausgang des Prozesses
     
    
     247
     
    
      erkennen wollen. Diese Leute also haben behauptet, Sie würden, nach Ihren
     
    
     248
     
    
      Lippen zu schließen, gewiß und bald verurteilt werden. Ich wiederhole, es
     
    
     249
     
    
      ist ein lächerlicher Aberglaube und in den meisten Fällen durch die
     
    
     250
     
    
      Tatsachen auch vollständig widerlegt, aber wenn man in jener Gesellschaft
     
    
     251
     
    
      lebt, ist es schwer, sich solchen Meinungen zu entziehen. Denken Sie nur,
     
    
     252
     
    
      wie stark dieser Aberglaube wirken kann. Sie haben doch einen dort
     
    
     253
     
    
      angesprochen, nicht? Er konnte Ihnen aber kaum antworten. Es gibt
     
    
     254
     
    
      natürlich viele Gründe, um dort verwirrt zu sein, aber einer davon war auch
     
    
     255
     
    
      der Anblick Ihrer Lippen. Er hat später erzählt, er hätte auf Ihren Lippen
     
    
     256
     
    
      auch das Zeichen seiner eigenen Verurteilung zu sehen geglaubt.« »Meine
     
    
     257
     
    
      Lippen?« fragte K., zog einen Taschenspiegel hervor und sah sich an. »Ich
     
    
     258
     
    
      kann an meinen Lippen nichts Besonderes erkennen. Und Sie?« »Ich auch
     
    
     259
     
    
      nicht«, sagte der Kaufmann, »ganz und gar nicht.« »Wie abergläubisch
     
    
     260
     
    
      diese Leute sind!« rief K. aus. »Sagte ich es nicht?« fragte der Kaufmann.
     
    
     261
     
    
      »Verkehren sie denn soviel untereinander und tauschen sie ihre Meinungen
     
    
     262
     
    
      aus?« sagte K. »Ich habe mich bisher ganz abseits gehalten.« »Im
     
    
     263
     
    
      allgemeinen verkehren sie nicht miteinander«, sagte der Kaufmann, »das
     
    
     264
     
    
      wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame
     
    
     265
     
    
      Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein
     
    
     266
     
    
      gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum.
     
    
     267
     
    
      Gemeinsam läßt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird
     
    
     268
     
    
      für sich untersucht, es ist ja das sorgfältigste Gericht. Gemeinsam kann
     
    
     269
     
    
      man also nichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im
     
    
     270
     
    
      geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es die anderen; keiner weiß,
     
    
     271
     
    
      wie es geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar
     
    
     272
     
    
      hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber dort wird wenig
     
    
     273
     
    
      besprochen. Die abergläubischen Meinungen bestehen schon seit alters
     
    
     274
     
    
      her und vermehren sich förmlich von selbst.« »Ich sah die Herren dort im
     
    
     275
     
    
      Wartezimmer«, sagte K., »ihr Warten kam mir so nutzlos vor.« »Das Warten
     
    
     276
     
    
      ist nicht nutzlos«, sagte der Kaufmann, »nutzlos ist nur das selbständige
     
    
     277
     
    
      Eingreifen. Ich sagte schon, daß ich jetzt außer diesem noch fünf
     
    
     278
     
    
      Advokaten habe. Man sollte doch glauben – ich selbst glaubte es zuerst -,
     
    
     279
     
    
      jetzt könnte ich ihnen die Sache vollständig überlassen. Das wäre aber
     
    
     280
     
    
      ganz falsch. Ich kann sie ihnen weniger überlassen, als wenn ich nur einen
     
    
     281
     
    
      hätte. Sie verstehen das wohl nicht?« »Nein«, sagte K. und legte, um den
     
    
     282
     
    
      Kaufmann an seinem allzu schnellen Reden zu hindern, die Hand
     
    
     283
     
    
      beruhigend auf seine Hand, »ich möchte Sie nur bitten, ein wenig
     
    
     284
     
    
      langsamer zu reden, es sind doch lauter für mich sehr wichtige Dinge, und
     
    
     285
     
    
      ich kann Ihnen nicht recht folgen.« »Gut, daß Sie mich daran erinnern«,
     
    
     286
     
    
      sagte der Kaufmann, »Sie sind ja ein Neuer, ein Junger. Ihr Prozeß ist ein
     
    
     287
     
    
      halbes Jahr alt, nicht wahr? Ja, ich habe davon gehört. Ein so junger
     
    
     288
     
    
      Prozeß! Ich aber habe diese Dinge schon unzähligemal durchgedacht, sie
     
    
     289
     
    
      sind mir das Selbstverständlichste auf der Welt.« »Sie sind wohl froh, daß
     
    
     290
     
    
      Ihr Prozeß schon so weit fortgeschritten ist?« fragte K., er wollte nicht
     
    
     291
     
    
      geradezu fragen, wie die Angelegenheiten des Kaufmanns stünden. Er
     
    
     292
     
    
      bekam aber auch keine deutliche Antwort. »Ja, ich habe meinen Prozeß
     
    
     293
     
    
      fünf Jahre lang fortgewälzt«, sagte der Kaufmann und senkte den Kopf, »es
     
    
     294
     
    
      ist keine kleine Leistung.« Dann schwieg er ein Weilchen. K. horchte, ob
     
    
     295
     
    
      Leni nicht schon komme. Einerseits wollte er nicht, daß sie komme, denn er
     
    
     296
     
    
      hatte noch vieles zu fragen und wollte auch nicht von Leni in diesem
     
    
     297
     
    
      vertraulichen Gespräch mit dem Kaufmann angetroffen werden,
     
    
     298
     
    
      andererseits aber ärgerte er sich darüber, daß sie trotz seiner Anwesenheit
     
    
     299
     
    
      so lange beim Advokaten blieb, viel länger, als zum Reichen der Suppe
     
    
     300
     
    
      nötig war. »Ich erinnere mich noch an die Zeit genau«, begann der
     
    
     301
     
    
      Kaufmann wieder, und K. war gleich voll Aufmerksamkeit, »als mein Prozeß
     
    
     302
     
    
      etwa so alt war wie jetzt Ihr Prozeß. Ich hatte damals nur diesen Advokaten,
     
    
     303
     
    
      war aber nicht sehr mit ihm zufrieden.« Hier erfahre ich ja alles, dachte K.
     
    
     304
     
    
      und nickte lebhaft mit dem Kopf, als könne er dadurch den Kaufmann
     
    
     305
     
    
      aufmuntern, alles Wissenswerte zu sagen. »Mein Prozeß«, fuhr der
     
    
     306
     
    
      Kaufmann fort, »kam nicht vorwärts, es fanden zwar Untersuchungen statt,
     
    
     307
     
    
      ich kam auch zu jeder, sammelte Material, erlegte alle meine
     
    
     308
     
    
      Geschäftsbücher bei Gericht, was, wie ich später erfuhr, nicht einmal nötig
     
    
     309
     
    
      war, ich lief immer wieder zum Advokaten, er brachte auch verschiedene
     
    
     310
     
    
      Eingaben ein –.« »Verschiedene Eingaben?« fragte K. »Ja, gewiß«, sagte
     
    
     311
     
    
      der Kaufmann. »Das ist mir sehr wichtig«, sagte K., »in meinem Fall arbeitet
     
    
     312
     
    
      er noch immer an der ersten Eingabe. Er hat noch nichts getan. Ich sehe
     
    
     313
     
    
      jetzt, er vernachlässigt mich schändlich.« »Daß die Eingabe noch nicht
     
    
     314
     
    
      fertig ist, kann verschiedene berechtigte Gründe haben«, sagte der
     
    
     315
     
    
      Kaufmann. »übrigens hatte es sich bei meinen Eingaben später gezeigt,
     
    
     316
     
    
      daß sie ganz wertlos waren. Ich habe sogar eine durch das
     
    
     317
     
    
      Entgegenkommen eines Gerichtsbeamten selbst gelesen. Sie war zwar
     
    
     318
     
    
      gelehrt, aber eigentlich inhaltlos. Vor allem sehr viel Latein, das ich nicht
     
    
     319
     
    
      verstehe, dann seitenlange allgemeine Anrufungen des Gerichtes, dann
     
    
     320
     
    
      Schmeicheleien für einzelne bestimmte Beamte, die zwar nicht genannt
     
    
     321
     
    
      waren, die aber ein Eingeweihter jedenfalls erraten mußte, dann Selbstlob
     
    
     322
     
    
      des Advokaten, wobei er sich auf geradezu hündische Weise vor dem
     
    
     323
     
    
      Gericht demütigte, und endlich Untersuchungen von Rechtsfällen aus alter
     
    
     324
     
    
      Zeit, die dem meinigen ähnlich sein sollten. Diese Untersuchungen waren
     
    
     325
     
    
      allerdings, soweit ich ihnen folgen konnte, sehr sorgfältig gemacht. Ich will
     
    
     326
     
    
      auch mit diesem allen kein Urteil über die Arbeit des Advokaten abgeben,
     
    
     327
     
    
      auch war die Eingabe, die ich gelesen habe, nur eine unter mehreren,
     
    
     328
     
    
      jedenfalls aber, und davon will ich jetzt sprechen, konnte ich damals in
     
    
     329
     
    
      meinem Prozeß keinen Fortschritt sehen.« »Was für einen Fortschritt
     
    
     330
     
    
      wollten Sie denn sehen?« fragte K. »Sie fragen ganz vernünftig«, sagte der
     
    
     331
     
    
      Kaufmann lächelnd, »man kann in diesem Verfahren nur selten Fortschritte
     
    
     332
     
    
      sehen. Aber damals wußte ich das nicht. Ich bin Kaufmann und war es
     
    
     333
     
    
      damals noch viel mehr als heute, ich wollte greifbare Fortschritte haben,
     
    
     334
     
    
      das Ganze sollte sich zum Ende neigen oder wenigstens den regelrechten
     
    
     335
     
    
      Aufstieg nehmen. Statt dessen gab es nur Einvernehmungen, die meist den
     
    
     336
     
    
      gleichen Inhalt hatten; die Antworten hatte ich schon bereit wie eine
     
    
     337
     
    
      Litanei; mehrmals in der Woche kamen Gerichtsboten in mein Geschäft, in
     
    
     338
     
    
      meine Wohnung oder wo sie mich sonst antreffen konnten; das war
     
    
     339
     
    
      natürlich störend (heute ist es wenigstens in dieser Hinsicht viel besser,
     
    
     340
     
    
      der telephonische Anruf stört viel weniger), auch unter meinen
     
    
     341
     
    
      Geschäftsfreunden, insbesondere aber unter meinen Verwandten, fingen
     
    
     342
     
    
      Gerüchte von meinem Prozeß sich zu verbreiten an, Schädigungen gab es
     
    
     343
     
    
      also von allen Seiten, aber nicht das geringste Anzeichen sprach dafür, daß
     
    
     344
     
    
      auch nur die erste Gerichtsverhandlung in der nächsten Zeit stattfinden
     
    
     345
     
    
      würde. Ich ging also zum Advokaten und beklagte mich. Er gab mir zwar
     
    
     346
     
    
      lange Erklärungen, lehnte es aber entschieden ab, etwas in meinem Sinne
     
    
     347
     
    
      zu tun, niemand habe Einfluß auf die Festsetzung der Verhandlung, in einer
     
    
     348
     
    
      Eingabe darauf zu dringen – wie ich es verlangte -, sei einfach unerhört und
     
    
     349
     
    
      würde mich und ihn verderben. Ich dachte: Was dieser Advokat nicht will
     
    
     350
     
    
      oder kann, wird ein anderer wollen und können. Ich sah mich also nach
     
    
     351
     
    
      anderen Advokaten um. Ich will es gleich vorwegnehmen: keiner hat die
     
    
     352
     
    
      Festsetzung der Hauptverhandlung verlangt oder durchgesetzt, es ist,
     
    
     353
     
    
      allerdings mit einem Vorbehalt, von dem ich noch sprechen werde, wirklich
     
    
     354
     
    
      unmöglich, hinsichtlich dieses Punktes hat mich also dieser Advokat nicht
     
    
     355
     
    
      getäuscht; im übrigen aber hatte ich es nicht zu bedauern, mich noch an
     
    
     356
     
    
      andere Advokaten gewendet zu haben. Sie dürften wohl von Dr. Huld auch
     
    
     357
     
    
      schon manches über die Winkeladvokaten gehört haben, er hat sie Ihnen
     
    
     358
     
    
      wahrscheinlich als sehr verächtlich dargestellt, und das sind sie wirklich.
     
    
     359
     
    
      Allerdings unterläuft ihm immer, wenn er von ihnen spricht und sich und
     
    
     360
     
    
      seine Kollegen zu ihnen in Vergleich setzt, ein kleiner Fehler, auf den ich
     
    
     361
     
    
      Sie ganz nebenbei auch aufmerksam machen will. Er nennt dann immer die
     
    
     362
     
    
      Advokaten seines Kreises zur Unterscheidung die ›großen Advokaten‹. Das
     
    
     363
     
    
      ist falsch, es kann sich natürlich jeder ›groß‹ nennen, wenn es ihm beliebt,
     
    
     364
     
    
      in diesem Fall aber entscheidet doch nur der Gerichtsgebrauch. Nach
     
    
     365
     
    
      diesem gibt es nämlich außer den Winkeladvokaten noch kleine und große
     
    
     366
     
    
      Advokaten. Dieser Advokat und seine Kollegen sind jedoch nur die kleinen
     
    
     367
     
    
      Advokaten, die großen Advokaten aber, von denen ich nur gehört und die
     
    
     368
     
    
      ich nie gesehen habe, stehen im Rang unvergleichlich höher über den
     
    
     369
     
    
      kleinen Advokaten als diese über den verachteten Winkeladvokaten.« »Die
     
    
     370
     
    
      großen Advokaten?« fragte K. »Wer sind denn die? Wie kommt man zu
     
    
     371
     
    
      ihnen?« »Sie haben also noch nie von ihnen gehört«, sagte der Kaufmann.
     
    
     372
     
    
      »Es gibt kaum einen Angeklagten, der nicht, nachdem er von ihnen
     
    
     373
     
    
      erfahren hat, eine Zeitlang von ihnen träumen würde. Lassen Sie sich lieber
     
    
     374
     
    
      nicht dazu verführen. Wer die großen Advokaten sind, weiß ich nicht, und
     
    
     375
     
    
      zu ihnen kommen kann man wohl gar nicht. Ich kenne keinen Fall, von dem
     
    
     376
     
    
      sich mit Bestimmtheit sagen liege, daß sie eingegriffen hätten. Manchen
     
    
     377
     
    
      verteidigen sie, aber durch eigenen Willen kann man das nicht erreichen,
     
    
     378
     
    
      sie verteidigen nur den, den sie verteidigen wollen. Die Sache, deren sie
     
    
     379
     
    
      sich annehmen, mag aber wohl über das niedrige Gericht schon
     
    
     380
     
    
      hinausgekommen sein. Im übrigen ist es besser, nicht an sie zu denken,
     
    
     381
     
    
      denn sonst kommen einem die Besprechungen mit den anderen
     
    
     382
     
    
      Advokaten, deren Ratschläge und deren Hilfeleistungen so widerlich und
     
    
     383
     
    
      nutzlos vor, ich habe es selbst erfahren, daß man am liebsten alles
     
    
     384
     
    
      wegwerfen, sich zu Hause ins Bett legen und von nichts mehr hören wollte.
     
    
     385
     
    
      Das wäre aber natürlich wieder das Dümmste, auch hätte man im Bett nicht
     
    
     386
     
    
      lange Ruhe.« »Sie dachten damals also nicht an die großen Advokaten?«
     
    
     387
     
    
      fragte K. »Nicht lange«, sagte der Kaufmann und lächelte wieder,
     
    
     388
     
    
      »vollständig vergessen kann man sie leider nicht, besonders die Nacht ist
     
    
     389
     
    
      solchen Gedanken günstig. Aber damals wollte ich ja sofortige Erfolge, ich
     
    
     390
     
    
      ging daher zu den Winkeladvokaten.«»Wie ihr hier beieinander sitzt!« rief
     
    
     391
     
    
      Leni, die mit der Tasse zurückgekommen war und in der Tür stehenblieb.
     
    
     392
     
    
      Sie saßen wirklich eng beisammen, bei der kleinsten Wendung mußten sie
     
    
     393
     
    
      mit den Köpfen aneinanderstoßen, der Kaufmann, der, abgesehen von
     
    
     394
     
    
      seiner Kleinheit, auch noch den Rücken gekrümmt hielt, hatte K.
     
    
     395
     
    
      gezwungen, sich auch tief zu bücken, wenn er alles hören wollte. »Noch ein
     
    
     396
     
    
      Weilchen!« rief K. Leni abwehrend zu und zuckte ungeduldig mit der Hand,
     
    
     397
     
    
      die er noch immer auf des Kaufmanns Hand liegen hatte. »Er wollte, daß ich
     
    
     398
     
    
      ihm von meinem Prozeß erzähle«, sagte der Kaufmann zu Leni. »Erzähle
     
    
     399
     
    
      nur, erzähle«, sagte diese. Sie sprach mit dem Kaufmann liebevoll, aber
     
    
     400
     
    
      doch auch herablassend, K. gefiel das nicht; wie er jetzt erkannt hatte, hatte
     
    
     401
     
    
      der Mann doch einen gewissen Wert, zumindest hatte er Erfahrungen, die
     
    
     402
     
    
      er gut mitzuteilen verstand. Leni beurteilte ihn wahrscheinlich unrichtig. Er
     
    
     403
     
    
      sah ärgerlich zu, als Leni jetzt dem Kaufmann die Kerze, die er die ganze
     
    
     404
     
    
      Zeit über festgehalten hatte, abnahm, ihm die Hand mit ihrer Schürze
     
    
     405
     
    
      abwischte und dann neben ihm niederkniete, um etwas Wachs
     
    
     406
     
    
      wegzukratzen, das von der Kerze auf seine Hose getropft war. »Sie wollten
     
    
     407
     
    
      mir von den Winkeladvokaten erzählen«, sagte K. und schob, ohne eine
     
    
     408
     
    
      weitere Bemerkung, Lenis Hand weg. »Was willst du denn?« fragte Leni,
     
    
     409
     
    
      schlug leicht nach K. und setzte ihre Arbeit fort. »Ja, von den
     
    
     410
     
    
      Winkeladvokaten«, sagte der Kaufmann und fuhr sich über die Stirn, als
     
    
     411
     
    
      denke er nach. K. wollte ihm nachhelfen und sagte: »Sie wollten sofortige
     
    
     412
     
    
      Erfolge haben und gingen deshalb zu den Winkeladvokaten.« »Ganz
     
    
     413
     
    
      richtig«, sagte der Kaufmann, setzte aber nicht fort. »Er will vielleicht vor
     
    
     414
     
    
      Leni nicht davon sprechen«, dachte K., bezwang seine Ungeduld, das
     
    
     415
     
    
      Weitere gleich jetzt zu hören, und drang nun nicht mehr weiter in ihn.
     
    
     416
     
    
      »Hast du mich angemeldet?« fragte er Leni. »Natürlich«, sagte diese, »er
     
    
     417
     
    
      wartet auf dich. Laß jetzt Block, mit Block kannst du auch später reden, er
     
    
     418
     
    
      bleibt doch hier.« K. zögerte noch. »Sie bleiben hier?« fragte er den
     
    
     419
     
    
      Kaufmann, er wollte dessen eigene Antwort, er wollte nicht, daß Leni vom
     
    
     420
     
    
      Kaufmann wie von einem Abwesenden sprach, er war heute gegen Leni voll
     
    
     421
     
    
      geheimen Ärgers. Und wieder antwortete nur Leni: »Er schläft hier öfters.«
     
    
     422
     
    
      »Schläft hier?« rief K., er hatte gedacht, der Kaufmann werde hier nur auf
     
    
     423
     
    
      ihn warten, während er die Unterredung mit dem Advokaten rasch erledigen
     
    
     424
     
    
      würde, dann aber würden sie gemeinsam fortgehen und alles gründlich und
     
    
     425
     
    
      ungestört besprechen. »Ja«, sagte Leni, »nicht jeder wird wie du, Josef, zu
     
    
     426
     
    
      beliebiger Stunde beim Advokaten vorgelassen. Du scheinst dich ja gar
     
    
     427
     
    
      nicht darüber zu wundern, daß dich der Advokat trotz seiner Krankheit
     
    
     428
     
    
      noch um elf Uhr nachts empfängt. Du nimmst das, was deine Freunde für
     
    
     429
     
    
      dich tun, doch als gar zu selbstverständlich an. Nun, deine Freunde, oder
     
    
     430
     
    
      zumindest ich, tun es gerne. Ich will keinen anderen Dank und brauche
     
    
     431
     
    
      auch keinen anderen, als daß du mich liebhast.« »Dich liebhaben?« dachte
     
    
     432
     
    
      K. im ersten Augenblick, erst dann ging es ihm durch den Kopf: »Nun ja,
     
    
     433
     
    
      ich habe sie lieb.« Trotzdem sagte er, alles andere vernachlässigend: »Er
     
    
     434
     
    
      empfängt mich, weil ich sein Klient bin. Wenn auch dafür noch fremde Hilfe
     
    
     435
     
    
      nötig wäre, müßte man bei jedem Schritt immer gleichzeitig betteln und
     
    
     436
     
    
      danken.« »Wie schlimm er heute ist, nicht?« fragte Leni den Kaufmann.
     
    
     437
     
    
      »Jetzt bin ich der Abwesende«, dachte K. und wurde fast sogar auf den
     
    
     438
     
    
      Kaufmann böse, als dieser, die Unhöflichkeit Lenis übernehmend, sagte:
     
    
     439
     
    
      »Der Advokat empfängt ihn auch noch aus anderen Gründen. Sein Fall ist
     
    
     440
     
    
      nämlich interessanter als der meine. Außerdem aber ist sein Prozeß in den
     
    
     441
     
    
      Anfängen, also wahrscheinlich noch nicht sehr verfahren, da beschäftigt
     
    
     442
     
    
      sich der Advokat noch gern mit ihm. Später wird das anders werden.« »Ja,
     
    
     443
     
    
      ja«, sagte Leni und sah den Kaufmann lachend an, »wie er schwatzt! Ihm
     
    
     444
     
    
      darfst du nämlich«, hierbei wandte sie sich an K., »gar nichts glauben. So
     
    
     445
     
    
      lieb er ist, so geschwätzig ist er. Vielleicht mag ihn der Advokat auch
     
    
     446
     
    
      deshalb nicht leiden. Jedenfalls empfängt er ihn nur, wenn er in Laune ist.
     
    
     447
     
    
      Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, das zu ändern, aber es ist
     
    
     448
     
    
      unmöglich. Denke nur, manchmal melde ich Block an, er empfängt ihn aber
     
    
     449
     
    
      erst am dritten Tag nachher. Ist Block aber zu der Zeit, wenn er vorgerufen
     
    
     450
     
    
      wird, nicht zur Stelle, so ist alles verloren und er muß von neuem
     
    
     451
     
    
      angemeldet werden. Deshalb habe ich Block erlaubt, hier zu schlafen, es ist
     
    
     452
     
    
      ja schon vorgekommen, daß er in der Nacht um ihn geläutet hat. Jetzt ist
     
    
     453
     
    
      also Block auch in der Nacht bereit. Allerdings geschieht es jetzt wieder,
     
    
     454
     
    
      daß der Advokat, wenn es sich zeigt, daß Block da ist, seinen Auftrag, ihn
     
    
     455
     
    
      vorzulassen, manchmal widerruft.« K. sah fragend zum Kaufmann hin.
     
    
     456
     
    
      Dieser nickte und sagte, so offen wie er früher mit K. gesprochen hatte,
     
    
     457
     
    
      vielleicht war er zerstreut vor Beschämung: »Ja, man wird später sehr
     
    
     458
     
    
      abhängig von seinem Advokaten.« »Er klagt ja nur zum Schein«, sagte
     
    
     459
     
    
      Leni. »Er schläft ja hier sehr gern, wie er mir schon oft gestanden hat.« Sie
     
    
     460
     
    
      ging zu einer kleinen Tür und stieß sie auf. »Willst du sein Schlafzimmer
     
    
     461
     
    
      sehen?« fragte sie. K. ging hin und sah von der Schwelle aus in den
     
    
     462
     
    
      niedrigen fensterlosen Raum, der von einem schmalen Bett vollständig
     
    
     463
     
    
      ausgefüllt war. In dieses Bett mußte man über den Bettpfosten steigen. Am
     
    
     464
     
    
      Kopfende des Bettes war eine Vertiefung in der Mauer, dort standen,
     
    
     465
     
    
      peinlich geordnet, eine Kerze, Tintenfaß und Feder sowie ein Bündel
     
    
     466
     
    
      Papiere, wahrscheinlich Prozeßschriften. »Sie schlafen im
     
    
     467
     
    
      Dienstmädchenzimmer?« fragte K. und wendete sich zum Kaufmann
     
    
     468
     
    
      zurück. »Leni hat es mir eingeräumt«, antwortete der Kaufmann, »es ist
     
    
     469
     
    
      sehr vorteilhaft.« K. sah ihn lange an; der erste Eindruck, den er von dem
     
    
     470
     
    
      Kaufmann erhalten hatte, war vielleicht doch der richtige gewesen;
     
    
     471
     
    
      Erfahrungen hatte er, denn sein Prozeß dauerte schon lange, aber er hatte
     
    
     472
     
    
      diese Erfahrungen teuer bezahlt. Plötzlich ertrug K. den Anblick des
     
    
     473
     
    
      Kaufmanns nicht mehr. »Bring ihn doch ins Bett!« rief er Leni zu, die ihn
     
    
     474
     
    
      gar nicht zu verstehen schien. Er selbst aber wollte zum Advokaten gehen
     
    
     475
     
    
      und durch die Kündigung sich nicht nur vom Advokaten, sondern auch von
     
    
     476
     
    
      Leni und dem Kaufmann befreien. Aber noch ehe er zur Tür gekommen war,
     
    
     477
     
    
      sprach ihn der Kaufmann mit leiser Stimme an: »Herr Prokurist«, K. wandte
     
    
     478
     
    
      sich mit bösem Gesicht um. »Sie haben Ihr Versprechen vergessen«, sagte
     
    
     479
     
    
      der Kaufmann und streckte sich von seinem Sitz aus bittend K. entgegen.
     
    
     480
     
    
      »Sie wollten mir noch ein Geheimnis sagen.« »Wahrhaftig«, sagte K. und
     
    
     481
     
    
      streifte auch Leni, die ihn aufmerksam ansah, mit einem Blick, »also hören
     
    
     482
     
    
      Sie: es ist allerdings fast kein Geheimnis mehr. Ich gehe jetzt zum
     
    
     483
     
    
      Advokaten, um ihn zu entlassen.« »Er entläßt ihn!« rief der Kaufmann,
     
    
     484
     
    
      sprang vom Sessel und lief mit erhobenen Armen in der Küche umher.
     
    
     485
     
    
      Immer wieder rief er: »Er entläßt den Advokaten!« Leni wollte gleich auf K.
     
    
     486
     
    
      losfahren, aber der Kaufmann kam ihr in den Weg, wofür sie ihm mit den
     
    
     487
     
    
      Fäusten einen Hieb gab. Noch mit den zu Fäusten geballten Händen lief sie
     
    
     488
     
    
      dann hinter K., der aber einen großen Vorsprung hatte. Er war schon in das
     
    
     489
     
    
      Zimmer des Advokaten eingetreten, als ihn Leni einholte. Die Tür hatte er
     
    
     490
     
    
      hinter sich fast geschlossen, aber Leni, die mit dem Fuß den Türflügel
     
    
     491
     
    
      offenhielt, faßte ihn beim Arm und wollte ihn zurückziehen. Aber er drückte
     
    
     492
     
    
      ihr Handgelenk so stark, daß sie unter einem Seufzer ihn loslassen mußte.
     
    
     493
     
    
      Ins Zimmer einzutreten, wagte sie nicht gleich, K. aber versperrte die Tür
     
    
     494
     
    
      mit dem Schlüssel.
     
    
     495
     
    
      »Ich warte schon sehr lange auf Sie«, sagte der Advokat vom Bett aus,
     
    
     496
     
    
      legte ein Schriftstück, das er beim Licht einer Kerze gelesen hatte, auf das
     
    
     497
     
    
      Nachttischchen und setzte sich eine Brille auf, mit der er K. scharf ansah.
     
    
     498
     
    
      Statt sich zu entschuldigen, sagte K.: »Ich gehe bald wieder weg.« Der
     
    
     499
     
    
      Advokat hatte K.s Bemerkung, weil sie keine Entschuldigung war,
     
    
     500
     
    
      unbeachtet gelassen und sagte: »Ich werde Sie nächstens zu dieser späten
     
    
     501
     
    
      Stunde nicht mehr vorlassen.« »Das kommt meinem Anliegen entgegen«,
     
    
     502
     
    
      sagte K. Der Advokat sah ihn fragend an. »Setzen Sie sich«, sagte er. »Weil
     
    
     503
     
    
      Sie es wünschen«, sagte K., zog einen Sessel zum Nachttischchen und
     
    
     504
     
    
      setzte sich. »Es schien mir, daß Sie die Tür abgesperrt haben«, sagte der
     
    
     505
     
    
      Advokat. »Ja«, sagte K., »es war Lenis wegen.« Er hatte nicht die Absicht,
     
    
     506
     
    
      irgend jemanden zu schonen. Aber der Advokat fragte: »War sie wieder
     
    
     507
     
    
      zudringlich?« »Zudringlich?« fragte K. »Ja«, sagte der Advokat, er lachte
     
    
     508
     
    
      dabei, bekam einen Hustenanfall und begann, nachdem dieser vergangen
     
    
     509
     
    
      war, wieder zu lachen. »Sie haben doch wohl ihre Zudringlichkeit schon
     
    
     510
     
    
      bemerkt?« fragte er und klopfte K. auf die Hand, die dieser zerstreut auf das
     
    
     511
     
    
      Nachttischchen gestützt hatte und die er jetzt rasch zurückzog. »Sie legen
     
    
     512
     
    
      dem nicht viel Bedeutung bei«, sagte der Advokat, als K. schwieg, »desto
     
    
     513
     
    
      besser. Sonst hätte ich mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen müssen. Es
     
    
     514
     
    
      ist eine Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr übrigens längst verziehen habe und
     
    
     515
     
    
      von der ich auch nicht reden würde, wenn Sie nicht eben jetzt die Tür
     
    
     516
     
    
      abgesperrt hätten. Diese Sonderbarkeit, Ihnen allerdings müßte ich sie
     
    
     517
     
    
      wohl am wenigsten erklären, aber Sie sehen mich so bestürzt an und
     
    
     518
     
    
      deshalb tue ich es, diese Sonderbarkeit besteht darin, daß Leni die meisten
     
    
     519
     
    
      Angeklagten schön findet. Sie hängt sich an alle, liebt alle, scheint
     
    
     520
     
    
      allerdings auch von allen geliebt zu werden; um mich zu unterhalten,
     
    
     521
     
    
      erzählt sie mir dann, wenn ich es erlaube, manchmal davon. Ich bin über
     
    
     522
     
    
      das Ganze nicht so erstaunt, wie Sie es zu sein scheinen. Wenn man den
     
    
     523
     
    
      richtigen Blick dafür hat, findet man die Angeklagten wirklich oft schön.
     
    
     524
     
    
      Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen
     
    
     525
     
    
      naturwissenschaftliche Erscheinung. Es tritt natürlich als Folge der
     
    
     526
     
    
      Anklage nicht etwa eine deutliche, genau zu bestimmende Veränderung des
     
    
     527
     
    
      Aussehens ein. Es ist doch nicht wie bei anderen Gerichtssachen, die
     
    
     528
     
    
      meisten bleiben in ihrer gewöhnlichen Lebensweise und werden, wenn sie
     
    
     529
     
    
      einen guten Advokaten haben, der für sie sorgt, durch den Prozeß nicht
     
    
     530
     
    
      behindert. Trotzdem sind diejenigen, welche darin Erfahrung haben,
     
    
     531
     
    
      imstande, aus der größten Menge die Angeklagten, Mann für Mann, zu
     
    
     532
     
    
      erkennen. Woran? werden Sie fragen. Meine Antwort wird Sie nicht
     
    
     533
     
    
      befriedigen. Die Angeklagten sind eben die Schönsten. Es kann nicht die
     
    
     534
     
    
      Schuld sein, die sie schön macht, denn – so muß wenigstens ich als
     
    
     535
     
    
      Advokat sprechen – es sind doch nicht alle schuldig, es kann auch nicht
     
    
     536
     
    
      die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht, denn es werden
     
    
     537
     
    
      doch nicht alle bestraft, es kann also nur an dem gegen sie erhobenen
     
    
     538
     
    
      Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet. Allerdings gibt es unter den
     
    
     539
     
    
      Schönen auch besonders schöne. Schön sind aber alle, selbst Block,
     
    
     540
     
    
      dieser elende Wurm.«
     
    
     541
     
    
      K. war, als der Advokat geendet hatte, vollständig gefaßt, er hatte sogar
     
    
     542
     
    
      zu den letzten Worten auffallend genickt und sich so selbst die Bestätigung
     
    
     543
     
    
      seiner alten Ansicht gegeben, nach welcher der Advokat ihn immer und so
     
    
     544
     
    
      auch diesmal durch allgemeine Mitteilungen, die nicht zur Sache gehörten,
     
    
     545
     
    
      zu zerstreuen und von der Hauptfrage, was er an tatsächlicher Arbeit für
     
    
     546
     
    
      K.s Sache getan hatte, abzulenken suchte. Der Advokat merkte wohl, daß
     
    
     547
     
    
      ihm K. diesmal mehr Widerstand leistete als sonst, denn er verstummte
     
    
     548
     
    
      jetzt, um K. die Möglichkeit zu geben, selbst zu sprechen, und fragte dann,
     
    
     549
     
    
      da K. stumm blieb: »Sind Sie heute mit einer bestimmten Absicht zu mir
     
    
     550
     
    
      gekommen?« »Ja«, sagte K. und blendete mit der Hand ein wenig die Kerze
     
    
     551
     
    
      ab, um den Advokaten besser zu sehen, »ich wollte Ihnen sagen, daß ich
     
    
     552
     
    
      Ihnen mit dem heutigen Tage meine Vertretung entziehe.« »Verstehe ich Sie
     
    
     553
     
    
      recht?« fragte der Advokat, erhob sich halb im Bett und stützte sich mit
     
    
     554
     
    
      einer Hand auf die Kissen. »Ich nehme es an«, sagte K., der straff
     
    
     555
     
    
      aufgerichtet, wie auf der Lauer, dasaß. »Nun, wir können ja auch diesen
     
    
     556
     
    
      Plan besprechen«, sagte der Advokat nach einem Weilchen. »Es ist kein
     
    
     557
     
    
      Plan mehr«, sagte K. »Mag sein«, sagte der Advokat, »wir wollen aber
     
    
     558
     
    
      trotzdem nichts übereilen.« Er gebrauchte das Wort »wir«, als habe er nicht
     
    
     559
     
    
      die Absicht, K. freizulassen, und als wolle er, wenn er schon nicht sein
     
    
     560
     
    
      Vertreter sein dürfte, wenigstens sein Berater bleiben. »Es ist nicht
     
    
     561
     
    
      übereilt«, sagte K., stand langsam auf und trat hinter seinen Sessel, »es ist
     
    
     562
     
    
      gut überlegt und vielleicht sogar zu lange. Der Entschluß ist endgültig.«
     
    
     563
     
    
      »Dann erlauben Sie mir nur noch einige Worte«, sagte der Advokat, hob
     
    
     564
     
    
      das Federbett weg und setzte sich auf den Bettrand. Seine nackten,
     
    
     565
     
    
      weißhaarigen Beine zitterten vor Kälte. Er bat K., ihm vom Kanapee eine
     
    
     566
     
    
      Decke zu reichen. K. holte die Decke und sagte: »Sie setzten sich ganz
     
    
     567
     
    
      unnötig einer Verkühlung aus.« »Der Anlaß ist wichtig genug«, sagte der
     
    
     568
     
    
      Advokat, während er mit dem Federbett den Oberkörper umhüllte und dann
     
    
     569
     
    
      die Beine in die Decke einwickelte. »Ihr Onkel ist mein Freund, und auch
     
    
     570
     
    
      Sie sind mir im Laufe der Zeit lieb geworden. Ich gestehe das offen ein. Ich
     
    
     571
     
    
      brauche mich dessen nicht zu schämen.« Diese rührseligen Reden des
     
    
     572
     
    
      alten Mannes waren K. sehr unwillkommen, denn sie zwangen ihn zu einer
     
    
     573
     
    
      ausführlicheren Erklärung, die er gern vermieden hätte, und sie beirrten ihn
     
    
     574
     
    
      außerdem, wie er sich offen eingestand, wenn sie allerdings auch seinen
     
    
     575
     
    
      Entschluß niemals rückgängig machen konnten. »Ich danke Ihnen für Ihre
     
    
     576
     
    
      freundliche Gesinnung«, sagte er, »ich erkenne auch an, daß Sie sich
     
    
     577
     
    
      meiner Sache so sehr angenommen haben, wie es Ihnen möglich ist und
     
    
     578
     
    
      wie es Ihnen für mich vorteilhaft scheint. Ich jedoch habe in der letzten Zeit
     
    
     579
     
    
      die Überzeugung gewonnen, daß das nicht genügend ist. Ich werde
     
    
     580
     
    
      natürlich niemals versuchen, Sie, einen soviel älteren und erfahreneren
     
    
     581
     
    
      Mann, von meiner Ansicht überzeugen zu wollen; wenn ich es manchmal
     
    
     582
     
    
      unwillkürlich versucht habe, so verzeihen Sie mir, die Sache aber ist, wie
     
    
     583
     
    
      Sie sich selbst ausdrückten, wichtig genug, und es ist meiner Überzeugung
     
    
     584
     
    
      nach notwendig, viel kräftiger in den Prozeß einzugreifen, als es bisher
     
    
     585
     
    
      geschehen ist.« »Ich verstehe Sie«, sagte der Advokat, »Sie sind
     
    
     586
     
    
      ungeduldig.« »Ich bin nicht ungeduldig«, sagte K. ein wenig gereizt und
     
    
     587
     
    
      achtete nicht mehr soviel auf seine Worte. »Sie dürften bei meinem ersten
     
    
     588
     
    
      Besuch, als ich mit meinem Onkel zu Ihnen kam, bemerkt haben, daß mir an
     
    
     589
     
    
      dem Prozeß nicht viel lag, wenn man mich nicht gewissermaßen gewaltsam
     
    
     590
     
    
      an ihn erinnerte, vergaß ich ihn vollständig. Aber mein Onkel bestand
     
    
     591
     
    
      darauf, daß ich Ihnen meine Vertretung übergebe, ich tat es, um ihm gefällig
     
    
     592
     
    
      zu sein. Und nun hätte man doch erwarten sollen, daß mir der Prozeß noch
     
    
     593
     
    
      leichter fallen würde als bis dahin, denn man übergibt doch dem Advokaten
     
    
     594
     
    
      die Vertretung, um die Last des Prozesses ein wenig von sich abzuwälzen.
     
    
     595
     
    
      Es geschah aber das Gegenteil. Niemals früher hatte ich so große Sorgen
     
    
     596
     
    
      wegen des Prozesses wie seit der Zeit, seitdem Sie mich vertreten. Als ich
     
    
     597
     
    
      allein war, unternahm ich nichts in meiner Sache, aber ich fühlte es kaum,
     
    
     598
     
    
      jetzt dagegen hatte ich einen Vertreter, alles war dafür eingerichtet, daß
     
    
     599
     
    
      etwas geschehe, unaufhörlich und immer gespannter erwartete ich Ihr
     
    
     600
     
    
      Eingreifen, aber es blieb aus. Ich bekam von Ihnen allerdings verschiedene
     
    
     601
     
    
      Mitteilungen über das Gericht, die ich vielleicht von niemandem sonst hätte
     
    
     602
     
    
      bekommen können. Aber das kann mir nicht genügen, wenn mir jetzt der
     
    
     603
     
    
      Prozeß, förmlich im geheimen, immer näher an den Leib rückt.« K. hatte
     
    
     604
     
    
      den Sessel von sich gestoßen und stand, die Hände in den Rocktaschen,
     
    
     605
     
    
      aufrecht da. »Von einem gewissen Zeitpunkt der Praxis an«, sagte der
     
    
     606
     
    
      Advokat leise und ruhig, »ereignet sich nichts wesentlich Neues mehr. Wie
     
    
     607
     
    
      viele Parteien sind in ähnlichen Stachen der Prozesse ähnlich wie Sie vor
     
    
     608
     
    
      mir gestanden und haben ähnlich gesprochen!« »Dann haben«, sagte K.,
     
    
     609
     
    
      »alle diese ähnlichen Parteien ebenso recht gehabt wie ich. Das widerlegt
     
    
     610
     
    
      mich gar nicht.« »Ich wollte Sie damit nicht widerlegen«, sagte der Advokat,
     
    
     611
     
    
      »ich wollte aber noch hinzufügen, daß ich bei Ihnen mehr Urteilskraft
     
    
     612
     
    
      erwartet hätte als bei den anderen, besonders da ich Ihnen mehr Einblick in
     
    
     613
     
    
      das Gerichtswesen und in meine Tätigkeit gegeben habe, als ich es sonst
     
    
     614
     
    
      Parteien gegenüber tue. Und nun muß ich sehen, daß Sie trotz allem nicht
     
    
     615
     
    
      genügend Vertrauen zu mir haben. Sie machen es mir nicht leicht.« Wie
     
    
     616
     
    
      sich der Advokat vor K. demütigte! Ohne jede Rücksicht auf die
     
    
     617
     
    
      Standesehre, die gewiß gerade in diesem Punkte am empfindlichsten ist.
     
    
     618
     
    
      Und warum tat er das? Er war doch dem Anschein nach ein
     
    
     619
     
    
      vielbeschäftigter Advokat und überdies ein reicher Mann, es konnte ihm an
     
    
     620
     
    
      und für sich weder an dem Verdienstentgang noch an dem Verlust eines
     
    
     621
     
    
      Klienten viel liegen. Außerdem war er kränklich und hätte selbst darauf
     
    
     622
     
    
      bedacht sein sollen, daß ihm Arbeit abgenommen werde. Und trotzdem
     
    
     623
     
    
      hielt er K. so fest! Warum? War es persönliche Anteilnahme für den Onkel
     
    
     624
     
    
      oder sah er K.s Prozeß wirklich für so außerordentlich an und hoffte, sich
     
    
     625
     
    
      darin auszuzeichnen, entweder für K. oder – diese Möglichkeit war eben
     
    
     626
     
    
      niemals auszuschließen – für die Freunde beim Gericht? An ihm selbst war
     
    
     627
     
    
      nichts zu erkennen, so rücksichtslos prüfend ihn auch K. ansah. Man hätte
     
    
     628
     
    
      fast annehmen können, er warte mit absichtlich verschlossener Miene die
     
    
     629
     
    
      Wirkung seiner Worte ab. Aber er deutete offenbar das Schweigen K.s für
     
    
     630
     
    
      sich allzu günstig, wenn er jetzt fortfuhr: »Sie werden bemerkt haben, daß
     
    
     631
     
    
      ich zwar eine große Kanzlei habe, aber keine Hilfskräfte beschäftige. Das
     
    
     632
     
    
      war früher anders, es gab eine Zeit, wo einige junge Juristen für mich
     
    
     633
     
    
      arbeiteten, heute arbeite ich allein. Es hängt dies zum Teil mit der Änderung
     
    
     634
     
    
      meiner Praxis zusammen, indem ich mich immer mehr auf Rechtssachen
     
    
     635
     
    
      von der Art der Ihrigen beschränke, zum Teil mit der immer tieferen
     
    
     636
     
    
      Erkenntnis, die ich von diesen Rechtssachen erhielt. Ich fand, daß ich diese
     
    
     637
     
    
      Arbeit niemandem überlassen dürfe, wenn ich mich nicht an meinen
     
    
     638
     
    
      Klienten und an der Aufgabe, die ich übernommen hatte, versündigen
     
    
     639
     
    
      wollte. Der Entschluß aber, alle Arbeit selbst zu leisten, hatte die
     
    
     640
     
    
      natürlichen Folgen: ich mußte fast alle Ansuchen um Vertretungen
     
    
     641
     
    
      abweisen und konnte nur denen nachgeben, die mir besonders nahegingen
     
    
     642
     
    
      – nun, es gibt ja genug Kreaturen, und sogar ganz in der Nähe, die sich auf
     
    
     643
     
    
      jeden Brocken stürzen, den ich wegwerfe. Und außerdem wurde ich vor
     
    
     644
     
    
      Überanstrengung krank. Aber trotzdem bereue ich meinen Entschluß nicht,
     
    
     645
     
    
      es ist möglich, daß ich mehr Vertretungen hätte abweisen sollen, als ich
     
    
     646
     
    
      getan habe, daß ich aber den übernommenen Prozessen mich ganz
     
    
     647
     
    
      hingegeben habe, hat sich als unbedingt notwendig herausgestellt und
     
    
     648
     
    
      durch die Erfolge belohnt. Ich habe einmal in einer Schrift den Unterschied
     
    
     649
     
    
      sehr schön ausgedrückt gefunden, der zwischen der Vertretung in
     
    
     650
     
    
      gewöhnlichen Rechtssachen und der Vertretung in diesen Rechtssachen
     
    
     651
     
    
      besteht. Es hieß dort: der Advokat führt seinen Klienten an einem
     
    
     652
     
    
      Zwirnsfaden bis zum Urteil, der andere aber hebt seinen Klienten gleich auf
     
    
     653
     
    
      die Schultern und trägt ihn, ohne ihn abzusetzen, zum Urteil und noch
     
    
     654
     
    
      darüber hinaus. So ist es. Aber es war nicht ganz richtig, wenn ich sagte,
     
    
     655
     
    
      daß ich diese große Arbeit niemals bereue. Wenn sie, wie in Ihrem Fall, so
     
    
     656
     
    
      vollständig verkannt wird, dann, nun dann bereue ich fast.« K. wurde durch
     
    
     657
     
    
      diese Reden mehr ungeduldig als überzeugt. Er glaubte irgendwie aus dem
     
    
     658
     
    
      Tonfall des Advokaten herauszuhören, was ihn erwartete, wenn er
     
    
     659
     
    
      nachgäbe, wieder würden Vertröstungen beginnen, die Hinweise auf die
     
    
     660
     
    
      fortschreitende Eingabe, auf die gebesserte Stimmung der
     
    
     661
     
    
      Gerichtsbeamten, aber auch auf die großen Schwierigkeiten, die sich der
     
    
     662
     
    
      Arbeit entgegenstellten, – kurz, all das bis zum Überdruß Bekannte würde
     
    
     663
     
    
      hervorgeholt werden, um K. wieder mit unbestimmten Hoffnungen zu
     
    
     664
     
    
      täuschen und mit unbestimmten Drohungen zu quälen. Das mußte
     
    
     665
     
    
      endgültig verhindert werden, er sagte deshalb: »Was wollen Sie in meiner
     
    
     666
     
    
      Sache unternehmen, wenn Sie die Vertretung behalten?« Der Advokat fügte
     
    
     667
     
    
      sich sogar dieser beleidigenden Frage und antwortete: »In dem, was ich für
     
    
     668
     
    
      Sie bereits unternommen habe, weiter fortfahren.« »Ich wußte es ja«, sagte
     
    
     669
     
    
      K., »nun ist aber jedes weitere Wort überflüssig.« »Ich werde noch einen
     
    
     670
     
    
      Versuch machen«, sagte der Advokat, als geschehe das, was K. erregte,
     
    
     671
     
    
      nicht K., sondern ihm. »Ich habe nämlich die Vermutung, daß Sie nicht nur
     
    
     672
     
    
      zu der falschen Beurteilung meines Rechtsbeistandes, sondern auch zu
     
    
     673
     
    
      Ihrem sonstigen Verhalten dadurch verleitet werden, daß man Sie, obwohl
     
    
     674
     
    
      Sie Angeklagter sind, zu gut behandelt oder, richtiger ausgedrückt,
     
    
     675
     
    
      nachlässig, scheinbar nachlässig behandelt. Auch dieses letztere hat
     
    
     676
     
    
      seinen Grund; es ist oft besser, in Ketten, als frei zu sein. Aber ich möchte
     
    
     677
     
    
      Ihnen doch zeigen, wie andere Angeklagte behandelt werden, vielleicht
     
    
     678
     
    
      gelingt es Ihnen, daraus eine Lehre zu nehmen. Ich werde jetzt nämlich
     
    
     679
     
    
      Block vorrufen, sperren Sie die Tür auf und setzen Sie sich hier neben den
     
    
     680
     
    
      Nachttisch!« »Gerne«, sagte K. und tat, was der Advokat verlangt hatte; zu
     
    
     681
     
    
      lernen war er immer bereit. Um sich aber für jeden Fall zu sichern, fragte er
     
    
     682
     
    
      noch: »Sie haben aber zur Kenntnis genommen, daß ich Ihnen meine
     
    
     683
     
    
      Vertretung entziehe?« »Ja«, sagte der Advokat, »Sie können es aber heute
     
    
     684
     
    
      noch rückgängig machen.« Er legte sich wieder ins Bett zurück, zog das
     
    
     685
     
    
      Federbett bis zum Kinn und drehte sich der Wand zu. Dann läutete er.
     
    
     686
     
    
      Fast gleichzeitig mit dem Glockenzeichen erschien Leni, sie suchte durch
     
    
     687
     
    
      rasche Blicke zu erfahren, was geschehen war; daß K. ruhig beim Bett des
     
    
     688
     
    
      Advokaten saß, schien ihr beruhigend. Sie nickte K., der sie starr ansah,
     
    
     689
     
    
      lächelnd zu. »Hole Block«, sagte der Advokat. Statt ihn aber zu holen, trat
     
    
     690
     
    
      sie nur vor die Tür, rief: »Block! Zum Advokaten!« und schlüpfte dann,
     
    
     691
     
    
      wahrscheinlich weil der Advokat zur Wand abgekehrt blieb und sich um
     
    
     692
     
    
      nichts kümmerte, hinter K.s Sessel. Sie störte ihn von nun ab, indem sie
     
    
     693
     
    
      sich über die Sessellehne vorbeugte oder mit den Händen, allerdings sehr
     
    
     694
     
    
      zart und vorsichtig, durch sein Haar fuhr und über seine Wangen strich.
     
    
     695
     
    
      Schließlich suchte K. sie daran zu hindern, indem er sie bei einer Hand
     
    
     696
     
    
      erfaßte, die sie ihm nach einigem Widerstreben überließ.
     
    
     697
     
    
      Block war auf den Anruf hin gleich gekommen, blieb aber vor der Tür
     
    
     698
     
    
      stehen und schien zu überlegen, ob er eintreten sollte. Er zog die
     
    
     699
     
    
      Augenbrauen hoch und neigte den Kopf, als horche er, ob sich der Befehl,
     
    
     700
     
    
      zum Advokaten zu kommen, wiederholen würde. K. hätte ihn zum Eintreten
     
    
     701
     
    
      aufmuntern können, aber er hatte sich vorgenommen, nicht nur mit dem
     
    
     702
     
    
      Advokaten, sondern mit allem, was hier in der Wohnung war, endgültig zu
     
    
     703
     
    
      brechen und verhielt sich deshalb regungslos. Auch Leni schwieg. Block
     
    
     704
     
    
      bemerkte, daß ihn wenigstens niemand verjage und trat auf den Fußspitzen
     
    
     705
     
    
      ein, das Gesicht gespannt, die Hände auf dem Rücken verkrampft. Die Tür
     
    
     706
     
    
      hatte er für einen möglichen Rückzug offen gelassen. K. blickte er gar nicht
     
    
     707
     
    
      an, sondern immer nur das hohe Federbett, unter dem der Advokat, da er
     
    
     708
     
    
      sich ganz nahe an die Wand geschoben hatte, nicht einmal zu sehen war.
     
    
     709
     
    
      Da hörte man aber seine Stimme: »Block hier?« fragte er. Diese Frage gab
     
    
     710
     
    
      Block, der schon eine große Strecke weitergerückt war, förmlich einen Stoß
     
    
     711
     
    
      in die Brust und dann einen in den Rücken, er taumelte, blieb tief gebückt
     
    
     712
     
    
      stehen und sagte: »Zu dienen.« »Was willst du?« fragte der Advokat, »du
     
    
     713
     
    
      kommst ungelegen.« »Wurde ich nicht gerufen?« fragte Block mehr sich
     
    
     714
     
    
      selbst als den Advokaten, hielt die Hände zum Schutze vor und war bereit,
     
    
     715
     
    
      wegzulaufen. »Du wurdest gerufen«, sagte der Advokat, »trotzdem kommst
     
    
     716
     
    
      du ungelegen.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Du kommst immer
     
    
     717
     
    
      ungelegen.« Seitdem der Advokat sprach, sah Block nicht mehr auf das
     
    
     718
     
    
      Bett hin, er starrte vielmehr irgendwo in eine Ecke und lauschte nur, als sei
     
    
     719
     
    
      der Anblick des Sprechers zu blendend, als daß er ihn ertragen könnte. Es
     
    
     720
     
    
      war aber auch das Zuhören schwer, denn der Advokat sprach gegen die
     
    
     721
     
    
      Wand, und zwar leise und schnell. »Wollt ihr, daß ich weggehe?« fragte
     
    
     722
     
    
      Block. »Nun bist du einmal da«, sagte der Advokat. »Bleib!« Man hätte
     
    
     723
     
    
      glauben können, der Advokat habe nicht Blocks Wunsch erfüllt, sondern
     
    
     724
     
    
      ihm, etwa mit Prügeln, gedroht, denn jetzt fing Block wirklich zu zittern an.
     
    
     725
     
    
      »Ich war gestern«, sagte der Advokat, »beim Dritten Richter, meinem
     
    
     726
     
    
      Freund, und habe allmählich das Gespräch auf dich gelenkt. Willst du
     
    
     727
     
    
      wissen, was er sagte?« »O bitte«, sagte Block. Da der Advokat nicht gleich
     
    
     728
     
    
      antwortete, wiederholte Block nochmals die Bitte und neigte sich, als wolle
     
    
     729
     
    
      er niederknien. Da fuhr ihn aber K. an: »Was tust du?« rief er. Da ihn Leni
     
    
     730
     
    
      an dem Ausruf hatte hindern wollen, faßte er auch ihre zweite Hand. Es war
     
    
     731
     
    
      nicht der Druck der Liebe, mit dem er sie festhielt, sie seufzte auch öfters
     
    
     732
     
    
      und suchte ihm die Hände zu entwinden. Für K.s Ausruf aber wurde Block
     
    
     733
     
    
      gestraft, denn der Advokat fragte ihn:»Wer ist denn dein Advokat?« »Ihr
     
    
     734
     
    
      seid es«, sagte Block. »Und außer mir?« fragte der Advokat. »Niemand
     
    
     735
     
    
      außer Euch«, sagte Block. »Dann folge auch niemandem sonst«, sagte der
     
    
     736
     
    
      Advokat. Block erkannte das vollständig an, er maß K. mit bösen Blicken
     
    
     737
     
    
      und schüttelte heftig gegen ihn den Kopf. Hätte man dieses Benehmen in
     
    
     738
     
    
      Worte übersetzt, so wären es grobe Beschimpfungen gewesen. Mit diesem
     
    
     739
     
    
      Menschen hatte K. freundschaftlich über seine eigene Sache reden wollen!
     
    
     740
     
    
      »Ich werde dich nicht mehr stören«, sagte K., in den Sessel zurückgelehnt.
     
    
     741
     
    
      »Knie nieder oder krieche auf allen vieren, tu, was du willst. Ich werde mich
     
    
     742
     
    
      darum nicht kümmern.« Aber Block hatte doch Ehrgefühl, wenigstens
     
    
     743
     
    
      gegenüber K., denn er ging, mit den Fäusten fuchtelnd, auf ihn zu, und rief
     
    
     744
     
    
      so laut, als er es nur in der Nähe des Advokaten wagte: »Sie dürfen nicht so
     
    
     745
     
    
      mit mir reden, das ist nicht erlaubt. Warum beleidigen Sie mich? Und
     
    
     746
     
    
      überdies noch hier, vor dem Herrn Advokaten, wo wir beide, Sie und ich,
     
    
     747
     
    
      nur aus Barmherzigkeit geduldet sind? Sie sind kein besserer Mensch als
     
    
     748
     
    
      ich, denn Sie sind auch angeklagt und haben auch einen Prozeß. Wenn Sie
     
    
     749
     
    
      aber trotzdem noch ein Herr sind, dann bin ich ein ebensolchen Herr, wenn
     
    
     750
     
    
      nicht gar ein noch größerer. Und ich will auch als ein solcher angesprochen
     
    
     751
     
    
      werden, gerade von Ihnen. Wenn Sie sich aber dadurch für bevorzugt
     
    
     752
     
    
      halten, daß Sie hier sitzen und ruhig zuhören dürfen, während ich, wie Sie
     
    
     753
     
    
      sich ausdrücken, auf allen vieren krieche, dann erinnere ich Sie an den
     
    
     754
     
    
      alten Rechtsspruch: für den Verdächtigen ist Bewegung besser als Ruhe,
     
    
     755
     
    
      denn der, welcher ruht, kann immer, ohne es zu wissen, auf einer
     
    
     756
     
    
      Waagschale sein und mit seinen Sünden gewogen werden.« K. sagte
     
    
     757
     
    
      nichts, er staunte nur mit unbeweglichen Augen diesen verwirrten
     
    
     758
     
    
      Menschen an. Was für Veränderungen waren mit ihm nur schon in der
     
    
     759
     
    
      letzten Stunde vor sich gegangen! War es der Prozeß, der ihn so hin und
     
    
     760
     
    
      her warf und ihn nicht erkennen ließ, wo Freund und wo Feind war? Sah er
     
    
     761
     
    
      denn nicht, daß der Advokat ihn absichtlich demütigte und diesmal nichts
     
    
     762
     
    
      anderes bezweckte, als sich vor K. mit seiner Macht zu brüsten und sich
     
    
     763
     
    
      dadurch vielleicht auch K. zu unterwerfen? Wenn Block aber nicht fähig
     
    
     764
     
    
      war, das zu erkennen oder wenn er den Advokaten so sehr fürchtete, daß
     
    
     765
     
    
      ihm jene Erkenntnis nichts helfen konnte, wie kam es, daß er doch wieder
     
    
     766
     
    
      so schlau oder so kühn war, den Advokaten zu betrügen und ihm zu
     
    
     767
     
    
      verschweigen, daß er außer ihm noch andere Advokaten für sich arbeiten
     
    
     768
     
    
      ließ? Und wie wagte er es, K. anzugreifen, da dieser doch gleich sein
     
    
     769
     
    
      Geheimnis verraten konnte? Aber er wagte noch mehr, er ging zum Bett
     
    
     770
     
    
      des Advokaten und begann, sich nun auch dort über K. zu beschweren:
     
    
     771
     
    
      »Herr Advokat«, sagte er, »habt Ihr gehört, wie dieser Mann mit mir
     
    
     772
     
    
      gesprochen hat? Man kann noch die Stunden seines Prozesses zählen, und
     
    
     773
     
    
      schon will er mir, einem Mann, der fünf Jahre im Prozesse steht, gute
     
    
     774
     
    
      Lehren geben. Er beschimpft mich sogar. Weiß nichts und beschimpft
     
    
     775
     
    
      mich, der ich, soweit meine schwachen Kräfte reichen, genau studiert habe,
     
    
     776
     
    
      was Anstand, Pflicht und Gerichtsgebrauch verlangt.« »Kümmere dich um
     
    
     777
     
    
      niemanden«, sagte der Advokat, »und tue, was dir richtig scheint.«
     
    
     778
     
    
      »Gewiß«, sagte Block, als spreche er sich selbst Mut zu, und kniete unter
     
    
     779
     
    
      einem kurzen Seitenblick nun knapp beim Bett nieder. »Ich knie schon,
     
    
     780
     
    
      mein Advokat«, sagte er. Der Advokat schwieg aber. Block streichelte mit
     
    
     781
     
    
      einer Hand vorsichtig das Federbett. In der Stille, die jetzt herrschte, sagte
     
    
     782
     
    
      Leni, indem sie sich von K.s Händen befreite: »Du machst mir Schmerzen.
     
    
     783
     
    
      Laß mich. Ich gehe zu Block.« Sie ging hin und setzte sich auf den
     
    
     784
     
    
      Bettrand. Block war über ihr Kommen sehr erfreut, er bat sie gleich durch
     
    
     785
     
    
      lebhafte, aber stumme Zeichen, sich beim Advokaten für ihn einzusetzen.
     
    
     786
     
    
      Er benötigte offenbar die Mitteilungen des Advokaten sehr dringend, aber
     
    
     787
     
    
      vielleicht nur zu dem Zweck, um sie durch seine übrigen Advokaten
     
    
     788
     
    
      ausnutzen zu lassen. Leni wußte wahrscheinlich genau, wie man dem
     
    
     789
     
    
      Advokaten beikommen könne, sie zeigte auf die Hand des Advokaten und
     
    
     790
     
    
      spitzte die Lippen wie zum Kuß. Gleich führte Block den Handkuß aus und
     
    
     791
     
    
      wiederholte ihn, auf eine Aufforderung Lenis hin, noch zweimal. Aber der
     
    
     792
     
    
      Advokat schwieg noch immer. Da beugte sich Leni über den Advokaten hin,
     
    
     793
     
    
      der schöne Wuchs ihres Körpers wurde sichtbar, als sie sich so streckte,
     
    
     794
     
    
      und strich, tief zu seinem Gesicht geneigt, über sein langes, weißes Haar.
     
    
     795
     
    
      Das zwang ihm nun doch eine Antwort ab. »Ich zögere, es ihm mitzuteilen«,
     
    
     796
     
    
      sagte der Advokat, und man sah, wie er den Kopf ein wenig schüttelte,
     
    
     797
     
    
      vielleicht, um des Druckes von Lenis Hand mehr teilhaftig zu werden. Block
     
    
     798
     
    
      horchte mit gesenktem Kopf, als übertrete er durch dieses Horchen ein
     
    
     799
     
    
      Gebot. »Warum zögerst du denn?« fragte Leni. K. hatte das Gefühl, als höre
     
    
     800
     
    
      er ein einstudiertes Gespräch, das sich schon oft wiederholt hatte, das sich
     
    
     801
     
    
      noch oft wiederholen würde und das nur für Block seine Neuheit nicht
     
    
     802
     
    
      verlieren konnte. »Wie hat er sich heute verhalten?« fragte der Advokat,
     
    
     803
     
    
      statt zu antworten. Ehe sich Leni darüber äußerte, sah sie zu Block hinunter
     
    
     804
     
    
      und beobachtete ein Weilchen, wie er die Hände ihr entgegenhob und
     
    
     805
     
    
      bittend aneinander rieb. Schließlich nickte sie ernst, wandte sich zum
     
    
     806
     
    
      Advokaten und sagte: »Er war ruhig und fleißig.« Ein alter Kaufmann, ein
     
    
     807
     
    
      Mann mit langem Bart, flehte ein junges Mädchen um ein günstiges
     
    
     808
     
    
      Zeugnis an. Mochte er dabei auch Hintergedanken haben, nichts konnte ihn
     
    
     809
     
    
      in den Augen eines Mitmenschen rechtfertigen. K. begriff nicht, wie der
     
    
     810
     
    
      Advokat daran hatte denken können, durch diese Vorführung ihn zu
     
    
     811
     
    
      gewinnen. Hätte er ihn nicht schon früher verjagt, er hätte es durch diese
     
    
     812
     
    
      Szene erreicht. Er entwürdigte fast den Zuseher. So bewirkte also die
     
    
     813
     
    
      Methode des Advokaten, welcher K. glücklicherweise nicht lange genug
     
    
     814
     
    
      ausgesetzt gewesen war, daß der Klient schließlich die ganze Welt vergaß
     
    
     815
     
    
      und nur auf diesem Irrweg zum Ende des Prozesses sich fortzuschleppen
     
    
     816
     
    
      hoffte. Das war kein Klient mehr, das war der Hund des Advokaten. Hätte
     
    
     817
     
    
      ihm dieser befohlen, unter das Bett wie in eine Hundehütte zu kriechen und
     
    
     818
     
    
      von dort aus zu bellen, er hätte es mit Lust getan. Als sei K. beauftragt,
     
    
     819
     
    
      alles, was hier gesprochen wurde, genau in sich aufzunehmen, an einem
     
    
     820
     
    
      höheren Ort die Anzeige davon zu erstatten und einen Bericht abzulegen,
     
    
     821
     
    
      hörte er prüfend und überlegen zu. »Was hat er während des ganzen Tages
     
    
     822
     
    
      getan?« fragte der Advokat. »Ich habe ihn«, sagte Leni, »damit er mich bei
     
    
     823
     
    
      der Arbeit nicht störe, in dem Dienstmädchenzimmer eingesperrt, wo er
     
    
     824
     
    
      sich ja gewöhnlich aufhält. Durch die Lücke konnte ich von Zeit zu Zeit
     
    
     825
     
    
      nachsehen, was er machte. Er kniete immer auf dem Bett, hatte die
     
    
     826
     
    
      Schriften, die du ihm geliehen hast, auf dem Fensterbrett aufgeschlagen
     
    
     827
     
    
      und las in ihnen. Das hat einen guten Eindruck auf mich gemacht; das
     
    
     828
     
    
      Fenster führt nämlich nur in einen Luftschacht und gibt fast kein Licht. Daß
     
    
     829
     
    
      Block trotzdem las, zeigte mir, wie folgsam er ist.« »Es freut mich, das zu
     
    
     830
     
    
      hören«, sagte der Advokat. »Hat er aber auch mit Verständnis gelesen?«
     
    
     831
     
    
      Block bewegte während dieses Gesprächs unaufhörlich die Lippen,
     
    
     832
     
    
      offenbar formulierte er die Antworten, die er von Leni erhoffte. »Darauf
     
    
     833
     
    
      kann ich natürlich«, sagte Leni, »nicht mit Bestimmtheit antworten.
     
    
     834
     
    
      Jedenfalls habe ich gesehen, daß er gründlich las. Er hat den ganzen Tag
     
    
     835
     
    
      über die gleiche Seite gelesen und beim Lesen den Finger die Zeilen
     
    
     836
     
    
      entlanggeführt. Immer, wenn ich zu ihm hineinsah, hat er geseufzt, als
     
    
     837
     
    
      mache ihm das Lesen viel Mühe. Die Schriften, die du ihm geliehen hast,
     
    
     838
     
    
      sind wahrscheinlich schwer verständlich.« »Ja«, sagte der Advokat, »das
     
    
     839
     
    
      sind sie allerdings. Ich glaube auch nicht, daß er etwas von ihnen versteht.
     
    
     840
     
    
      Sie sollen ihm nur eine Ahnung davon geben, wie schwer der Kampf ist,
     
    
     841
     
    
      den ich zu seiner Verteidigung führe. Und für wen führe ich diesen
     
    
     842
     
    
      schweren Kampf? Für – es ist fast lächerlich, es auszusprechen – für
     
    
     843
     
    
      Block. Auch was das bedeutet, soll er begreifen lernen. Hat er
     
    
     844
     
    
      ununterbrochen studiert?« »Fast ununterbrochen«, antwortete Leni, »nur
     
    
     845
     
    
      einmal hat er mich um Wasser zum Trinken gebeten. Da habe ich ihm ein
     
    
     846
     
    
      Glas durch die Luke gereicht. Um acht Uhr habe ich ihn dann
     
    
     847
     
    
      herausgelassen und ihm etwas zu essen gegeben.« Block streifte K. mit
     
    
     848
     
    
      einem Seitenblick, als werde hier Rühmendes von ihm erzählt und müsse
     
    
     849
     
    
      auch auf K. Eindruck machen. Er schien jetzt gute Hoffnungen zu haben,
     
    
     850
     
    
      bewegte sich freier und rückte auf den Knien hin und her. Desto deutlicher
     
    
     851
     
    
      war es, wie er unter den folgenden Worten des Advokaten erstarrte. »Du
     
    
     852
     
    
      lobst ihn«, sagte der Advokat. »Aber gerade das macht es mir schwer, zu
     
    
     853
     
    
      reden. Der Richter hatte sich nämlich nicht günstig ausgesprochen, weder
     
    
     854
     
    
      über Block selbst, noch über seinen Prozeß.« »Nicht günstig?« fragte Leni.
     
    
     855
     
    
      »Wie ist das möglich?« Block sah sie mit einem so gespannten Blick an, als
     
    
     856
     
    
      traue er ihr die Fähigkeit zu, jetzt noch die längst ausgesprochenen Worte
     
    
     857
     
    
      des Richters zu seinen Gunsten zu wenden. »Nicht günstig«, sagte der
     
    
     858
     
    
      Advokat. »Er war sogar unangenehm berührt, als ich von Block zu
     
    
     859
     
    
      sprechen anfing. ›Reden Sie nicht von Block‹, sagte er. ›Er ist mein Klient‹,
     
    
     860
     
    
      sagte ich. ›Sie lassen sich mißbrauchen‹, sagte er. ›Ich halte seine Sache
     
    
     861
     
    
      nicht für verloren‹, sagte ich. ›Sie lassen sich mißbrauchen‹ wiederholte er.
     
    
     862
     
    
      ›Ich glaube es nicht‹, sagte ich. ›Block ist im Prozeß fleißig und immer
     
    
     863
     
    
      hinter seiner Sache her. Er wohnt fast bei mir, um immer auf dem laufenden
     
    
     864
     
    
      zu sein. Solchen Eifer findet man nicht immer. Gewiß, er ist persönlich nicht
     
    
     865
     
    
      angenehm, hat häßliche Umgangsformen und ist schmutzig, aber in
     
    
     866
     
    
      prozessualer Hinsicht ist er untadelhaft.‹ Ich sagte untadelhaft, ich
     
    
     867
     
    
      übertrieb absichtlich. Darauf sagte er: ›Block ist bloß schlau. Er hat viel
     
    
     868
     
    
      Erfahrung angesammelt und versteht es, den Prozeß zu verschleppen. Aber
     
    
     869
     
    
      seine Unwissenheit ist noch viel größer als seine Schlauheit. Was würde er
     
    
     870
     
    
      wohl dazu sagen, wenn er erführe, daß sein Prozeß noch gar nicht
     
    
     871
     
    
      begonnen hat, wenn man ihm sagte, daß noch nicht einmal das
     
    
     872
     
    
      Glockenzeichen zum Beginn des Prozesses gegeben ist.‹ Ruhig, Block«,
     
    
     873
     
    
      sagte der Advokat, denn Block begann sich gerade auf unsicheren Knien
     
    
     874
     
    
      zu erheben und wollte offenbar um Aufklärung bitten. Es war jetzt das
     
    
     875
     
    
      erstemal, daß sich der Advokat mit ausführlicheren Worten geradezu an
     
    
     876
     
    
      Block wendete. Mit müden Augen sah er halb ziellos, halb zu Block
     
    
     877
     
    
      hinunter, der unter diesem Blick wieder langsam in die Knie zurücksank.
     
    
     878
     
    
      »Diese Äußerung des Richters hat für dich gar keine Bedeutung«, sagte der
     
    
     879
     
    
      Advokat. »Erschrick doch nicht bei jedem Wort. Wenn sich das wiederholt,
     
    
     880
     
    
      werde ich dir gar nichts mehr verraten. Man kann keinen Satz beginnen,
     
    
     881
     
    
      ohne daß du einen anschaust, als ob jetzt dein Endurteil käme. Schäme
     
    
     882
     
    
      dich hier vor meinem Klienten! Auch erschütterst du das Vertrauen, das er
     
    
     883
     
    
      in mich setzt. Was willst du denn? Noch lebst du, noch stehst du unter
     
    
     884
     
    
      meinem Schutz. Sinnlose Angst! Du hast irgendwo gelesen, daß das
     
    
     885
     
    
      Endurteil in manchen Fällen unversehens komme, aus beliebigem Munde,
     
    
     886
     
    
      zu beliebiger Zeit. Mit vielen Vorbehalten ist das allerdings wahr, ebenso
     
    
     887
     
    
      wahr aber ist es, daß mich deine Angst anwidert und daß ich darin einen
     
    
     888
     
    
      Mangel des notwendigen Vertrauens sehe. Was habe ich denn gesagt? Ich
     
    
     889
     
    
      habe die Äußerung eines Richters wiedergegeben. Du weißt, die
     
    
     890
     
    
      verschiedenen Ansichten häufen sich um das Verfahren bis zur
     
    
     891
     
    
      Undurchdringlichkeit. Dieser Richter zum Beispiel nimmt den Anfang des
     
    
     892
     
    
      Verfahrens zu einem anderen Zeitpunkt an als ich. Ein
     
    
     893
     
    
      Meinungsunterschied, nichts weiter. In einem gewissen Stadium des
     
    
     894
     
    
      Prozesses wird nach altem Brauch ein Glockenzeichen gegeben. Nach der
     
    
     895
     
    
      Ansicht dieses Richters beginnt damit der Prozeß. Ich kann dir jetzt nicht
     
    
     896
     
    
      alles sagen, was dagegen spricht, du würdest es auch nicht verstehen, es
     
    
     897
     
    
      genüge dir, daß viel dagegen spricht.« Verlegen fuhr Block unten mit den
     
    
     898
     
    
      Fingern durch das Fell des Bettvorlegers, die Angst wegen des Ausspruchs
     
    
     899
     
    
      des Richters ließ ihn zeitweise die eigene Untertänigkeit gegenüber dem
     
    
     900
     
    
      Advokaten vergessen, er dachte dann nur an sich und drehte die Worte des
     
    
     901
     
    
      Richters nach allen Seiten. »Block«, sagte Leni in warnendem Ton und zog
     
    
     902
     
    
      ihn am Rockkragen ein wenig in die Höhe. »Laß jetzt das Fell und höre dem
     
    
     903
     
   
      Advokaten zu.«