Drittes Kapitel
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      Im leeren Sitzungssaal – Der Student – Die Kanzleien
     
    
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      K. wartete während der nächsten Woche von Tag zu Tag auf eine
     
    
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      neuerliche Verständigung, er konnte nicht glauben, daß man seinen
     
    
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      Verzicht auf Verhöre wörtlich genommen hatte, und als die erwartete
     
    
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      Verständigung bis Samstagabend wirklich nicht kam, nahm er an, er sei
     
    
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      stillschweigend in das gleiche Haus für die gleiche Zeit wieder vorgeladen.
     
    
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      Er begab sich daher Sonntags wieder hin, ging diesmal geradewegs über
     
    
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      Treppen und Gänge; einige Leute, die sich seiner erinnerten, grüßten ihn an
     
    
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      ihren Türen, aber er mußte niemanden mehr fragen und kam bald zu der
     
    
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      richtigen Tür. Auf sein Klopfen wurde ihm gleich aufgemacht, und ohne
     
    
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      sich weiter nach der bekannten Frau umzusehen, die bei der Tür
     
    
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      stehenblieb, wollte er gleich ins Nebenzimmer. »Heute ist keine Sitzung«,
     
    
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      sagte die Frau. »Warum sollte keine Sitzung sein?« fragte er und wollte es
     
    
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      nicht glauben. Aber die Frau überzeugte ihn, indem sie die Tür des
     
    
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      Nebenzimmers öffnete. Es war wirklich leer und sah in seiner Leere noch
     
    
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      kläglicher aus als am letzten Sonntag. Auf dem Tisch, der unverändert auf
     
    
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      dem Podium stand, lagen einige Bücher. »Kann ich mir die Bücher
     
    
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      anschauen?« fragte K., nicht aus besonderer Neugierde, sondern nur, um
     
    
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      nicht vollständig nutzlos hier gewesen zu sein. »Nein«, sagte die Frau und
     
    
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      schloß wieder die Tür, »das ist nicht erlaubt. Die Bücher gehören dem
     
    
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      Untersuchungsrichter.« »Ach so«, sagte K. und nickte, »die Bücher sind
     
    
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      wohl Gesetzbücher und es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens, daß
     
    
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      man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird.« »Es
     
    
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      wird so sein«, sagte die Frau, die ihn nicht genau verstanden hatte. »Nun,
     
    
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      dann gehe ich wieder«, sagte K. »Soll ich dem Untersuchungsrichter etwas
     
    
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      melden?« fragte die Frau. »Sie kennen ihn?« fragte K. »Natürlich«, sagte
     
    
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      die Frau, »mein Mann ist ja Gerichtsdiener.« Erst jetzt merkte K., daß das
     
    
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      Zimmer, in dem letzthin nur ein Waschbottich gestanden war, jetzt ein völlig
     
    
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      eingerichtetes Wohnzimmer bildete. Die Frau bemerkte sein Staunen und
     
    
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      sagte: »Ja, wir haben hier freie Wohnung, müssen aber an Sitzungstagen
     
    
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      das Zimmer ausräumen. Die Stellung meines Mannes hat manche
     
    
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      Nachteile.« »Ich staune nicht so sehr über das Zimmer«, sagte K. und
     
    
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      blickte sie böse an, »als vielmehr darüber, daß Sie verheiratet sind.«
     
    
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      »Spielen Sie vielleicht auf den Vorfall in der letzten Sitzung an, durch den
     
    
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      ich Ihre Rede störte?« fragte die Frau. »Natürlich«, sagte K., »heute ist es ja
     
    
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      schon vorüber und fast vergessen, aber damals hat es mich geradezu
     
    
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      wütend gemacht. Und nun sagen Sie selbst, daß Sie eine verheiratete Frau
     
    
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      sind.« »Es war nicht zu Ihrem Nachteil, daß Ihre Rede abgebrochen wurde.
     
    
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      Man hat nachher noch sehr ungünstig über sie geurteilt.« »Mag sein«,
     
    
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      sagte K. ablenkend, »aber Sie entschuldigt das nicht.« »Ich bin vor allen
     
    
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      entschuldigt, die mich kennen«, sagte die Frau, »der, welcher mich damals
     
    
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      umarmt hat, verfolgt mich schon seit langem. Ich mag im allgemeinen nicht
     
    
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      verlockend sein, für ihn bin ich es aber. Es gibt hierfür keinen Schutz, auch
     
    
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      mein Mann hat sich schon damit abgefunden; will er seine Stellung
     
    
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      behalten, muß er es dulden, denn jener Mann ist Student und wird
     
    
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      voraussichtlich zu größerer Macht kommen. Er ist immerfort hinter mir her,
     
    
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      gerade ehe Sie kamen, ist er fortgegangen.« »Es paßt zu allem anderen«,
     
    
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      sagte K., »es überrascht mich nicht.« »Sie wollen hier wohl einiges
     
    
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      verbessern?« fragte die Frau langsam und prüfend, als sage sie etwas, was
     
    
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      sowohl für sie als für K. gefährlich war. »Ich habe das schon aus Ihrer Rede
     
    
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      geschlossen, die mir persönlich sehr gut gefallen hat. Ich habe allerdings
     
    
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      nur einen Teil gehört, den Anfang habe ich versäumt und während des
     
    
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      Schlusses lag ich mit dem Studenten auf dem Boden. – Es ist ja so
     
    
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      widerlich hier«, sagte sie nach einer Pause und faßte K.s Hand. »Glauben
     
    
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      Sie, daß es ihnen gelingen wird, eine Besserung zu erreichen?« K. lächelte
     
    
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      und drehte seine Hand ein wenig in ihren weichen Händen. »Eigentlich«,
     
    
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      sagte er, »bin ich nicht dazu angestellt, Besserungen hier zu erreichen, wie
     
    
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      Sie sich ausdrücken, und wenn Sie es zum Beispiel dem
     
    
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      Untersuchungsrichter sagten, würden Sie ausgelacht oder bestraft werden.
     
    
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      Tatsächlich hätte ich mich auch aus freiem Willen in diese Dinge gewiß
     
    
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      nicht eingemischt, und meinen Schlaf hätte die Verbesserungsbedürftigkeit
     
    
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      dieses Gerichtswesens niemals gestört. Aber ich bin dadurch, daß ich
     
    
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      angeblich verhaftet wurde – ich bin nämlich verhaftet -, gezwungen worden,
     
    
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      hier einzugreifen, und zwar um meinetwillen. Wenn ich aber dabei auch
     
    
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      Ihnen irgendwie nützlich sein kann, werde ich es natürlich sehr gerne tun.
     
    
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      Nicht etwa nur aus Nächstenliebe, sondern außerdem deshalb, weil auch
     
    
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      Sie mir helfen können.« »Wie könnte ich denn das?« fragte die Frau.
     
    
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      »Indem Sie mir zum Beispiel die Bücher dort auf dem Tisch zeigen.« »Aber
     
    
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      gewiß«, rief die Frau und zog ihn eiligst hinter sich her. Es waren alte,
     
    
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      abgegriffene Bücher, ein Einbanddeckel war in der Mitte fast zerbrochen,
     
    
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      die Stücke hingen nur durch Fasern zusammen. »Wie schmutzig hier alles
     
    
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      ist«, sagte K. kopfschüttelnd, und die Frau wischte mit ihrer Schürze, ehe
     
    
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      K. nach den Büchern greifen konnte, wenigstens oberflächlich den Staub
     
    
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      weg. K. schlug das oberste Buch auf, es erschien ein unanständiges Bild.
     
    
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      Ein Mann und eine Frau saßen nackt auf einem Kanapee, die gemeine
     
    
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      Absicht des Zeichners war deutlich zu erkennen, aber seine
     
    
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      Ungeschicklichkeit war so groß gewesen, daß schließlich doch nur ein
     
    
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      Mann und eine Frau zu sehen waren, die allzu körperlich aus dem Bilde
     
    
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      hervorragten, übermäßig aufrecht dasaßen und sich infolge falscher
     
    
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      Perspektive nur mühsam einander zuwendeten. K. blätterte nicht weiter,
     
    
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      sondern schlug nur noch das Titelblatt des zweiten Buches auf, es war ein
     
    
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      Roman mit dem Titel: »Die Plagen, welche Grete von ihrem Manne Hans zu
     
    
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      erleiden hatte.« »Das sind die Gesetzbücher, die hier studiert werden«,
     
    
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      sagte K., »von solchen Menschen soll ich gerichtet werden.« »Ich werde
     
    
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      Ihnen helfen«, sagte die Frau. »Wollen Sie?« »Könnten Sie denn das
     
    
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      wirklich, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Sie sagten doch vorhin, Ihr
     
    
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      Mann sei sehr abhängig von Vorgesetzten.« »Trotzdem will ich Ihnen
     
    
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      helfen«, sagte die Frau, »kommen Sie, wir müssen es besprechen. Über
     
    
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      meine Gefahr reden Sie nicht mehr, ich fürchte die Gefahr nur dort, wo ich
     
    
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      sie fürchten will. Kommen Sie.« Sie zeigte auf das Podium und bat ihn, sich
     
    
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      mit ihr auf die Stufe zu setzen. »Sie haben schöne dunkle Augen«, sagte
     
    
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      sie, nachdem sie sich gesetzt hatten, und sah K. von unten ins Gesicht,
     
    
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      »man sagt mir, ich hätte auch schöne Augen, aber Ihre sind viel schöner.
     
    
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      Sie fielen mir übrigens gleich damals auf, als Sie zum erstenmal hier
     
    
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      eintraten. Sie waren auch der Grund, warum ich dann später hierher ins
     
    
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      Versammlungszimmer ging, was ich sonst niemals tue und was mir sogar
     
    
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      gewissermaßen verboten ist.« Das ist also alles, dachte K., sie bietet sich
     
    
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      mir an, sie ist verdorben wie alle hier rings herum, sie hat die
     
    
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      Gerichtsbeamten satt, was ja begreiflich ist, und begrüßt deshalb jeden
     
    
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      beliebigen Fremden mit einem Kompliment wegen seiner Augen. Und K.
     
    
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      stand stillschweigend auf, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen
     
    
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      und dadurch der Frau sein Verhalten erklärt. »Ich glaube nicht, daß Sie mir
     
    
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      helfen können«, sagte er, »um mir wirklich zu helfen, müßte man
     
    
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      Beziehungen zu hohen Beamten haben. Sie aber kennen gewiß nur die
     
    
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      niedrigen Angestellten, die sich hier in Mengen herumtreiben. Diese kennen
     
    
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      Sie gewiß sehr gut und könnten bei ihnen auch manches durchsetzen, das
     
    
     109
     
    
      bezweifle ich nicht, aber das Größte, was man bei ihnen durchsetzen
     
    
     110
     
    
      könnte, wäre für den endgültigen Ausgang des Prozesses gänzlich
     
    
     111
     
    
      belanglos. Sie aber hätten sich dadurch doch einige Freunde verscherzt.
     
    
     112
     
    
      Das will ich nicht. Führen Sie Ihr bisheriges Verhältnis zu diesen Leuten
     
    
     113
     
    
      weiter, es scheint mir nämlich, daß es Ihnen unentbehrlich ist. Ich sage das
     
    
     114
     
    
      nicht ohne Bedauern, denn, um Ihr Kompliment doch auch irgendwie zu
     
    
     115
     
    
      erwidern, auch Sie gefallen mir gut, besonders wenn Sie mich wie jetzt so
     
    
     116
     
    
      traurig ansehen, wozu übrigens für Sie gar kein Grund ist. Sie gehören zu
     
    
     117
     
    
      der Gesellschaft, die ich bekämpfen muß, befinden sich aber in ihr sehr
     
    
     118
     
    
      wohl, Sie lieben sogar den Studenten, und wenn Sie ihn nicht lieben, so
     
    
     119
     
    
      ziehen Sie ihn doch wenigstens Ihrem Manne vor. Das konnte man aus
     
    
     120
     
    
      Ihren Worten leicht erkennen.« »Nein!« rief sie, blieb sitzen und griff nach
     
    
     121
     
    
      K.s Hand, die er ihr nicht rasch genug entzog. »Sie dürfen jetzt nicht
     
    
     122
     
    
      weggehen, Sie dürfen nicht mit einem falschen Urteil über mich weggehen!
     
    
     123
     
    
      Brächten Sie es wirklich zustande, jetzt wegzugehen? Bin ich wirklich so
     
    
     124
     
    
      wertlos, daß Sie mir nicht einmal den Gefallen tun wollen, noch ein kleines
     
    
     125
     
    
      Weilchen hierzubleiben?« »Sie mißverstehen mich«, sagte K. und setzte
     
    
     126
     
    
      sich, »wenn Ihnen wirklich daran liegt, daß ich hier bleibe, bleibe ich gern,
     
    
     127
     
    
      ich habe ja Zeit, ich kam doch in der Erwartung her, daß heute eine
     
    
     128
     
    
      Verhandlung sein werde. Mit dem, was ich früher sagte, wollte ich Sie nur
     
    
     129
     
    
      bitten, in meinem Prozeß nichts für mich zu unternehmen. Aber auch das
     
    
     130
     
    
      muß Sie nicht kränken, wenn Sie bedenken, daß mir am Ausgang des
     
    
     131
     
    
      Prozesses gar nichts liegt und daß ich über eine Verurteilung nur lachen
     
    
     132
     
    
      werde. Vorausgesetzt, daß es überhaupt zu einem wirklichen Abschluß des
     
    
     133
     
    
      Prozesses kommt, was ich sehr bezweifle. Ich glaube vielmehr, daß das
     
    
     134
     
    
      Verfahren infolge Faulheit oder Vergeßlichkeit oder vielleicht sogar infolge
     
    
     135
     
    
      Angst der Beamtenschaft schon abgebrochen ist oder in der nächsten Zeit
     
    
     136
     
    
      abgebrochen werden wird. Möglich ist allerdings auch, daß man in
     
    
     137
     
    
      Hoffnung auf irgendeine größere Bestechung den Prozeß scheinbar
     
    
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      weiterführen wird, ganz vergeblich, wie ich heute schon sagen kann, denn
     
    
     139
     
    
      ich besteche niemanden. Es wäre immerhin eine Gefälligkeit, die Sie mir
     
    
     140
     
    
      leisten könnten, wenn Sie dem Untersuchungsrichter oder irgend
     
    
     141
     
    
      jemandem sonst, der wichtige Nachrichten gern verbreitet, mitteilten, daß
     
    
     142
     
    
      ich niemals und durch keine Kunststücke, an denen die Herren wohl reich
     
    
     143
     
    
      sind, zu einer Bestechung zu bewegen sein werde. Es wäre ganz
     
    
     144
     
    
      aussichtslos, das können Sie ihnen offen sagen. Übrigens wird man es
     
    
     145
     
    
      vielleicht selbst schon bemerkt haben, und selbst wenn dies nicht sein
     
    
     146
     
    
      sollte, liegt mir gar nicht so viel daran, daß man es jetzt schon erfährt. Es
     
    
     147
     
    
      würde ja dadurch den Herren nur Arbeit erspart werden, allerdings auch mir
     
    
     148
     
    
      einige Unannehmlichkeiten, die ich aber gern auf mich nehme, wenn ich
     
    
     149
     
    
      weiß, daß jede gleichzeitig ein Hieb für die anderen ist. Und daß es so wird,
     
    
     150
     
    
      dafür will ich sorgen. Kennen Sie eigentlich den Untersuchungsrichter?«
     
    
     151
     
    
      »Natürlich«, sagte die Frau, »an den dachte ich sogar zuerst, als ich Ihnen
     
    
     152
     
    
      Hilfe anbot. Ich wußte nicht, daß er nur ein niedriger Beamter ist, aber da
     
    
     153
     
    
      Sie es sagen, wird es wahrscheinlich richtig sein. Trotzdem glaube ich, daß,
     
    
     154
     
    
      der Bericht, den er nach oben liefert, immerhin einigen Einfluß hat. Und er
     
    
     155
     
    
      schreibt soviel Berichte. Sie sagen, daß die Beamten faul sind, alle gewiß
     
    
     156
     
    
      nicht, besonders dieser Untersuchungsrichter nicht, er schreibt sehr viel.
     
    
     157
     
    
      Letzten Sonntag zum Beispiel dauerte die Sitzung bis gegen Abend. Alle
     
    
     158
     
    
      Leute gingen weg, der Untersuchungsrichter aber blieb im Saal, ich mußte
     
    
     159
     
    
      ihm eine Lampe bringen, ich hatte nur eine kleine Küchenlampe, aber er
     
    
     160
     
    
      war mit ihr zufrieden und fing gleich zu schreiben an. Inzwischen war auch
     
    
     161
     
    
      mein Mann gekommen, der an jenem Sonntag gerade Urlaub hatte, wir
     
    
     162
     
    
      holten die Möbel, richteten wieder unser Zimmer ein, es kamen dann noch
     
    
     163
     
    
      Nachbarn, wir unterhielten uns noch bei einer Kerze, kurz, wir vergaßen
     
    
     164
     
    
      den Untersuchungsrichter und gingen schlafen. Plötzlich in der Nacht, es
     
    
     165
     
    
      muß schon tief in der Nacht gewesen sein, wache ich auf, neben dem Bett
     
    
     166
     
    
      steht der Untersuchungsrichter und blendet die Lampe mit der Hand ab, so
     
    
     167
     
    
      daß auf meinen Mann kein Licht fällt, es war unnötige Vorsicht, mein Mann
     
    
     168
     
    
      hat einen solchen Schlaf, daß ihn auch das Licht nicht geweckt hätte. Ich
     
    
     169
     
    
      war so erschrocken, daß ich fast geschrien hätte, aber der
     
    
     170
     
    
      Untersuchungsrichter war sehr freundlich, ermahnte mich zur Vorsicht,
     
    
     171
     
    
      flüsterte mir zu, daß er bis jetzt geschrieben habe, daß er mir jetzt die
     
    
     172
     
    
      Lampe zurückbringe und daß er niemals den Anblick vergessen werde, wie
     
    
     173
     
    
      er mich schlafend gefunden habe. Mit dem allem wollte ich Ihnen nur
     
    
     174
     
    
      sagen, daß der Untersuchungsrichter tatsächlich viele Berichte schreibt,
     
    
     175
     
    
      insbesondere über Sie, denn Ihre Einvernahme war gewiß einer der
     
    
     176
     
    
      Hauptgegenstände der sonntäglichen Sitzung. Solche langen Berichte
     
    
     177
     
    
      können aber doch nicht ganz bedeutungslos sein. Außerdem aber können
     
    
     178
     
    
      Sie doch auch aus dem Vorfall sehen, daß sich der Untersuchungsrichter
     
    
     179
     
    
      um mich bewirbt und daß ich gerade jetzt in der ersten Zeit, er muß mich
     
    
     180
     
    
      überhaupt erst jetzt bemerkt haben, großen Einfluß auf ihn haben kann.
     
    
     181
     
    
      Daß ihm viel an mir liegt, dafür habe ich jetzt auch noch andere Beweise. Er
     
    
     182
     
    
      hat mir gestern durch den Studenten, zu dem er viel Vertrauen hat und der
     
    
     183
     
    
      sein Mitarbeiter ist, seidene Strümpfe zum Geschenk geschickt, angeblich
     
    
     184
     
    
      dafür, daß ich das Sitzungszimmer aufräume, aber das ist nur ein Vorwand,
     
    
     185
     
    
      denn diese Arbeit ist doch nur meine Pflicht und für sie wird mein Mann
     
    
     186
     
    
      bezahlt. Es sind schöne Strümpfe, sehen Sie« – sie streckte die Beine, zog
     
    
     187
     
    
      die Röcke bis zum Knie hinauf und sah auch selbst die Strümpfe an -, »es
     
    
     188
     
    
      sind schöne Strümpfe, aber doch eigentlich zu fein und für mich nicht
     
    
     189
     
    
      geeignet.«
     
    
     190
     
    
      Plötzlich unterbrach sie sich, legte ihre Hand auf K.s Hand, als wolle sie
     
    
     191
     
    
      ihn beruhigen, und flüsterte: »Still, Berthold sieht uns zu.« K. hob langsam
     
    
     192
     
    
      den Blick. In der Tür des Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er war
     
    
     193
     
    
      klein, hatte nicht ganz gerade Beine und suchte sich durch einen kurzen,
     
    
     194
     
    
      schütteren, rötlichen Vollbart, in dem er die Finger fortwährend
     
    
     195
     
    
      herumführte, Würde zu geben. K. sah ihn neugierig an, es war ja der erste
     
    
     196
     
    
      Student der unbekannten Rechtswissenschaft, dem er gewissermaßen
     
    
     197
     
    
      menschlich begegnete, ein Mann, der wahrscheinlich auch einmal zu
     
    
     198
     
    
      höheren Beamtenstellen gelangen würde. Der Student dagegen kümmerte
     
    
     199
     
    
      sich um K. scheinbar gar nicht, er winkte nur mit einem Finger, den er für
     
    
     200
     
    
      einen Augenblick aus seinem Barte zog, der Frau und ging zum Fenster, die
     
    
     201
     
    
      Frau beugte sich zu K. und flüsterte: »Seien Sie mir nicht böse, ich bitte Sie
     
    
     202
     
    
      vielmals, denken Sie auch nicht schlecht von mir, ich muß jetzt zu ihm
     
    
     203
     
    
      gehen, zu diesem scheußlichen Menschen, sehen Sie nur seine krummen
     
    
     204
     
    
      Beine an. Aber ich komme gleich zurück, und dann gehe ich mit Ihnen,
     
    
     205
     
    
      wenn Sie mich mitnehmen, ich gehe, wohin Sie wollen, Sie können mit mir
     
    
     206
     
    
      tun, was Sie wollen, ich werde glücklich sein, wenn ich von hier für
     
    
     207
     
    
      möglichst lange Zeit fort bin, am liebsten allerdings für immer.« Sie
     
    
     208
     
    
      streichelte noch K.s Hand, sprang auf und lief zum Fenster. Unwillkürlich
     
    
     209
     
    
      haschte noch K. nach ihrer Hand ins Leere. Die Frau verlockte ihn wirklich,
     
    
     210
     
    
      er fand trotz allem Nachdenken keinen haltbaren Grund dafür, warum er der
     
    
     211
     
    
      Verlockung nicht nachgeben sollte. Den flüchtigen Einwand, daß ihn die
     
    
     212
     
    
      Frau für das Gericht einfange, wehrte er ohne Mühe ab. Auf welche Weise
     
    
     213
     
    
      konnte sie ihn einfangen? Blieb er nicht immer so frei, daß er das ganze
     
    
     214
     
    
      Gericht, wenigstens soweit es ihn betraf, sofort zerschlagen konnte?
     
    
     215
     
    
      Konnte er nicht dieses geringe Vertrauen zu sich haben? Und ihr
     
    
     216
     
    
      Anerbieten einer Hilfe klang aufrichtig und war vielleicht nicht wertlos. Und
     
    
     217
     
    
      es gab vielleicht keine bessere Rache an dem Untersuchungsrichter und
     
    
     218
     
    
      seinem Anhang, als daß er ihnen diese Frau entzog und an sich nahm. Es
     
    
     219
     
    
      könnte sich dann einmal der Fall ereignen, daß der Untersuchungsrichter
     
    
     220
     
    
      nach mühevoller Arbeit an Lügenberichten über K. in später Nacht das Bett
     
    
     221
     
    
      der Frau leer fand. Und leer deshalb, weil sie K. gehörte, weil diese Frau am
     
    
     222
     
    
      Fenster, dieser üppige, gelenkige, warme Körper im dunklen Kleid aus
     
    
     223
     
    
      grobem, schwerem Stoff, durchaus nur K. gehörte.
     
    
     224
     
    
      Nachdem er auf diese Weise die Bedenken gegen die Frau beseitigt hatte,
     
    
     225
     
    
      wurde ihm das leise Zwiegespräch am Fenster zu lang, er klopfte mit den
     
    
     226
     
    
      Knöcheln auf das Podium und dann auch mit der Faust. Der Student sah
     
    
     227
     
    
      kurz über die Schulter der Frau hinweg nach K. hin, ließ sich aber nicht
     
    
     228
     
    
      stören, ja drückte sich sogar eng an die Frau und umfaßte sie. Sie senkte
     
    
     229
     
    
      tief den Kopf, als höre sie ihm aufmerksam zu, er küßte sie, als sie sich
     
    
     230
     
    
      bückte, laut auf den Hals, ohne sich im Reden wesentlich zu unterbrechen.
     
    
     231
     
    
      K. sah darin die Tyrannei bestätigt, die der Student nach den Klagen der
     
    
     232
     
    
      Frau über sie ausübte, stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Er
     
    
     233
     
    
      überlegte unter Seitenblicken nach dem Studenten, wie er ihn möglichst
     
    
     234
     
    
      schnell wegschaffen könnte, und es war ihm daher nicht unwillkommen, als
     
    
     235
     
    
      der Student, offenbar gestört durch K.s Herumgehen, das schon zeitweilig
     
    
     236
     
    
      zu einem Trampeln ausgeartet war, bemerkte: »Wenn Sie ungeduldig sind,
     
    
     237
     
    
      können Sie weggehen. Sie hätten auch schon früher weggehen können, es
     
    
     238
     
    
      hätte Sie niemand vermißt. Ja, Sie hätten sogar weggehen sollen, und zwar
     
    
     239
     
    
      schon bei meinem Eintritt, und zwar schleunigst.« Es mochte in dieser
     
    
     240
     
    
      Bemerkung alle mögliche Wut zum Ausbruch kommen, jedenfalls lag darin
     
    
     241
     
    
      aber auch der Hochmut des künftigen Gerichtsbeamten, der zu einem
     
    
     242
     
    
      mißliebigen Angeklagten sprach. K. blieb ganz nahe bei ihm stehen und
     
    
     243
     
    
      sagte lächelnd: »Ich bin ungeduldig, das ist richtig, aber diese Ungeduld
     
    
     244
     
    
      wird am leichtesten dadurch zu beseitigen sein, daß Sie uns verlassen.
     
    
     245
     
    
      Wenn Sie aber vielleicht hergekommen sind, um zu studieren – ich hörte,
     
    
     246
     
    
      daß Sie Student sind -, so will ich Ihnen gerne Platz machen und mit der
     
    
     247
     
    
      Frau weggehen. Sie werden übrigens noch viel studieren müssen, ehe Sie
     
    
     248
     
    
      Richter werden. Ich kenne zwar Ihr Gerichtswesen noch nicht sehr genau,
     
    
     249
     
    
      nehme aber an, daß es mit groben Reden allein, die Sie allerdings schon
     
    
     250
     
    
      unverschämt gut zu führen wissen, noch lange nicht getan ist.« »Man hätte
     
    
     251
     
    
      ihn nicht so frei herumlaufen lassen sollen«, sagte der Student, als wolle er
     
    
     252
     
    
      der Frau eine Erklärung für K.s beleidigende Rede geben, »es war ein
     
    
     253
     
    
      Mißgriff. Ich habe es dem Untersuchungsrichter gesagt. Man hätte ihn
     
    
     254
     
    
      zwischen den Verhören zumindest in seinem Zimmer halten sollen. Der
     
    
     255
     
    
      Untersuchungsrichter ist manchmal unbegreiflich.« »Unnütze Reden«,
     
    
     256
     
    
      sagte K. und streckte die Hand nach der Frau aus, »kommen Sie.« »Ach
     
    
     257
     
    
      so«, sagte der Student, »nein, nein, die bekommen Sie nicht«, und mit einer
     
    
     258
     
    
      Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, hob er sie auf einen Arm und lief
     
    
     259
     
    
      mit gebeugtem Rücken, zärtlich zu ihr aufsehend, zur Tür. Eine gewisse
     
    
     260
     
    
      Angst vor K. war hierbei nicht zu verkennen, trotzdem wagte er es, K. noch
     
    
     261
     
    
      zu reizen, indem er mit der freien Hand den Arm der Frau streichelte und
     
    
     262
     
    
      drückte. K. lief ein paar Schritte neben ihm her, bereit, ihn zu fassen und,
     
    
     263
     
    
      wenn es sein mußte, zu würgen, da sagte die Frau: »Es hilft nichts, der
     
    
     264
     
    
      Untersuchungsrichter läßt mich holen, ich darf nicht mit Ihnen gehen,
     
    
     265
     
    
      dieses kleine Scheusal«, sie fuhr hierbei dem Studenten mit der Hand übers
     
    
     266
     
    
      Gesicht, »dieses kleine Scheusal läßt mich nicht.« »Und Sie wollen nicht
     
    
     267
     
    
      befreit werden!« schrie K. und legte die Hand auf die Schulter des
     
    
     268
     
    
      Studenten, der mit den Zähnen nach ihr schnappte. »Nein!« rief die Frau
     
    
     269
     
    
      und wehrte K. mit beiden Händen ab, »nein, nein, nur das nicht, woran
     
    
     270
     
    
      denken Sie denn! Das wäre mein Verderben. Lassen Sie ihn doch, o bitte,
     
    
     271
     
    
      lassen Sie ihn doch. Er führt ja nur den Befehl des Untersuchungsrichters
     
    
     272
     
    
      aus und trägt mich zu ihm.« »Dann mag er laufen und Sie will ich nie mehr
     
    
     273
     
    
      sehen«, sagte K. wütend vor Enttäuschung und gab dem Studenten einen
     
    
     274
     
    
      Stoß in den Rücken, daß er kurz stolperte, um gleich darauf, vor Vergnügen
     
    
     275
     
    
      darüber, daß er nicht gefallen war, mit seiner Last desto höher zu springen.
     
    
     276
     
    
      K. ging ihnen langsam nach, er sah ein, daß das die erste zweifellose
     
    
     277
     
    
      Niederlage war, die er von diesen Leuten erfahren hatte. Es war natürlich
     
    
     278
     
    
      kein Grund, sich deshalb zu ängstigen, er erhielt die Niederlage nur
     
    
     279
     
    
      deshalb, weil er den Kampf aufsuchte. Wenn er zu Hause bliebe und sein
     
    
     280
     
    
      gewohntes Leben führte, war er jedem dieser Leute tausendfach überlegen
     
    
     281
     
    
      und konnte jeden mit einem Fußtritt von seinem Wege räumen. Und er
     
    
     282
     
    
      stellte sich die allerlächerlichste Szene vor, die es zum Beispiel geben
     
    
     283
     
    
      würde, wenn dieser klägliche Student, dieses aufgeblasene Kind, dieser
     
    
     284
     
    
      krumme Bartträger vor Elsas Bett knien und mit gefalteten Händen um
     
    
     285
     
    
      Gnade bitten würde. K. gefiel diese Vorstellung so, daß er beschloß, wenn
     
    
     286
     
    
      sich nur irgendeine Gelegenheit dafür ergeben sollte, den Studenten einmal
     
    
     287
     
    
      zu Elsa mitzunehmen.
     
    
     288
     
    
      Aus Neugierde eilte K. noch zur Tür, er wollte sehen, wohin die Frau
     
    
     289
     
    
      getragen wurde, der Student würde sie doch nicht etwa über die Straßen
     
    
     290
     
    
      auf dem Arm tragen. Es zeigte sich, daß der Weg viel kürzer war. Gleich
     
    
     291
     
    
      gegenüber der Wohnung führte eine schmale hölzerne Treppe
     
    
     292
     
    
      wahrscheinlich zum Dachboden, sie machte eine Wendung, so daß man ihr
     
    
     293
     
    
      Ende nicht sah. Über diese Treppe trug der Student die Frau hinauf, schon
     
    
     294
     
    
      sehr langsam und stöhnend, denn er war durch das bisherige Laufen
     
    
     295
     
    
      geschwächt. Die Frau grüßte mit der Hand zu K. hinunter und suchte durch
     
    
     296
     
    
      Auf- und Abziehen der Schultern zu zeigen, daß sie an der Entführung
     
    
     297
     
    
      unschuldig sei, viel Bedauern lag aber in dieser Bewegung nicht. K. sah sie
     
    
     298
     
    
      ausdruckslos wie eine Fremde an, er wollte weder verraten, daß er
     
    
     299
     
    
      enttäuscht war, noch auch, daß er die Enttäuschung leicht überwinden
     
    
     300
     
    
      könne.
     
    
     301
     
    
      Die zwei waren schon verschwunden, K. aber stand noch immer in der
     
    
     302
     
    
      Tür. Er mußte annehmen, daß ihn die Frau nicht nur betrogen, sondern mit
     
    
     303
     
    
      der Angabe, daß sie zum Untersuchungsrichter getragen werde, auch
     
    
     304
     
    
      belogen habe. Der Untersuchungsrichter würde doch nicht auf dem
     
    
     305
     
    
      Dachboden sitzen und warten. Die Holztreppe erklärte nichts, so lange man
     
    
     306
     
    
      sie auch ansah. Da bemerkte K. einen kleinen Zettel neben dem Aufgang,
     
    
     307
     
    
      ging hinüber und las in einer kindlichen, ungeübten Schrift: »Aufgang zu
     
    
     308
     
    
      den Gerichtskanzleien.« Hier auf dem Dachboden dieses Miethauses waren
     
    
     309
     
    
      also die Gerichtskanzleien? Das war keine Einrichtung, die viel Achtung
     
    
     310
     
    
      einzuflößen imstande war und es war für einen Angeklagten beruhigend,
     
    
     311
     
    
      sich vorzustellen, wie wenig Geldmittel diesem Gericht zur Verfügung
     
    
     312
     
    
      standen, wenn es seine Kanzleien dort unterbrachte, wo die Mietsparteien,
     
    
     313
     
    
      die schon selbst zu den Ärmsten gehörten, ihren unnützen Kram hinwerfen.
     
    
     314
     
    
      Allerdings war es nicht ausgeschlossen, daß man Geld genug hatte, daß
     
    
     315
     
    
      aber die Beamtenschaft sich darüber warf, ehe es für Gerichtszwecke
     
    
     316
     
    
      verwendet wurde. Das war nach den bisherigen Erfahrungen K.s sogar sehr
     
    
     317
     
    
      wahrscheinlich, nur war dann eine solche Verlotterung des Gerichtes für
     
    
     318
     
    
      einen Angeklagten zwar entwürdigend, aber im Grunde noch beruhigender,
     
    
     319
     
    
      als es die Armut des Gerichtes gewesen wäre. Nun war es K. auch
     
    
     320
     
    
      begreiflich, daß man sich beim ersten Verhör schämte, den Angeklagten
     
    
     321
     
    
      auf den Dachboden vorzuladen und es vorzog, ihn in seiner Wohnung zu
     
    
     322
     
    
      belästigen. In welcher Stellung befand sich doch K. gegenüber dem Richter,
     
    
     323
     
    
      der auf dem Dachboden saß, während er selbst in der Bank ein großes
     
    
     324
     
    
      Zimmer mit einem Vorzimmer hatte und durch eine riesige Fensterscheibe
     
    
     325
     
    
      auf den belebten Stadtplatz hinuntergehen konnte! Allerdings hatte er keine
     
    
     326
     
    
      Nebeneinkünfte aus Bestechungen oder Unterschlagungen und konnte
     
    
     327
     
    
      sich auch vom Diener keine Frau auf dem Arm ins Büro tragen lassen.
     
    
     328
     
    
      Darauf wollte K. aber, wenigstens in diesem Leben, gerne verzichten.
     
    
     329
     
    
      K. stand noch vor dem Anschlagzettel, als ein Mann die Treppe
     
    
     330
     
    
      heraufkam, durch die offene Tür ins Wohnzimmer sah, aus dem man auch
     
    
     331
     
    
      das Sitzungszimmer sehen konnte, und schließlich K. fragte, ob er hier
     
    
     332
     
    
      nicht vor kurzem eine Frau gesehen habe. »Sie sind der Gerichtsdiener,
     
    
     333
     
    
      nicht?« fragte K. »Ja«, sagte der Mann, »ach so, Sie sind der Angeklagte K.,
     
    
     334
     
    
      jetzt erkenne ich Sie auch, seien Sie willkommen.« Und er reichte K., der es
     
    
     335
     
    
      gar nicht erwartet hatte, die Hand. »Heute ist aber keine Sitzung angezeigt«,
     
    
     336
     
    
      sagte dann der Gerichtsdiener, als K. schwieg. »Ich weiß«, sagte K. und
     
    
     337
     
    
      betrachtete den Zivilrock des Gerichtsdieners, der als einziges amtliches
     
    
     338
     
    
      Abzeichen neben einigen gewöhnlichen Knöpfen auch zwei vergoldete
     
    
     339
     
    
      Knöpfe aufwies, die von einem alten Offiziersmantel abgetrennt zu sein
     
    
     340
     
    
      schienen. »Ich habe vor einem Weilchen mit Ihrer Frau gesprochen. Sie ist
     
    
     341
     
    
      nicht mehr hier. Der Student hat sie zum Untersuchungsrichter getragen.«
     
    
     342
     
    
      »Sehen Sie«, sagte der Gerichtsdiener, »immer trägt man sie mir weg.
     
    
     343
     
    
      Heute ist doch Sonntag, und ich bin zu keiner Arbeit verpflichtet, aber nur,
     
    
     344
     
    
      um mich von hier zu entfernen, schickt man mich mit einer jedenfalls
     
    
     345
     
    
      unnützen Meldung weg. Und zwar schickt man mich nicht weit weg, so daß
     
    
     346
     
    
      ich die Hoffnung habe, wenn ich mich sehr beeile, vielleicht noch
     
    
     347
     
    
      rechtzeitig zurückzukommen. Ich laufe also, so sehr ich kann, schreie dem
     
    
     348
     
    
      Amt, zu dem ich geschickt wurde, meine Meldung durch den Türspalt so
     
    
     349
     
    
      atemlos zu, daß man sie kaum verstanden haben wird, laufe wieder zurück,
     
    
     350
     
    
      aber der Student hat sich noch mehr beeilt als ich, er hatte allerdings auch
     
    
     351
     
    
      einen kürzeren Weg, er mußte nur die Bodentreppe hinunterlaufen. Wäre
     
    
     352
     
    
      ich nicht so abhängig, ich hätte den Studenten schon längst hier an der
     
    
     353
     
    
      Wand zerdrückt. Hier neben dem Anschlagzettel. Davon träume ich immer.
     
    
     354
     
    
      Hier, ein wenig über dem Fußboden, ist er festgedrückt, die Arme gestreckt,
     
    
     355
     
    
      die Finger gespreizt, die krummen Beine zum Kreis gedreht, und
     
    
     356
     
    
      ringsherum Blutspritzer. Bisher war es aber nur Traum.« »Eine andere Hilfe
     
    
     357
     
    
      gibt es nicht?« fragte K. lächelnd. »Ich wüßte keine«, sagte der
     
    
     358
     
    
      Gerichtsdiener. »Und jetzt wird es ja noch ärger, bisher hat er sie nur zu
     
    
     359
     
    
      sich getragen, jetzt trägt er sie, was ich allerdings längst erwartet habe,
     
    
     360
     
    
      auch zum Untersuchungsrichter.« »Hat denn ihre Frau gar keine Schuld
     
    
     361
     
    
      dabei«, fragte K., er mußte sich bei dieser Frage bezwingen, so sehr fühlte
     
    
     362
     
    
      auch er jetzt die Eifersucht. »Aber gewiß«, sagte der Gerichtsdiener, »sie
     
    
     363
     
    
      hat sogar die größte Schuld. Sie hat sich ja an ihn gehängt. Was ihn betrifft,
     
    
     364
     
    
      er läuft allen Weibern nach. In diesem Hause allein ist er schon aus fünf
     
    
     365
     
    
      Wohnungen, in die er sich eingeschlichen hat, hinausgeworfen worden.
     
    
     366
     
    
      Meine Frau ist allerdings die Schönste im ganzen Haus, und gerade ich darf
     
    
     367
     
    
      mich nicht wehren.« »Wenn es sich so verhält, dann gibt es allerdings
     
    
     368
     
    
      keine Hilfe«, sagte K. »Warum denn nicht?« fragte der Gerichtsdiener. »Man
     
    
     369
     
    
      müßte den Studenten, der ein Feigling ist, einmal, wenn er meine Frau
     
    
     370
     
    
      anrühren will, so durchprügeln, daß er es niemals mehr wagt. Aber ich darf
     
    
     371
     
    
      es nicht, und andere machen mir den Gefallen nicht, denn alle fürchten
     
    
     372
     
    
      seine Macht. Nur ein Mann wie Sie könnte es tun.« »Wieso denn ich?«
     
    
     373
     
    
      fragte K. erstaunt. »Sie sind doch angeklagt«, sagte der Gerichtsdiener.
     
    
     374
     
    
      »Ja«, sagte K., »aber desto mehr müßte ich doch fürchten, daß er, wenn
     
    
     375
     
    
      auch vielleicht nicht Einfluß auf den Ausgang des Prozesses, so doch
     
    
     376
     
    
      wahrscheinlich auf die Voruntersuchung hat.« »Ja, gewiß«, sagte der
     
    
     377
     
    
      Gerichtsdiener, als sei die Ansicht K.s genau so richtig wie seine eigene.
     
    
     378
     
    
      »Es werden aber bei uns in der Regel keine aussichtslosen Prozesse
     
    
     379
     
    
      geführt.« »Ich bin nicht ihrer Meinung«, sagte K., »das soll mich aber nicht
     
    
     380
     
    
      hindern, gelegentlich den Studenten in Behandlung zu nehmen.« »Ich wäre
     
    
     381
     
    
      Ihnen sehr dankbar«, sagte der Gerichtsdiener etwas förmlich, er schien
     
    
     382
     
    
      eigentlich doch nicht an die Erfüllbarkeit seines höchsten Wunsches zu
     
    
     383
     
    
      glauben. »Es würden vielleicht«, fuhr K. fort, »auch noch andere Ihrer
     
    
     384
     
    
      Beamten und vielleicht sogar alle das gleiche verdienen.« »Ja, ja«, sagte
     
    
     385
     
    
      der Gerichtsdiener, als handle es sich um etwas Selbstverständliches.
     
    
     386
     
    
      Dann sah er K. mit einem zutraulichen Blick an, wie er es bisher trotz aller
     
    
     387
     
    
      Freundlichkeit nicht getan hatte, und fügte hinzu: »Man rebelliert eben
     
    
     388
     
    
      immer.« Aber das Gespräch schien ihm doch ein wenig unbehaglich
     
    
     389
     
    
      geworden zu sein, denn er brach es ab, indem er sagte: »Jetzt muß ich
     
    
     390
     
    
      mich in der Kanzlei melden. Wollen Sie mitkommen?« »Ich habe dort nichts
     
    
     391
     
    
      zu tun«, sagte K. »Sie können die Kanzleien ansehen. Es wird sich niemand
     
    
     392
     
    
      um Sie kümmern.« »Ist es denn sehenswert?« fragte K. zögernd, hatte aber
     
    
     393
     
    
      große Lust, mitzugehen. »Nun«, sagte der Gerichtsdiener, »ich dachte, es
     
    
     394
     
    
      würde Sie interessieren.« »Gut«, sagte K. schließlich, »ich gehe mit.« Und
     
    
     395
     
    
      er lief schneller als der Gerichtsdiener die Treppe hinauf.
     
    
     396
     
    
      Beim Eintritt wäre er fast hingefallen, denn hinter der Tür war noch eine
     
    
     397
     
    
      Stufe. »Auf das Publikum nimmt man nicht viel Rücksicht«, sagte er. »Man
     
    
     398
     
    
      nimmt überhaupt keine Rücksicht«, sagte der Gerichtsdiener, »sehen Sie
     
    
     399
     
    
      nur hier das Wartezimmer.« Es war ein langer Gang, von dem aus roh
     
    
     400
     
    
      gezimmerte Türen zu den einzelnen Abteilungen des Dachbodens führten.
     
    
     401
     
    
      Obwohl kein unmittelbarer Lichtzutritt bestand, war es doch nicht
     
    
     402
     
    
      vollständig dunkel, denn manche Abteilungen hatten gegen den Gang zu
     
    
     403
     
    
      statt einheitlicher Bretterwände bloße, allerdings bis zur Decke reichende
     
    
     404
     
    
      Holzgitter, durch die einiges Licht drang und durch die man auch einzelne
     
    
     405
     
    
      Beamte sehen konnte, wie sie an Tischen schrieben oder geradezu am
     
    
     406
     
    
      Gitter standen und durch die Lücken die Leute auf dem Gang
     
    
     407
     
    
      beobachteten. Es waren, wahrscheinlich weil Sonntag war, nur wenig Leute
     
    
     408
     
    
      auf dem Gang. Sie machten einen sehr bescheidenen Eindruck. In fast
     
    
     409
     
    
      regelmäßigen Entfernungen voneinander saßen sie auf den zwei Reihen
     
    
     410
     
    
      langer Holzbänke, die zu beiden Seiten des Ganges angebracht waren. Alle
     
    
     411
     
    
      waren vernachlässigt angezogen, obwohl die meisten nach dem
     
    
     412
     
    
      Gesichtsausdruck, der Haltung, der Barttracht und vielen, kaum
     
    
     413
     
    
      sicherzustellenden kleinen Einzelheiten den höheren Klassen angehörten.
     
    
     414
     
    
      Da keine Kleiderhaken vorhanden waren, hatten sie die Hüte,
     
    
     415
     
    
      wahrscheinlich einer dem Beispiel des anderen folgend, unter die Bank
     
    
     416
     
    
      gestellt. Als die, welche zunächst der Tür saßen, K. und den Gerichtsdiener
     
    
     417
     
    
      erblickten, erhoben sie sich zum Gruß, da das die Folgenden sahen,
     
    
     418
     
    
      glaubten sie auch grüßen zu müssen, so daß alle beim Vorbeigehen der
     
    
     419
     
    
      beiden sich erhoben. Sie standen niemals vollständig aufrecht, der Rücken
     
    
     420
     
    
      war geneigt, die Knie geknickt, sie standen wie Straßenbettler. K. wartete
     
    
     421
     
    
      auf den ein wenig hinter ihm gehenden Gerichtsdiener und sagte: »Wie
     
    
     422
     
    
      gedemütigt die sein müssen.« »Ja«, sagte der Gerichtsdiener, »es sind
     
    
     423
     
    
      Angeklagte, alle, die Sie hier sehn, sind Angeklagte.« »Wirklich!« sagte K.
     
    
     424
     
    
      »Dann sind es ja meine Kollegen.« Und er wandte sich an den nächsten,
     
    
     425
     
    
      einen großen, schlanken, schon fast grauhaarigen Mann. »Worauf warten
     
    
     426
     
    
      Sie hier?« fragte K. höflich. Die unerwartete Ansprache aber machte den
     
    
     427
     
    
      Mann verwirrt, was um so peinlicher aussah, da es sich offenbar um einen
     
    
     428
     
    
      welterfahrenen Menschen handelte, der anderswo gewiß sich zu
     
    
     429
     
    
      beherrschen verstand und die Überlegenheit, die er sich über viele
     
    
     430
     
    
      erworben hatte, nicht leicht aufgab. Hier aber wußte er auf eine so einfache
     
    
     431
     
    
      Frage nicht zu antworten und sah auf die anderen hin, als seien sie
     
    
     432
     
    
      verpflichtet, ihm zu helfen, und als könne niemand von ihm eine Antwort
     
    
     433
     
    
      verlangen, wenn diese Hilfe ausbliebe. Da trat der Gerichtsdiener hinzu und
     
    
     434
     
    
      sagte, um den Mann zu beruhigen und aufzumuntern: »Der Herr hier fragt ja
     
    
     435
     
    
      nur, worauf Sie warten. Antworten Sie doch.« Die ihm wahrscheinlich
     
    
     436
     
    
      bekannte Stimme des Gerichtsdieners wirkte besser: »Ich warte –« begann
     
    
     437
     
    
      er und stockte. Offenbar hatte er diesen Anfang gewählt, um ganz genau
     
    
     438
     
    
      auf die Fragestellung zu antworten, fand aber jetzt die Fortsetzung nicht.
     
    
     439
     
    
      Einige der Wartenden hatten sich genähert und umstanden die Gruppe, der
     
    
     440
     
    
      Gerichtsdiener sagte zu ihnen: »Weg, weg, macht den Gang frei.« Sie
     
    
     441
     
    
      wichen ein wenig zurück, aber nicht bis zu ihren früheren Sitzen.
     
    
     442
     
    
      Inzwischen hatte sich der Gefragte gesammelt und antwortete sogar mit
     
    
     443
     
    
      einem kleinen Lächeln: »Ich habe vor einem Monat einige Beweisanträge in
     
    
     444
     
    
      meiner Sache gemacht und warte auf die Erledigung.« »Sie scheinen sich ja
     
    
     445
     
    
      viele Mühe zu geben«, sagte K. »Ja«, sagte der Mann, »es ist ja meine
     
    
     446
     
    
      Sache.« »Jeder denkt nicht so wie Sie«, sagte K., »ich zum Beispiel bin
     
    
     447
     
    
      auch angeklagt, habe aber, so wahr ich selig werden will, weder einen
     
    
     448
     
    
      Beweisantrag gestellt, noch auch sonst irgend etwas Derartiges
     
    
     449
     
    
      unternommen. Halten Sie denn das für nötig?« »Ich weiß nicht genau«,
     
    
     450
     
    
      sagte der Mann wieder in vollständiger Unsicherheit; er glaubte offenbar, K.
     
    
     451
     
    
      mache mit ihm einen Scherz, deshalb hätte er wahrscheinlich am liebsten,
     
    
     452
     
    
      aus Furcht, irgendeinen neuen Fehler zu machen, seine frühere Antwort
     
    
     453
     
    
      ganz wiederholt, vor K.s ungeduldigem Blick aber sagte er nur: »Was mich
     
    
     454
     
    
      betrifft, ich habe Beweisanträge gestellt.« »Sie glauben wohl nicht, daß ich
     
    
     455
     
    
      angeklagt bin?« fragte K. »O bitte, gewiß«, sagte der Mann, und trat ein
     
    
     456
     
    
      wenig zur Seite, aber in der Antwort war nicht Glaube, sondern nur Angst.
     
    
     457
     
    
      »Sie glauben mir also nicht?« fragte K. und faßte ihn, unbewußt durch das
     
    
     458
     
    
      demütige Wesen des Mannes aufgefordert, beim Arm, als wolle er ihn zum
     
    
     459
     
    
      Glauben zwingen. Aber er wollte ihm nicht Schmerz bereiten, hatte ihn auch
     
    
     460
     
    
      nur ganz leicht angegriffen, trotzdem schrie der Mann auf, als habe K. ihn
     
    
     461
     
    
      nicht mit zwei Fingern, sondern mit einer glühenden Zange erfaßt. Dieses
     
    
     462
     
    
      lächerliche Schreien machte ihn K. endgültig überdrüssig; glaubte man ihm
     
    
     463
     
    
      nicht, daß er angeklagt war, so war es desto besser; vielleicht hielt er ihn
     
    
     464
     
    
      sogar für einen Richter. Und er faßte ihn nun zum Abschied wirklich fester,
     
    
     465
     
    
      stieß ihn auf die Bank zurück und ging weiter. »Die meisten Angeklagten
     
    
     466
     
    
      sind so empfindlich«, sagte der Gerichtsdiener. Hinter ihnen sammelten
     
    
     467
     
    
      sich jetzt fast alle Wartenden um den Mann, der schon zu schreien
     
    
     468
     
    
      aufgehört hatte, und schienen ihn über den Zwischenfall genau
     
    
     469
     
    
      auszufragen. K. entgegen kam jetzt ein Wächter, der hauptsächlich an
     
    
     470
     
    
      einem Säbel kenntlich war, dessen Scheide, wenigstens der Farbe nach,
     
    
     471
     
    
      aus Aluminium bestand. K. staunte darüber und griff sogar mit der Hand
     
    
     472
     
    
      hin. Der Wächter, der wegen des Schreiens gekommen war, fragte nach
     
    
     473
     
    
      dem Vorgefallenen. Der Gerichtsdiener suchte ihn mit einigen Worten zu
     
    
     474
     
    
      beruhigen, aber der Wächter erklärte, doch noch selbst nachsehen zu
     
    
     475
     
    
      müssen, salutierte und ging weiter mit sehr eiligen, aber sehr kurzen,
     
    
     476
     
    
      wahrscheinlich durch Gicht abgemessenen Schritten.
     
    
     477
     
    
      K. kümmerte sich nicht lange um ihn und die Gesellschaft auf dem Gang,
     
    
     478
     
    
      besonders da er etwa in der Hälfte des Ganges die Möglichkeit sah, rechts
     
    
     479
     
    
      durch eine türlose Öffnung einzubiegen. Er verständigte sich mit dem
     
    
     480
     
    
      Gerichtsdiener darüber, ob das der richtige Weg sei, der Gerichtsdiener
     
    
     481
     
    
      nickte, und K. bog nun wirklich dort ein. Es war ihm lästig, daß er immer
     
    
     482
     
    
      einen oder zwei Schritte vor dem Gerichtsdiener gehen mußte, es konnte
     
    
     483
     
    
      wenigstens an diesem Ort den Anschein haben, als ob er verhaftet
     
    
     484
     
    
      vorgeführt werde. Er wartete also öfters auf den Gerichtsdiener, aber dieser
     
    
     485
     
    
      blieb gleich wieder zurück. Schließlich sagte K., um seinem Unbehagen ein
     
    
     486
     
    
      Ende zu machen: »Nun habe ich gesehen, wie es hier aussieht, ich will jetzt
     
    
     487
     
    
      weggehen.« »Sie haben noch nicht alles gesehen«, sagte der
     
    
     488
     
    
      Gerichtsdiener vollständig unverfänglich. »Ich will nicht alles sehen«, sagte
     
    
     489
     
    
      K., der sich übrigens wirklich müde fühlte, »ich will gehen, wie kommt man
     
    
     490
     
    
      zum Ausgang?« »Sie haben sich doch nicht schon verirrt?« fragte der
     
    
     491
     
    
      Gerichtsdiener erstaunt, »Sie gehen hier bis zur Ecke und dann rechts den
     
    
     492
     
    
      Gang hinunter geradeaus zur Tür.« »Kommen Sie mit«, sagte K., »zeigen
     
    
     493
     
    
      Sie mir den Weg, ich werde ihn verfehlen, es sind hier so viele Wege.« »Es
     
    
     494
     
    
      ist der einzige Weg«, sagte der Gerichtsdiener nun schon vorwurfsvoll, »ich
     
    
     495
     
    
      kann nicht wieder mit Ihnen zurückgehen, ich muß doch meine Meldung
     
    
     496
     
    
      vorbringen und habe schon viel Zeit durch Sie versäumt.« »Kommen Sie
     
    
     497
     
    
      mit!« wiederholte K. jetzt schärfer, als habe er endlich den Gerichtsdiener
     
    
     498
     
    
      auf einer Unwahrheit ertappt. »Schreien Sie doch nicht so«, flüsterte der
     
    
     499
     
    
      Gerichtsdiener, »es sind ja hier überall Büros. Wenn Sie nicht allein
     
    
     500
     
    
      zurückgehen wollen, so gehen Sie noch ein Stückchen mit mir oder warten
     
    
     501
     
    
      Sie hier, bis ich meine Meldung erledigt habe, dann will ich ja gern mit
     
    
     502
     
    
      Ihnen wieder zurückgehen.« »Nein, nein«, sagte K., »ich werde nicht
     
    
     503
     
    
      warten, und Sie müssen jetzt mit mir gehen.« K. hatte sich noch gar nicht in
     
    
     504
     
    
      dem Raum umgesehen, in dem er sich befand, erst als jetzt eine der vielen
     
    
     505
     
    
      Holztüren, die ringsherum standen, sich öffnete, blickte er hin. Ein
     
    
     506
     
    
      Mädchen, das wohl durch K.s lautes Sprechen herbeigerufen war, trat ein
     
    
     507
     
    
      und fragte: »Was wünscht der Herr?« Hinter ihr in der Ferne sah man im
     
    
     508
     
    
      Halbdunkel noch einen Mann sich nähern. K. blickte den Gerichtsdiener an.
     
    
     509
     
    
      Dieser hatte doch gesagt, daß sich niemand um K. kümmern werde, und
     
    
     510
     
    
      nun kamen schon zwei, es brauchte nur wenig und die Beamtenschaft
     
    
     511
     
    
      wurde auf ihn aufmerksam, würde eine Erklärung seiner Anwesenheit
     
    
     512
     
    
      haben wollen. Die einzig verständliche und annehmbare war die, daß er
     
    
     513
     
    
      Angeklagter war und das Datum des nächsten Verhörs erfahren wollte,
     
    
     514
     
    
      gerade diese Erklärung aber wollte er nicht geben, besonders da sie auch
     
    
     515
     
    
      nicht wahrheitsgemäß war, denn er war nur aus Neugierde gekommen oder,
     
    
     516
     
    
      was als Erklärung noch unmöglicher war, aus dem Verlangen, festzustellen,
     
    
     517
     
    
      daß das Innere dieses Gerichtswesens ebenso widerlich war wie sein
     
    
     518
     
    
      Äußeres. Und es schien ja, daß er mit dieser Annahme recht hatte, er wollte
     
    
     519
     
    
      nicht weiter eindringen, er war beengt genug von dem, was er bisher
     
    
     520
     
    
      gesehen hatte, er war gerade jetzt nicht in der Verfassung, einem höheren
     
    
     521
     
    
      Beamten gegenüberzutreten, wie er hinter jeder Tür auftauchen konnte, er
     
    
     522
     
    
      wollte weggehen, und zwar mit dem Gerichtsdiener oder allein, wenn es
     
    
     523
     
    
      sein mußte.
     
    
     524
     
    
      Aber sein stummes Dastehen mußte auffallend sein, und wirklich sahen
     
    
     525
     
    
      ihn das Mädchen und der Gerichtsdiener derartig an, als ob in der nächsten
     
    
     526
     
    
      Minute irgendeine große Verwandlung mit ihm geschehen müsse, die sie zu
     
    
     527
     
    
      beobachten nicht versäumen wollten. Und in der Türöffnung stand der
     
    
     528
     
    
      Mann, den K. früher in der Ferne bemerkt hatte, er hielt sich am Deckbalken
     
    
     529
     
    
      der niedrigen Tür fest und schaukelte ein wenig auf den Fußspitzen, wie ein
     
    
     530
     
    
      ungeduldiger Zuschauer. Das Mädchen aber erkannte doch zuerst, daß das
     
    
     531
     
    
      Benehmen K.s in einem leichten Unwohlsein seinen Grund hatte, sie
     
    
     532
     
    
      brachte einen Sessel und fragte: »Wollen Sie sich nicht setzen?« K. setzte
     
    
     533
     
    
      sich sofort und stützte, um noch besseren Halt zu bekommen, die Ellbogen
     
    
     534
     
    
      auf die Lehnen. »Sie haben ein wenig Schwindel, nicht?« fragte sie ihn. Er
     
    
     535
     
    
      hatte nun ihr Gesicht nahe vor sich, es hatte den strengen Ausdruck, wie
     
    
     536
     
    
      ihn manche Frauen gerade in ihrer schönsten Jugend haben. »Machen Sie
     
    
     537
     
    
      sich darüber keine Gedanken«, sagte sie, »das ist hier nichts
     
    
     538
     
    
      Außergewöhnliches, fast jeder bekommt einen solchen Anfall, wenn er zum
     
    
     539
     
    
      erstenmal herkommt. Sie sind zum erstenmal hier? Nun ja, das ist also
     
    
     540
     
    
      nichts Außergewöhnliches. Die Sonne brennt hier auf das Dachgerüst, und
     
    
     541
     
    
      das heiße Holz macht die Luft so dumpf und schwer. Der Ort ist deshalb für
     
    
     542
     
    
      Büroräumlichkeiten nicht sehr geeignet, so große Vorteile er allerdings
     
    
     543
     
    
      sonst bietet. Aber was die Luft betrifft, so ist sie an Tagen großen
     
    
     544
     
    
      Parteienverkehrs, und das ist fast jeder Tag, kaum mehr atembar. Wenn Sie
     
    
     545
     
    
      dann noch bedenken, daß hier auch vielfach Wäsche zum Trocknen
     
    
     546
     
    
      ausgehängt wird – man kann es den Mietern nicht gänzlich untersagen -, so
     
    
     547
     
    
      werden Sie sich nicht mehr wundern, daß Ihnen ein wenig übel wurde. Aber
     
    
     548
     
    
      man gewöhnt sich schließlich an die Luft sehr gut. Wenn Sie zum zweitenoder
     
    
     549
     
    
      drittenmal herkommen, werden Sie das Drückende hier kaum mehr
     
    
     550
     
    
      spüren. Fühlen Sie sich schon besser?« K. antwortete nicht, es war ihm zu
     
    
     551
     
    
      peinlich, durch diese plötzliche Schwäche den Leuten hier ausgeliefert zu
     
    
     552
     
    
      sein, überdies war ihm, da er jetzt die Ursachen seiner Übelkeit erfahren
     
    
     553
     
    
      hatte, nicht besser, sondern noch ein wenig schlechter. Das Mädchen
     
    
     554
     
    
      merkte es gleich, nahm, um K. eine Erfrischung zu bereiten, eine
     
    
     555
     
    
      Hakenstange, die an der Wand lehnte, und stieß damit eine kleine Luke auf,
     
    
     556
     
    
      die gerade über K. angebracht war und ins Freie führte. Aber es fiel so viel
     
    
     557
     
    
      Ruß herein, daß das Mädchen die Luke gleich wieder zuziehen und mit
     
    
     558
     
    
      ihrem Taschentuch die Hände K.s vom Ruß reinigen mußte, denn K. war zu
     
    
     559
     
    
      müde, um das selbst zu besorgen. Er wäre gern hier ruhig sitzengeblieben,
     
    
     560
     
    
      bis er sich zum Weggehen genügend gekräftigt hatte, das mußte aber um
     
    
     561
     
    
      so früher geschehen, je weniger man sich um ihn kümmern würde. Nun
     
    
     562
     
    
      sagte aber überdies das Mädchen: »Hier können Sie nicht bleiben, hier
     
    
     563
     
    
      stören wir den Verkehr –« K. fragte mit den Blicken, welchen Verkehr er
     
    
     564
     
    
      denn hier störe – »Ich werde Sie, wenn Sie wollen, ins Krankenzimmer
     
    
     565
     
    
      führen. Helfen Sie mir, bitte«, sagte sie zu dem Mann in der Tür, der auch
     
    
     566
     
    
      gleich näher kam. Aber K. wollte nicht ins Krankenzimmer, gerade das
     
    
     567
     
    
      wollte er ja vermeiden, weiter geführt zu werden, je weiter er kam, desto
     
    
     568
     
    
      ärger mußte es werden. »Ich kann schon gehen«, sagte er deshalb und
     
    
     569
     
    
      stand, durch das bequeme Sitzen verwöhnt, zitternd auf. Dann aber konnte
     
    
     570
     
    
      er sich nicht aufrecht halten. »Es geht doch nicht«, sagte er kopfschüttelnd
     
    
     571
     
    
      und setzte sich seufzend wieder nieder. Er erinnerte sich an den
     
    
     572
     
    
      Gerichtsdiener, der ihn trotz allem leicht hinausführen könnte, aber der
     
    
     573
     
    
      schien schon längst weg zu sein, K. sah zwischen dem Mädchen und dem
     
    
     574
     
    
      Mann, die vor ihm standen, hindurch, konnte aber den Gerichtsdiener nicht
     
    
     575
     
    
      finden.
     
    
     576
     
    
      »Ich glaube«, sagte der Mann, der übrigens elegant gekleidet war und
     
    
     577
     
    
      besonders durch eine graue Weste auffiel, die in zwei langen,
     
    
     578
     
    
      scharfgeschnittenen Spitzen endigte, »das Unwohlsein des Herrn geht auf
     
    
     579
     
    
      die Atmosphäre hier zurück, es wird daher am besten und auch ihm am
     
    
     580
     
    
      liebsten sein, wenn wir ihn nicht erst ins Krankenzimmer, sondern
     
    
     581
     
    
      überhaupt aus den Kanzleien hinausführen.« »Das ist es«, rief K. und fuhr
     
    
     582
     
    
      vor lauter Freude fast noch in die Rede des Mannes hinein, »mir wird gewiß
     
    
     583
     
    
      sofort besser werden, ich bin auch gar nicht so schwach, nur ein wenig
     
    
     584
     
    
      Unterstützung unter den Achseln brauche ich, ich werde Ihnen nicht viel
     
    
     585
     
    
      Mühe machen, es ist ja auch kein langer Weg, führen Sie mich nur zur Tür,
     
    
     586
     
    
      ich setze mich dann noch ein wenig auf die Stufen und werde gleich erholt
     
    
     587
     
    
      sein, ich leide nämlich gar nicht unter solchen Anfällen, es kommt mir
     
    
     588
     
    
      selbst überraschend. Ich bin doch auch Beamter und an Büroluft gewöhnt,
     
    
     589
     
    
      aber hier scheint es doch zu arg, Sie sagen es selbst. Wollen Sie also die
     
    
     590
     
    
      Freundlichkeit haben, mich ein wenig zu führen, ich habe nämlich
     
    
     591
     
    
      Schwindel, und es wird mir schlecht, wenn ich allein aufstehe.« Und er hob
     
    
     592
     
    
      die Schultern, um es den beiden zu erleichtern, ihm unter die Arme zu
     
    
     593
     
    
      greifen.
     
    
     594
     
    
      Aber der Mann folgte der Aufforderung nicht, sondern hielt die Hände
     
    
     595
     
    
      ruhig in den Hosentaschen und lachte laut. »Sehen Sie«, sagte er zu dem
     
    
     596
     
    
      Mädchen, »ich habe also doch das Richtige getroffen. Dem Herrn ist nur
     
    
     597
     
    
      hier nicht wohl, nicht im allgemeinen.« Das Mädchen lächelte auch, schlug
     
    
     598
     
    
      aber dem Mann leicht mit den Fingerspitzen auf den Arm, als hätte er sich
     
    
     599
     
    
      mit K. einen zu starken Spaß erlaubt. »Aber was denken Sie denn«, sagte
     
    
     600
     
    
      der Mann noch immer lachend, »ich will ja den Herrn wirklich
     
    
     601
     
    
      hinausführen.« »Dann ist es gut«, sagte das Mädchen, indem sie ihren
     
    
     602
     
    
      zierlichen Kopf für einen Augenblick neigte. »Messen Sie dem Lachen nicht
     
    
     603
     
    
      zuviel Bedeutung zu«, sagte das Mädchen zu K., der, wieder traurig
     
    
     604
     
    
      geworden, vor sich hinstarrte und keine Erklärung zu brauchen schien,
     
    
     605
     
    
      »dieser Herr – ich darf Sie doch vorstellen?« (der Herr gab mit einer
     
    
     606
     
    
      Handbewegung die Erlaubnis) – »dieser Herr also ist der Auskunftgeber. Er
     
    
     607
     
    
      gibt den wartenden Parteien alle Auskunft, die sie brauchen, und da unser
     
    
     608
     
    
      Gerichtswesen in der Bevölkerung nicht sehr bekannt ist, werden viele
     
    
     609
     
    
      Auskünfte verlangt. Er weiß auf alle Fragen eine Antwort, Sie können ihn,
     
    
     610
     
    
      wenn Sie einmal Lust dazu haben, daraufhin erproben. Das ist aber nicht
     
    
     611
     
    
      sein einziger Vorzug, sein zweiter Vorzug ist die elegante Kleidung. Wir, das
     
    
     612
     
    
      heißt die Beamtenschaft, meinten einmal, man müsse den Auskunftgeber,
     
    
     613
     
    
      der immerfort, und zwar als erster, mit Parteien verhandelt, des würdigen
     
    
     614
     
    
      ersten Eindrucks halber, auch elegant anziehen. Wir anderen sind, wie Sie
     
    
     615
     
    
      gleich an mir sehen können, leider sehr schlecht und altmodisch
     
    
     616
     
    
      angezogen; es hat auch nicht viel Sinn, für die Kleidung etwas zu
     
    
     617
     
    
      verwenden, da wir fast unaufhörlich in den Kanzleien sind, wir schlafen ja
     
    
     618
     
    
      auch hier. Aber, wie gesagt, für den Auskunftgeber hielten wir einmal
     
    
     619
     
    
      schöne Kleidung für nötig. Da sie aber von unserer Verwaltung, die in
     
    
     620
     
    
      dieser Hinsicht etwas sonderbar ist, nicht erhältlich war, machten wir eine
     
    
     621
     
    
      Sammlung – auch Parteien steuerten bei – und wir kauften ihm dieses
     
    
     622
     
    
      schöne Kleid und noch andere. Alles wäre jetzt vorbereitet, einen guten
     
    
     623
     
    
      Eindruck zu machen, aber durch sein Lachen verdirbt er es wieder und
     
    
     624
     
    
      erschreckt die Leute.« »So ist es«, sagte der Herr spöttisch, »aber ich
     
    
     625
     
    
      verstehe nicht, Fräulein, warum Sie dem Herrn alle unsere Intimitäten
     
    
     626
     
    
      erzählen oder besser, aufdrängen, denn er will sie ja gar nicht erfahren.
     
    
     627
     
    
      Sehen Sie nur, wie er, offenbar mit seinen eigenen Angelegenheiten
     
    
     628
     
    
      beschäftigt, dasitzt.« K. hatte nicht einmal Lust, zu widersprechen, die
     
    
     629
     
    
      Absicht des Mädchens mochte eine gute sein, sie war vielleicht darauf
     
    
     630
     
    
      gerichtet, ihn zu zerstreuen oder ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu
     
    
     631
     
    
      sammeln, aber das Mittel war verfehlt. »Ich mußte ihm ihr Lachen erklären«,
     
    
     632
     
    
      sagte das Mädchen. »Es war ja beleidigend.« »Ich glaube, er würde noch
     
    
     633
     
    
      ärgere Beleidigungen verzeihen, wenn ich ihn schließlich hinausführe.« K.
     
    
     634
     
    
      sagte nichts, sah nicht einmal auf, er duldete es, daß die zwei über ihn wie
     
    
     635
     
    
      über eine Sache verhandelten, es war ihm sogar am liebsten. Aber plötzlich
     
    
     636
     
    
      fühlte er die Hand des Auskunftgebers an einem Arm und die Hand des
     
    
     637
     
    
      Mädchens am anderen. »Also auf, Sie schwacher Mann«, sagte der
     
    
     638
     
    
      Auskunftgeber. »Ich danke Ihnen beiden vielmals«, sagte K., freudig
     
    
     639
     
    
      überrascht, erhob sich langsam und führte selbst die fremden Hände an die
     
    
     640
     
    
      Stellen, an denen er die Stütze am meisten brauchte. »Es sieht so aus«,
     
    
     641
     
    
      sagte das Mädchen leise in K.s Ohr, während sie sich dem Gang näherten,
     
    
     642
     
    
      »als ob mir besonders viel daran gelegen wäre, den Auskunftgeber in ein
     
    
     643
     
    
      gutes Licht zu stellen, aber man mag es glauben, ich will doch die Wahrheit
     
    
     644
     
    
      sagen. Er hat kein hartes Herz. Er ist nicht verpflichtet, kranke Parteien
     
    
     645
     
    
      hinauszuführen, und tut es doch, wie Sie sehen. Vielleicht ist niemand von
     
    
     646
     
    
      uns hartherzig, wir wollten vielleicht alle gern helfen, aber als
     
    
     647
     
    
      Gerichtsbeamte bekommen wir leicht den Anschein, als ob wir hartherzig
     
    
     648
     
    
      wären und niemandem helfen wollten. Ich leide geradezu darunter.«
     
    
     649
     
    
      »Wollen Sie sich nicht hier ein wenig setzen?« fragte der Auskunftgeber,
     
    
     650
     
    
      sie waren schon im Gang und gerade vor dem Angeklagten, den K. früher
     
    
     651
     
    
      angesprochen hatte. K. schämte sich fast vor ihm, früher war er so aufrecht
     
    
     652
     
    
      vor ihm gestanden, jetzt mußten ihn zwei stützen, seinen Hut balancierte
     
    
     653
     
    
      der Auskunftgeber auf den gespreizten Fingern, die Frisur war zerstört, die
     
    
     654
     
    
      Haare hingen ihm in die schweißbedeckte Stirn. Aber der Angeklagte
     
    
     655
     
    
      schien nichts davon zu bemerken, demütig stand er vor dem
     
    
     656
     
    
      Auskunftgeber, der über ihn hinwegsah, und suchte nur seine Anwesenheit
     
    
     657
     
    
      zu entschuldigen. »Ich weiß«, sagte er, »daß die Erledigung meiner Anträge
     
    
     658
     
    
      heute noch nicht gegeben werden kann. Ich bin aber doch gekommen, ich
     
    
     659
     
    
      dachte, ich könnte doch hier warten, es ist Sonntag, ich habe ja Zeit und
     
    
     660
     
    
      hier störe ich nicht.« »Sie müssen das nicht so sehr entschuldigen«, sagte
     
    
     661
     
    
      der Auskunftgeber, »Ihre Sorgsamkeit ist ja ganz lobenswert, Sie nehmen
     
    
     662
     
    
      hier zwar unnötigerweise den Platz weg, aber ich will Sie trotzdem, solange
     
    
     663
     
    
      es mir nicht lästig wird, durchaus nicht hindern, den Gang Ihrer
     
    
     664
     
    
      Angelegenheit genau zu verfolgen. Wenn man Leute gesehen hat, die ihre
     
    
     665
     
    
      Pflicht schändlich vernachlässigten, lernt man es, mit Leuten, wie Sie sind,
     
    
     666
     
    
      Geduld zu haben. Setzen Sie sich.« »Wie er mit den Parteien zu reden
     
    
     667
     
    
      versteht«, flüsterte das Mädchen. K. nickte, fuhr aber gleich auf, als ihn der
     
    
     668
     
    
      Auskunftgeber wieder fragte: »Wollen Sie sich nicht hier niedersetzen?«
     
    
     669
     
    
      »Nein«, sagte K., »ich will mich nicht ausruhen.« Er hatte das mit
     
    
     670
     
    
      möglichstes Bestimmtheit gesagt, in Wirklichkeit hätte es ihm sehr
     
    
     671
     
    
      wohlgetan, sich niederzusetzen. Er war wie seekrank. Er glaubte auf einem
     
    
     672
     
    
      Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand. Es war ihm, als
     
    
     673
     
    
      stürze das Wasser gegen die Holzwände, als komme aus der Tiefe des
     
    
     674
     
    
      Ganges ein Brausen her, wie von überschlagendem Wasser, als schaukle
     
    
     675
     
    
      der Gang in der Quere und als würden die wartenden Parteien zu beiden
     
    
     676
     
    
      Seiten gesenkt und gehoben. Desto unbegreiflicher war die Ruhe des
     
    
     677
     
    
      Mädchens und des Mannes, die ihn führten. Er war ihnen ausgeliefert,
     
    
     678
     
    
      ließen sie ihn los, so mußte er hinfallen wie ein Brett. Aus ihren kleinen
     
    
     679
     
    
      Augen gingen scharfe Blicke hin und her, ihre gleichmäßigen Schritte fühlte
     
    
     680
     
    
      K., ohne sie mitzumachen, denn er wurde fast von Schritt zu Schritt
     
    
     681
     
    
      getragen. Endlich merkte er, daß sie zu ihm sprachen, aber er verstand sie
     
    
     682
     
    
      nicht, er hörte nur den Lärm, der alles erfüllte und durch den hindurch ein
     
    
     683
     
    
      unveränderlicher hoher Ton, wie von einer Sirene, zu klingen schien.
     
    
     684
     
    
      »Lauter«, flüsterte er mit gesenktem Kopf und schämte sich, denn er wußte,
     
    
     685
     
    
      daß sie laut genug, wenn auch für ihn unverständlich, gesprochen hatten.
     
    
     686
     
    
      Da kam endlich, als wäre die Wand vor ihm durchrissen, ein frischer
     
    
     687
     
    
      Luftzug ihm entgegen, und er hörte neben sich sagen: »Zuerst will er weg,
     
    
     688
     
    
      dann aber kann man ihm hundertmal sagen, daß hier der Ausgang ist, und
     
    
     689
     
    
      er rührt sich nicht.« K. merkte, daß er vor der Ausgangstür stand, die das
     
    
     690
     
    
      Mädchen geöffnet hatte. Ihm war, als wären alle seine Kräfte mit einemmal
     
    
     691
     
    
      zurückgekehrt, um einen Vorgeschmack der Freiheit zu gewinnen, trat er
     
    
     692
     
    
      gleich auf eine Treppenstufe und verabschiedete sich von dort aus von
     
    
     693
     
    
      seinen Begleitern, die sich zu ihm hinabbeugten. »Vielen Dank«,
     
    
     694
     
    
      wiederholte er, drückte beiden wiederholt die Hände und ließ erst ab, als er
     
    
     695
     
    
      zu sehen glaubte, daß sie, an die Kanzleiluft gewöhnt, die verhältnismäßig
     
    
     696
     
    
      frische Luft, die von der Treppe kam, schlecht ertrugen. Sie konnten kaum
     
    
     697
     
    
      antworten, und das Mädchen wäre vielleicht abgestürzt, wenn nicht K.
     
    
     698
     
    
      äußerst schnell die Tür geschlossen hätte. K. stand dann noch einen
     
    
     699
     
    
      Augenblick still, strich sich mit Hilfe eines Taschenspiegels das Haar
     
    
     700
     
    
      zurecht, hob seinen Hut auf, der auf dem nächsten Treppenabsatz lag – der
     
    
     701
     
    
      Auskunftgeber hatte ihn wohl hingeworfen – und lief dann die Treppe
     
    
     702
     
    
      hinunter, so frisch und in so langen Sprüngen, daß er vor diesem
     
    
     703
     
    
      Umschwung fast Angst bekam. Solche Überraschungen hatte ihm sein
     
    
     704
     
    
      sonst ganz gefestigter Gesundheitszustand noch nie bereitet. Wollte etwa
     
    
     705
     
    
      sein Körper revolutionieren und ihm einen neuen Prozeß bereiten, da er
     
    
     706
     
    
      den alten so mühelos ertrug? Er lehnte den Gedanken nicht ganz ab, bei
     
    
     707
     
    
      nächster Gelegenheit zu einem Arzt zu gehen, jedenfalls aber wollte er –
     
    
     708
     
    
      darin konnte er sich selbst beraten – alle künftigen Sonntagvormittage
     
    
     709
     
   
      besser als diesen verwenden.