Neuntes Kapitel
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      Im Dom
     
    
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      K. bekam den Auftrag, einem italienischen Geschäftsfreund der Bank, der
     
    
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      für sie sehr wichtig war und sich zum erstenmal in dieser Stadt aufhielt,
     
    
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      einige Kunstdenkmäler zu zeigen. Es war ein Auftrag, den er zu anderer Zeit
     
    
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      gewiß für ehrend gehalten hätte, den er aber jetzt, da er nur mit großer
     
    
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      Anstrengung sein Ansehen in der Bank noch wahren konnte, widerwillig
     
    
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      übernahm. Jede Stunde, die er dem Büro entzogen wurde, machte ihm
     
    
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      Kummer; er konnte zwar die Bürozeit bei weitem nicht mehr so ausnutzen
     
    
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      wie früher, er brachte manche Stunden nur unter dem notdürftigsten
     
    
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      Anschein wirklicher Arbeit hin, aber desto größer waren seine Sorgen,
     
    
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      wenn er nicht im Büro war. Er glaubte dann zu sehen, wie der
     
    
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      Direktor-Stellvertreter, der ja immer auf der Lauer gewesen war, von Zeit zu
     
    
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      Zeit in sein Büro kam, sich an seinen Schreibtisch setzte, seine
     
    
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      Schriftstücke durchsuchte, Parteien, mit denen K. seit Jahren fast
     
    
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      befreundet gewesen war, empfing und ihm abspenstig machte, ja vielleicht
     
    
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      sogar Fehler aufdeckte, von denen sich K. während der Arbeit jetzt immer
     
    
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      aus tausend Richtungen bedroht sah und die er nicht mehr vermeiden
     
    
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      konnte. Wurde er daher einmal, sei es in noch so auszeichnender Weise, zu
     
    
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      einem Geschäftsweg oder gar zu einer kleinen Reise beauftragt – solche
     
    
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      Aufträge hatten sich in der letzten Zeit ganz zufällig gehäuft -, dann lag
     
    
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      immerhin die Vermutung nahe, daß man ihn für ein Weilchen aus dem Büro
     
    
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      entfernen und seine Arbeit überprüfen wolle oder wenigstens, daß man im
     
    
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      Büro ihn für leicht entbehrlich halte. Die meisten dieser Aufträge hätte er
     
    
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      ohne Schwierigkeit ablehnen können, aber er wagte es nicht, denn, wenn
     
    
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      seine Befürchtung auch nur im geringsten begründet war, bedeutete die
     
    
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      Ablehnung des Auftrags Geständnis seiner Angst. Aus diesem Grunde
     
    
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      nahm er solche Aufträge scheinbar gleichmütig hin und verschwieg sogar,
     
    
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      als er eine anstrengende zweitägige Geschäftsreise machen sollte, eine
     
    
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      ernstliche Verkühlung, um sich nur nicht der Gefahr auszusetzen, mit
     
    
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      Berufung auf das gerade herrschende regnerische Herbstwetter von der
     
    
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      Reise abgehalten zu werden. Als er von dieser Reise mit wütenden
     
    
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      Kopfschmerzen zurückkehrte, erfuhr er, daß er dazu bestimmt sei, am
     
    
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      nächsten Tag den italienischen Geschäftsfreund zu begleiten. Die
     
    
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      Verlockung, sich wenigstens dieses eine Mal zu weigern, war sehr groß, vor
     
    
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      allem war das, was man ihm hier zugedacht hatte, keine unmittelbar mit
     
    
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      dem Geschäft zusammenhängende Arbeit, aber die Erfüllung dieser
     
    
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      gesellschaftlichen Pflicht gegenüber dem Geschäftsfreund war an sich
     
    
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      zweifellos wichtig genug, nur nicht für K., der wohl wußte, daß er sich nur
     
    
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      durch Arbeitserfolge erhalten könne und daß es, wenn ihm das nicht
     
    
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      gelänge, vollständig wertlos war, wenn er diesen Italiener
     
    
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      unerwarteterweise sogar bezaubern sollte; er wollte nicht einmal für einen
     
    
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      Tag aus dem Bereich der Arbeit geschoben werden, denn die Furcht, nicht
     
    
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      mehr zurückgelassen zu werden, war zu groß, eine Furcht, die er sehr
     
    
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      genau als übertrieben erkannte, die ihn aber doch beengte. In diesem Fall
     
    
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      allerdings war es fast unmöglich, einen annehmbaren Einwand zu erfinden,
     
    
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      K.s Kenntnis des Italienischen war zwar nicht sehr groß, aber immerhin
     
    
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      genügend; das Entscheidende aber war, daß K. aus früherer Zeit einige
     
    
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      kunsthistorische Kenntnisse besaß, was in äußerst übertriebener Weise
     
    
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      dadurch in der Bank bekanntgeworden war, daß K. eine Zeitlang, übrigens
     
    
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      auch nur aus geschäftlichen Gründen, Mitglied des Vereins zur Erhaltung
     
    
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      der städtischen Kunstdenkmäler gewesen war. Nun war aber der Italiener,
     
    
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      wie man gerüchteweise erfahren hatte, ein Kunstliebhaber, und die Wahl
     
    
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      K.s zu seinem Begleiter war daher selbstverständlich.
     
    
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      Es war ein sehr regnerischer, stürmischer Morgen, als K. voll Ärger über
     
    
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      den Tag, der ihm bevorstand, schon um sieben Uhr ins Büro kam, um
     
    
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      wenigstens einige Arbeit noch fertigzubringen, ehe der Besuch ihn allem
     
    
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      entziehen würde. Er war sehr müde, denn er hatte die halbe Nacht mit dem
     
    
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      Studium einer italienischen Grammatik verbracht, um sich ein wenig
     
    
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      vorzubereiten; das Fenster, an dem er in der letzten Zeit viel zu oft zu sitzen
     
    
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      pflegte, lockte ihn mehr als der Schreibtisch, aber er widerstand und setzte
     
    
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      sich zur Arbeit. Leider trat gerade der Diener ein und meldete, der Herr
     
    
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      Direktor habe ihn geschickt, um nachzusehen, ob der Herr Prokurist schon
     
    
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      hier sei; sei er hier, dann möge er so freundlich sein und ins
     
    
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      Empfangszimmer hinüberkommen, der Herr aus Italien sei schon da. »Ich
     
    
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      komme schon«, sagte K., steckte ein kleines Wörterbuch in die Tasche,
     
    
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      nahm ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten, das er für den
     
    
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      Fremden vorbereitet hatte, unter den Arm und ging durch das Büro des
     
    
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      Direktor-Stellvertreters in das Direktionszimmer. Er war glücklich darüber,
     
    
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      so früh ins Büro gekommen zu sein und sofort zur Verfügung stehen zu
     
    
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      können, was wohl niemand ernstlich erwartet hatte. Das Büro des
     
    
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      Direktor-Stellvertreters war natürlich noch leer wie in tiefer Nacht,
     
    
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      wahrscheinlich hatte der Diener auch ihn ins Empfangszimmer berufen
     
    
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      sollen, es war aber erfolglos gewesen. Als K. ins Empfangszimmer eintrat,
     
    
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      erhoben sich die zwei Herren aus den tiefen Fauteuils. Der Direktor lächelte
     
    
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      freundlich, offenbar war er sehr erfreut über K.s Kommen, er besorgte
     
    
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      sofort die Vorstellung, der Italiener schüttelte K. kräftig die Hand und
     
    
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      nannte lächelnd irgend jemanden einen Frühaufsteher. K. verstand nicht
     
    
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      genau, wen er meinte, es war überdies ein sonderbares Wort, dessen Sinn
     
    
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      K. erst nach einem Weilchen erriet. Er antwortete mit einigen glatten
     
    
     82
     
    
      Sätzen, die der Italiener wieder lachend hinnahm, wobei er mehrmals mit
     
    
     83
     
    
      nervöser Hand über seinen graublauen, buschigen Schnurrbart fuhr. Dieser
     
    
     84
     
    
      Bart war offenbar parfümiert, man war fast versucht, sich zu nähern und zu
     
    
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      riechen. Als sich alle gesetzt hatten und ein kleines, einleitendes Gespräch
     
    
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      begann, bemerkte K. mit großem Unbehagen, daß er den Italiener nur
     
    
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      bruchstückweise verstand. Wenn er ganz ruhig sprach, verstand er ihn fast
     
    
     88
     
    
      vollständig, das waren aber nur seltene Ausnahmen, meistens quoll ihm die
     
    
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      Rede aus dem Mund, er schüttelte den Kopf wie vor Lust darüber. Bei
     
    
     90
     
    
      solchen Reden aber verwickelte er sich regelmäßig in irgendeinen Dialekt,
     
    
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      der für K. nichts Italienisches mehr hatte, den aber der Direktor nicht nur
     
    
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      verstand, sondern auch sprach, was K. allerdings hätte voraussehen
     
    
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      können, denn der Italiener stammte aus Süditalien, wo auch der Direktor
     
    
     94
     
    
      einige Jahre gewesen war. Jedenfalls erkannte K., daß ihm die Möglichkeit,
     
    
     95
     
    
      sich mit dem Italiener zu verständigen, zum größten Teil genommen war,
     
    
     96
     
    
      denn auch dessen Französisch war nur schwer verständlich, auch
     
    
     97
     
    
      verdeckte der Bart die Lippenbewegungen, deren Anblick vielleicht zum
     
    
     98
     
    
      Verständnis geholfen hätte. K. begann viel Unannehmlichkeiten
     
    
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      vorauszusehen, vorläufig gab er es auf, den Italiener verstehen zu wollen –
     
    
     100
     
    
      in der Gegenwart des Direktors, der ihn so leicht verstand, wäre es
     
    
     101
     
    
      unnötige Anstrengung gewesen -, und er beschränkte sich darauf, ihn
     
    
     102
     
    
      verdrießlich zu beobachten, wie er tief und doch leicht in dem Fauteuil
     
    
     103
     
    
      ruhte, wie er öfters an seinem kurzen, scharf geschnittenen Röckchen
     
    
     104
     
    
      zupfte und wie er einmal mit erhobenen Armen und lose in den Gelenken
     
    
     105
     
    
      bewegten Händen irgend etwas darzustellen versuchte, das K. nicht
     
    
     106
     
    
      begreifen konnte, obwohl er vorgebeugt die Hände nicht aus den Augen
     
    
     107
     
    
      ließ. Schließlich machte sich bei K., der sonst unbeschäftigt, nur
     
    
     108
     
    
      mechanisch mit den Blicken dem Hin und Her der Reden folgte, die frühere
     
    
     109
     
    
      Müdigkeit geltend, und er ertappte sich einmal zu seinem Schrecken,
     
    
     110
     
    
      glücklicherweise noch rechtzeitig, dabei, daß er in der Zerstreutheit gerade
     
    
     111
     
    
      hatte aufstehen, sich umdrehen und weggehen wollen. Endlich sah der
     
    
     112
     
    
      Italiener auf die Uhr und sprang auf. Nachdem er sich vom Direktor
     
    
     113
     
    
      verabschiedet hatte, drängte er sich an K., und zwar so dicht, daß K. seinen
     
    
     114
     
    
      Fauteuil zurückschieben mußte, um sich bewegen zu können. Der Direktor,
     
    
     115
     
    
      der gewiß an K.s Augen die Not erkannte, in der er sich gegenüber diesem
     
    
     116
     
    
      Italienisch befand, mischte sich in das Gespräch, und zwar so klug und so
     
    
     117
     
    
      zart, daß es den Anschein hatte, als füge er nur kleine Ratschläge bei,
     
    
     118
     
    
      während er in Wirklichkeit alles, was der Italiener, unermüdlich ihm in die
     
    
     119
     
    
      Rede fallend, vorbrachte, in aller Kürze K. verständlich machte. K. erfuhr
     
    
     120
     
    
      von ihm, daß der Italiener vorläufig noch einige Geschäfte zu besorgen
     
    
     121
     
    
      habe, daß er leider auch im ganzen nur wenig Zeit haben werde, daß er
     
    
     122
     
    
      auch keinesfalls beabsichtige, in Eile alle Sehenswürdigkeiten abzulaufen,
     
    
     123
     
    
      daß er sich vielmehr – allerdings nur, wenn K. zustimme, bei ihm allein liege
     
    
     124
     
    
      die Entscheidung – entschlossen habe, nur den Dom, diesen aber
     
    
     125
     
    
      gründlich, zu besichtigen. Er freue sich ungemein, diese Besichtigung in
     
    
     126
     
    
      Begleitung eines so gelehrten und liebenswürdigen Mannes – damit war K.
     
    
     127
     
    
      gemeint, der mit nichts anderem beschäftigt war, als den Italiener zu
     
    
     128
     
    
      überhören und die Worte des Direktors schnell aufzufassen – vornehmen
     
    
     129
     
    
      zu können, und er bitte ihn, wenn ihm die Stunde gelegen sei, in zwei
     
    
     130
     
    
      Stunden, etwa um zehn Uhr, sich im Dom einzufinden. Er selbst hoffe, um
     
    
     131
     
    
      diese Zeit schon bestimmt dort sein zu können. K. antwortete einiges
     
    
     132
     
    
      Entsprechende, der Italiener drückte zuerst dem Direktor, dann K., dann
     
    
     133
     
    
      nochmals dem Direktor die Hand und ging, von beiden gefolgt, nur noch
     
    
     134
     
    
      halb ihnen zugewendet, im Reden aber noch immer nicht aussetzend, zur
     
    
     135
     
    
      Tür. K. blieb dann noch ein Weilchen mit dem Direktor beisammen, der
     
    
     136
     
    
      heute besonders leidend aussah. Er glaubte, sich bei K. irgendwie
     
    
     137
     
    
      entschuldigen zu müssen und sagte – sie standen vertraulich nahe
     
    
     138
     
    
      beisammen -, zuerst hätte er beabsichtigt, selbst mit dem Italiener zu
     
    
     139
     
    
      gehen, dann aber – er gab keinen näheren Grund an – habe er sich
     
    
     140
     
    
      entschlossen, lieber K. zu schicken. Wenn er den Italiener nicht gleich im
     
    
     141
     
    
      Anfang verstehe, so müsse er sich dadurch nicht verblüffen lassen, das
     
    
     142
     
    
      Verständnis komme sehr rasch, und wenn er auch viel überhaupt nicht
     
    
     143
     
    
      verstehen sollte, so sei es auch nicht so schlimm, denn für den Italiener sei
     
    
     144
     
    
      es nicht gar so wichtig, verstanden zu werden. Übrigens sei K.s Italienisch
     
    
     145
     
    
      überraschend gut, und er werde sich gewiß ausgezeichnet mit der Sache
     
    
     146
     
    
      abfinden. Damit war K. verabschiedet. Die Zeit, die ihm noch freiblieb,
     
    
     147
     
    
      verbrachte er damit, seltene Vokabeln, die er zur Führung im Dom
     
    
     148
     
    
      benötigte, aus dem Wörterbuch herauszuschreiben. Es war eine äußerst
     
    
     149
     
    
      lästige Arbeit, Diener brachten die Post, Beamte kamen mit verschiedenen
     
    
     150
     
    
      Anfragen und blieben, da sie K. beschäftigt sahen, bei der Tür stehen,
     
    
     151
     
    
      rührten sich aber nicht weg, bevor sie K. angehört hatte, der
     
    
     152
     
    
      Direktor-Stellvertreter ließ es sich nicht entgehen, K. zu stören, kam öfters
     
    
     153
     
    
      herein, nahm ihm das Wörterbuch aus der Hand und blätterte offenbar ganz
     
    
     154
     
    
      sinnlos darin, selbst Parteien tauchten, wenn sich die Tür öffnete, im
     
    
     155
     
    
      Halbdunkel des Vorzimmers auf und verbeugten sich zögernd – sie wollten
     
    
     156
     
    
      auf sich aufmerksam machen, waren aber dessen nicht sicher, ob sie
     
    
     157
     
    
      gesehen wurden –, das alles bewegte sich um K. als um seinen Mittelpunkt,
     
    
     158
     
    
      während er selbst die Wörter, die er brauchte, zusammenstellte, dann im
     
    
     159
     
    
      Wörterbuch suchte, dann herausschrieb, dann ihre Aussprache übte und
     
    
     160
     
    
      schließlich auswendig zu lernen versuchte. Sein früheres gutes Gedächtnis
     
    
     161
     
    
      schien ihn aber ganz verlassen zu haben, manchmal wurde er auf den
     
    
     162
     
    
      Italiener, der ihm diese Anstrengung verursachte, so wütend, daß er das
     
    
     163
     
    
      Wörterbuch unter Papieren vergrub, mit der festen Absicht, sich nicht mehr
     
    
     164
     
    
      vorzubereiten, dann aber sah er ein, daß er doch nicht stumm mit dem
     
    
     165
     
    
      Italiener vor den Kunstwerken im Dom auf und ab gehen könne, und er zog
     
    
     166
     
    
      mit noch größerer Wut das Wörterbuch wieder hervor.
     
    
     167
     
    
      Gerade um halb zehn Uhr, als er weggehen wollte, erfolgte ein
     
    
     168
     
    
      telephonischer Anruf, Leni wünschte ihm guten Morgen und fragte nach
     
    
     169
     
    
      seinem Befinden, K. dankte eilig und bemerkte, er könne sich jetzt
     
    
     170
     
    
      unmöglich in ein Gespräch einlassen, denn er müsse in den Dom. »In den
     
    
     171
     
    
      Dom?« fragte Leni. »Nun ja, in den Dom.« »Warum denn in den Dom?«
     
    
     172
     
    
      sagte Leni. K. suchte es ihr in Kürze zu erklären, aber kaum hatte er damit
     
    
     173
     
    
      angefangen, sagte Leni plötzlich: »Sie hetzen dich.« Bedauern, das er nicht
     
    
     174
     
    
      herausgefordert und nicht erwartet hatte, vertrug K. nicht, er
     
    
     175
     
    
      verabschiedete sich mit zwei Worten, sagte aber doch, während er den
     
    
     176
     
    
      Hörer an seinen Platz hängte, halb zu sich, halb zu dem fernen Mädchen,
     
    
     177
     
    
      das es nicht mehr hörte: »Ja, sie hetzen mich.«
     
    
     178
     
    
      Nun war es aber schon spät, es bestand schon fast die Gefahr, daß er
     
    
     179
     
    
      nicht rechtzeitig ankam. Im Automobil fuhr er hin, im letzten Augenblick
     
    
     180
     
    
      hatte er sich noch an das Album erinnert, das er früh zu übergeben keine
     
    
     181
     
    
      Gelegenheit gefunden hatte und das er deshalb jetzt mitnahm. Er hielt es
     
    
     182
     
    
      auf seinen Knien und trommelte darauf unruhig während der ganzen Fahrt.
     
    
     183
     
    
      Der Regen war schwächer geworden, aber es war feucht, kühl und dunkel,
     
    
     184
     
    
      man würde im Dom wenig sehen, wohl aber würde sich dort, infolge des
     
    
     185
     
    
      langen Stehens auf den kalten Fliesen, K.s Verkühlung sehr verschlimmern.
     
    
     186
     
    
      Der Domplatz war ganz leer, K. erinnerte sich, daß es ihm schon als kleinem
     
    
     187
     
    
      Kind aufgefallen war, daß in den Häusern dieses engen Platzes immer fast
     
    
     188
     
    
      alle Fenstervorhänge herabgelassen waren. Bei dem heutigen Wetter war
     
    
     189
     
    
      es allerdings verständlicher als sonst. Auch im Dom schien es leer zu sein,
     
    
     190
     
    
      es fiel natürlich niemandem ein, jetzt hierherzukommen. K. durchlief beide
     
    
     191
     
    
      Seitenschiffe, er traf nur ein altes Weib, das, eingehüllt in ein warmes Tuch,
     
    
     192
     
    
      vor einem Marienbild kniete und es anblickte. Von weitem sah er dann noch
     
    
     193
     
    
      einen hinkenden Diener in einer Mauertür verschwinden. K. war pünktlich
     
    
     194
     
    
      gekommen, gerade bei seinem Eintritt hatte es zehn geschlagen, der
     
    
     195
     
    
      Italiener war aber noch nicht hier. K. ging zum Haupteingang zurück, stand
     
    
     196
     
    
      dort eine Zeitlang unentschlossen und machte dann im Regen einen
     
    
     197
     
    
      Rundgang um den Dom, um nachzusehen, ob der Italiener nicht vielleicht
     
    
     198
     
    
      bei irgendeinem Seiteneingang warte. Er war nirgends zu finden. Sollte der
     
    
     199
     
    
      Direktor etwa die Zeitangabe mißverstanden haben? Wie konnte man auch
     
    
     200
     
    
      diesen Menschen richtig verstehen? Wie es aber auch sein mochte,
     
    
     201
     
    
      jedenfalls mußte K. zumindest eine halbe Stunde auf ihn warten. Da er
     
    
     202
     
    
      müde war, wollte er sich setzen, er ging wieder in den Dom, fand auf einer
     
    
     203
     
    
      Stufe einen kleinen, teppichartigen Fetzen, zog ihn mit der Fußspitze vor
     
    
     204
     
    
      eine nahe Bank, wickelte sich fester in seinen Mantel, schlug den Kragen in
     
    
     205
     
    
      die Höhe und setzte sich. Um sich zu zerstreuen, schlug er das Album auf,
     
    
     206
     
    
      blätterte darin ein wenig, mußte aber bald aufhören, denn es wurde so
     
    
     207
     
    
      dunkel, daß er, als er aufblickte, in dem nahen Seitenschiff kaum eine
     
    
     208
     
    
      Einzelheit unterscheiden konnte.
     
    
     209
     
    
      In der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar ein großes Dreieck von
     
    
     210
     
    
      Kerzenlichtern, K. hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob er sie
     
    
     211
     
    
      schon früher gesehen hatte. Vielleicht waren sie erst jetzt angezündet
     
    
     212
     
    
      worden. Die Kirchendiener sind berufsmäßige Schleicher, man bemerkt sie
     
    
     213
     
    
      nicht. Als sich K. zufällig umdrehte, sah er nicht weit hinter sich eine hohe,
     
    
     214
     
    
      starke, an einer Säule befestigte Kerze gleichfalls brennen. So schön das
     
    
     215
     
    
      war, zur Beleuchtung der Altarbilder, die meistens in der Finsternis der
     
    
     216
     
    
      Seitenaltäre hingen, war das gänzlich unzureichend, es vermehrte vielmehr
     
    
     217
     
    
      die Finsternis. Es war vom Italiener ebenso vernünftig als unhöflich
     
    
     218
     
    
      gehandelt, daß er nicht gekommen war, es wäre nichts zu sehen gewesen,
     
    
     219
     
    
      man hätte sich damit begnügen müssen, mit K.s elektrischer Taschenlampe
     
    
     220
     
    
      einige Bilder zollweise abzusuchen. Um zu versuchen, was man davon
     
    
     221
     
    
      erwarten könnte, ging K. zu einer nahen Seitenkapelle, stieg ein paar Stufen
     
    
     222
     
    
      bis zu einer niedrigen Marmorbrüstung und, über sie vorgebeugt,
     
    
     223
     
    
      beleuchtete er mit der Lampe das Altarbild. Störend schwebte das ewige
     
    
     224
     
    
      Licht davor. Das erste, was K. sah und zum Teil erriet, war ein großer,
     
    
     225
     
    
      gepanzerter Ritter, der am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er
     
    
     226
     
    
      stützte sich auf sein Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich – nur
     
    
     227
     
    
      einige Grashalme kamen hie und da hervor – gestoßen hatte. Er schien
     
    
     228
     
    
      aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der sich vor ihm abspielte. Es
     
    
     229
     
    
      war erstaunlich, daß er so stehenblieb und sich nicht näherte. Vielleicht war
     
    
     230
     
    
      er dazu bestimmt, Wache zu stehen. K., der schon lange keine Bilder
     
    
     231
     
    
      gesehen hatte, betrachtete den Ritter längere Zeit, obwohl er immerfort mit
     
    
     232
     
    
      den Augen zwinkern mußte, da er das grüne Licht der Lampe nicht vertrug.
     
    
     233
     
    
      Als er dann das Licht über den übrigen Teil des Bildes streichen ließ, fand
     
    
     234
     
    
      er eine Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung, es war übrigens
     
    
     235
     
    
      ein neueres Bild. Er steckte die Lampe ein und kehrte wieder zu seinem
     
    
     236
     
    
      Platz zurück.
     
    
     237
     
    
      Es war nun schon wahrscheinlich unnötig, auf den Italiener zu warten,
     
    
     238
     
    
      draußen war aber gewiß strömender Regen, und da es hier nicht so kalt
     
    
     239
     
    
      war, wie K. erwartet hatte, beschloß er, vorläufig hierzubleiben. In seiner
     
    
     240
     
    
      Nachbarschaft war die große Kanzel, auf ihrem kleinen, runden Dach waren
     
    
     241
     
    
      halb liegend zwei leere, goldene Kreuze angebracht, die einander mit ihrer
     
    
     242
     
    
      äußersten Spitze überquerten. Die Außenwand der Brüstung und der
     
    
     243
     
    
      Übergang zur tragenden Säule war von grünem Laubwerk gebildet, in das
     
    
     244
     
    
      kleine Engel griffen, bald lebhaft, bald ruhend. K. trat vor die Kanzel und
     
    
     245
     
    
      untersuchte sie von allen Seiten, die Bearbeitung des Steines war überaus
     
    
     246
     
    
      sorgfältig, das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerk und hinter ihm schien
     
    
     247
     
    
      wie eingefangen und festgehalten, K. legte seine Hand in eine solche Lücke
     
    
     248
     
    
      und tastete dann den Stein vorsichtig ab, von dem Dasein dieser Kanzel
     
    
     249
     
    
      hatte er bisher gar nicht gewußt. Da bemerkte er zufällig hinter der
     
    
     250
     
    
      nächsten Bankreihe einen Kirchendiener, der dort in einem hängenden,
     
    
     251
     
    
      faltigen, schwarzen Rock stand, in der linken Hand eine Schnupftabakdose
     
    
     252
     
    
      hielt und ihn betrachtete. Was will denn der Mann? dachte K. Bin ich ihm
     
    
     253
     
    
      verdächtig? Will er ein Trinkgeld? Als sich aber nun der Kirchendiener von
     
    
     254
     
    
      K. bemerkt sah, zeigte er mit der Rechten, zwischen zwei Fingern hielt er
     
    
     255
     
    
      noch eine Prise Tabak, in irgendeiner unbestimmten Richtung. Sein
     
    
     256
     
    
      Benehmen war fast unverständlich, K. wartete noch ein Weilchen, aber der
     
    
     257
     
    
      Kirchendiener hörte nicht auf, mit der Hand etwas zu zeigen und bekräftigte
     
    
     258
     
    
      es noch durch Kopfnicken. »Was will er denn?« fragte K. leise, er wagte es
     
    
     259
     
    
      nicht, hier zu rufen; dann aber zog er die Geldtasche und drängte sich
     
    
     260
     
    
      durch die nächste Bank, um zu dem Mann zu kommen. Doch dieser machte
     
    
     261
     
    
      sofort eine abwehrende Bewegung mit der Hand, zuckte die Schultern und
     
    
     262
     
    
      hinkte davon. Mit einer ähnlichen Gangart, wie es dieses eilige Hinken war,
     
    
     263
     
    
      hatte K. als Kind das Reiten auf Pferden nachzuahmen versucht. »Ein
     
    
     264
     
    
      kindischer Alter«, dachte K., »sein Verstand reicht nur noch zum
     
    
     265
     
    
      Kirchendienst aus. Wie er stehenbleibt, wenn ich stehe, und wie er lauert,
     
    
     266
     
    
      ob ich weitergehen will.« Lächelnd folgte K. dem Alten durch das ganze
     
    
     267
     
    
      Seitenschiff fast bis zur Höhe des Hauptaltars, der Alte hörte nicht auf,
     
    
     268
     
    
      etwas zu zeigen, aber K. drehte sich absichtlich nicht um, das Zeigen hatte
     
    
     269
     
    
      keinen anderen Zweck, als ihn von der Spur des Alten abzubringen.
     
    
     270
     
    
      Schließlich ließ er wirklich von ihm, er wollte ihn nicht zu sehr ängstigen,
     
    
     271
     
    
      auch wollte er die Erscheinung, für den Fall, daß der Italiener doch noch
     
    
     272
     
    
      kommen sollte, nicht ganz verscheuchen.
     
    
     273
     
    
      Als er in das Hauptschiff trat, um seinen Platz zu suchen, auf dem er das
     
    
     274
     
    
      Album liegengelassen hatte, bemerkte er an einer Säule, fast angrenzend
     
    
     275
     
    
      an die Bänke des Altarchors, eine kleine Nebenkanzel, ganz einfach, aus
     
    
     276
     
    
      kahlem, bleichem Stein. Sie war so klein, daß sie aus der Ferne wie eine
     
    
     277
     
    
      noch leere Nische erschien, die für die Aufnahme einer Heiligenstatue
     
    
     278
     
    
      bestimmt war. Der Prediger konnte gewiß keinen vollen Schritt von der
     
    
     279
     
    
      Brüstung zurücktreten. Außerdem begann die steinerne Einwölbung der
     
    
     280
     
    
      Kanzel ungewöhnlich tief und stieg, zwar ohne jeden Schmuck, aber
     
    
     281
     
    
      derartig geschweift in die Höhe, daß ein mittelgroßer Mann dort nicht
     
    
     282
     
    
      aufrecht stehen konnte, sondern sich dauernd über die Brüstung
     
    
     283
     
    
      vorbeugen mußte. Das Ganze war wie zur Qual des Predigers bestimmt, es
     
    
     284
     
    
      war unverständlich, wozu man diese Kanzel benötigte, da man doch die
     
    
     285
     
    
      andere, große und so kunstvoll geschmückte zur Verfügung hatte.
     
    
     286
     
    
      K. wäre auch diese kleine Kanzel gewiß nicht aufgefallen, wenn nicht
     
    
     287
     
    
      oben eine Lampe befestigt gewesen wäre, wie man sie kurz vor einer
     
    
     288
     
    
      Predigt bereitzustellen pflegt. Sollte jetzt etwa eine Predigt stattfinden? In
     
    
     289
     
    
      der leeren Kirche? K. sah an der Treppe hinab, die an die Säule sich
     
    
     290
     
    
      anschmiegend zur Kanzel führte und so schmal war, als sollte sie nicht für
     
    
     291
     
    
      Menschen, sondern nur zum Schmuck der Säule dienen. Aber unten an der
     
    
     292
     
    
      Kanzel, K. lächelte vor Staunen, stand wirklich der Geistliche, hielt die Hand
     
    
     293
     
    
      am Geländer, bereit aufzusteigen, und sah auf K. hin. Dann nickte er ganz
     
    
     294
     
    
      leicht mit dem Kopf, worauf K. sich bekreuzigte und verbeugte, was er
     
    
     295
     
    
      schon früher hätte tun sollen. Der Geistliche gab sich einen kleinen
     
    
     296
     
    
      Aufschwung und stieg mit kurzen, schnellen Schritten die Kanzel hinauf.
     
    
     297
     
    
      Sollte wirklich eine Predigt beginnen? War vielleicht der Kirchendiener
     
    
     298
     
    
      doch nicht so ganz vom Verstand verlassen und hatte K. dem Prediger
     
    
     299
     
    
      zutreiben wollen, was allerdings in der leeren Kirche äußerst notwendig
     
    
     300
     
    
      gewesen war? Übrigens gab es ja noch irgendwo vor einem Marienbild ein
     
    
     301
     
    
      altes Weib, das auch hätte kommen sollen. Und wenn es schon eine Predigt
     
    
     302
     
    
      sein sollte, warum wurde sie nicht von der Orgel eingeleitet? Aber die blieb
     
    
     303
     
    
      still und blinkte nur schwach aus der Finsternis ihrer großen Höhe.
     
    
     304
     
    
      K. dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernen sollte, wenn er es
     
    
     305
     
    
      jetzt nicht tat, war keine Aussicht, daß er es während der Predigt tun
     
    
     306
     
    
      könnte, er mußte dann bleiben, solange sie dauerte, im Büro verlor er
     
    
     307
     
    
      soviel Zeit, auf den Italiener zu warten, war er längst nicht mehr verpflichtet,
     
    
     308
     
    
      er sah auf seine Uhr, es war elf. Aber konnte denn wirklich gepredigt
     
    
     309
     
    
      werden? Konnte K. allein die Gemeinde darstellen? Wie, wenn er ein
     
    
     310
     
    
      Fremder gewesen wäre, der nur die Kirche besichtigen wollte? Im Grunde
     
    
     311
     
    
      war er auch nichts anderes. Es war unsinnig, daran zu denken, daß
     
    
     312
     
    
      gepredigt werden sollte, jetzt um elf Uhr, an einem Werktag, bei
     
    
     313
     
    
      gräßlichstem Wetter. Der Geistliche – ein Geistlicher war es zweifellos, ein
     
    
     314
     
    
      junger Mann mit glattem, dunklem Gesicht – ging offenbar nur hinauf, um
     
    
     315
     
    
      die Lampe zu löschen, die irrtümlich angezündet worden war.
     
    
     316
     
    
      Es war aber nicht so, der Geistliche prüfte vielmehr das Licht und
     
    
     317
     
    
      schraubte es noch ein wenig auf, dann drehte er sich langsam der
     
    
     318
     
    
      Brüstung zu, die er vorn an der kantigen Einfassung mit beiden Händen
     
    
     319
     
    
      erfaßte. So stand er eine Zeitlang und blickte, ohne den Kopf zu rühren,
     
    
     320
     
    
      umher. K. war ein großes Stück zurückgewichen und lehnte mit den
     
    
     321
     
    
      Ellbogen an der vordersten Kirchenbank. Mit unsicheren Augen sah er
     
    
     322
     
    
      irgendwo, ohne den Ort genau zu bestimmen, den Kirchendiener, mit
     
    
     323
     
    
      krummem Rücken, friedlich, wie nach beendeter Aufgabe, sich
     
    
     324
     
    
      zusammenkauern. Was für eine Stille herrschte jetzt im Dom! Aber K.
     
    
     325
     
    
      mußte sie stören, er hatte nicht die Absicht, hierzubleiben; wenn es die
     
    
     326
     
    
      Pflicht des Geistlichen war, zu einer bestimmten Stunde, ohne Rücksicht
     
    
     327
     
    
      auf die Umstände, zu predigen, so mochte er es tun, es würde auch ohne
     
    
     328
     
    
      K.s Beistand gelingen, ebenso wie die Anwesenheit K.s die Wirkung gewiß
     
    
     329
     
    
      nicht steigern würde. Langsam setzte sich also K. in Gang, tastete sich auf
     
    
     330
     
    
      den Fußspitzen an der Bank hin, kam dann in den breiten Hauptweg und
     
    
     331
     
    
      ging dort ganz ungestört, nur daß der steinerne Boden unter dem leisesten
     
    
     332
     
    
      Schritt erklang und die Wölbungen schwach, aber ununterbrochen, in
     
    
     333
     
    
      vielfachem, gesetzmäßigem Fortschreiten davon widerhallten. K. fühlte sich
     
    
     334
     
    
      ein wenig verlassen, als er dort, vom Geistlichen vielleicht beobachtet,
     
    
     335
     
    
      zwischen den leeren Bänken allein hindurchging, auch schien ihm die
     
    
     336
     
    
      Größe des Doms gerade an der Grenze des für Menschen noch Erträglichen
     
    
     337
     
    
      zu liegen. Als er zu seinem früheren Platz kam, haschte er förmlich, ohne
     
    
     338
     
    
      weiteren Aufenthalt, nach dem dort liegengelassenen Album und nahm es
     
    
     339
     
    
      an sich. Fast hatte er schon das Gebiet der Bänke verlassen und näherte
     
    
     340
     
    
      sich dem freien Raum, der zwischen ihnen und dem Ausgang lag, als er
     
    
     341
     
    
      zum erstenmal die Stimme des Geistlichen hörte. Eine mächtige, geübte
     
    
     342
     
    
      Stimme. Wie durchdrang sie den zu ihrer Aufnahme bereiten Dom! Es war
     
    
     343
     
    
      aber nicht die Gemeinde, die der Geistliche anrief, es war ganz eindeutig,
     
    
     344
     
    
      und es gab keine Ausflüchte, er rief: »Josef K.!«
     
    
     345
     
    
      K. stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufig war er noch frei, er
     
    
     346
     
    
      konnte noch weitergehen und durch eine der drei kleinen, dunklen
     
    
     347
     
    
      Holztüren, die nicht weit vor ihm waren, sich davonmachen. Es würde eben
     
    
     348
     
    
      bedeuten, daß er nicht verstanden hatte, oder daß er zwar verstanden hatte,
     
    
     349
     
    
      sich aber darum nicht kümmern wollte. Falls er sich aber umdrehte, war er
     
    
     350
     
    
      festgehalten, denn dann hatte er das Geständnis gemacht, daß er gut
     
    
     351
     
    
      verstanden hatte, daß er wirklich der Angerufene war und daß er auch
     
    
     352
     
    
      folgen wollte. Hätte der Geistliche nochmals gerufen, wäre K. gewiß
     
    
     353
     
    
      fortgegangen, aber da alles still blieb, solange K. auch wartete, drehte er
     
    
     354
     
    
      doch ein wenig den Kopf, denn er wollte sehen, was der Geistliche jetzt
     
    
     355
     
    
      mache. Er stand ruhig auf der Kanzel wie früher, es war aber deutlich zu
     
    
     356
     
    
      sehen, daß er K.s Kopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein kindliches
     
    
     357
     
    
      Versteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K. nicht vollständig umgedreht
     
    
     358
     
    
      hätte. Er tat es und wurde vom Geistlichen durch ein Winken des Fingers
     
    
     359
     
    
      näher gerufen. Da jetzt alles offen geschehen konnte, lief er – er tat es auch
     
    
     360
     
    
      aus Neugierde und um die Angelegenheit abzukürzen – mit langen,
     
    
     361
     
    
      fliegenden Schritten der Kanzel entgegen. Bei den ersten Bänken machte er
     
    
     362
     
    
      halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er streckte
     
    
     363
     
    
      die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine
     
    
     364
     
    
      Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er mußte auf diesem Platz
     
    
     365
     
    
      den Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehen.
     
    
     366
     
    
      »Du bist Josef K.«, sagte der Geistliche und erhob eine Hand auf der
     
    
     367
     
    
      Brüstung in einer unbestimmten Bewegung. »Ja«, sagte K., er dachte
     
    
     368
     
    
      daran, wie offen er früher immer seinen Namen genannt hatte, seit einiger
     
    
     369
     
    
      Zeit war er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinen Namen Leute, mit
     
    
     370
     
    
      denen er zum erstenmal zusammenkam, wie schön war es, sich zuerst
     
    
     371
     
    
      vorzustellen und dann erst gekannt zu werden. »Du bist angeklagt«, sagte
     
    
     372
     
    
      der Geistliche besonders leise. »Ja«, sagte K., »man hat mich davon
     
    
     373
     
    
      verständigt.« »Dann bist du der, den ich suche«, sagte der Geistliche. »Ich
     
    
     374
     
    
      bin der Gefängniskaplan.« »Ach so«, sagte K. »Ich habe dich hierher rufen
     
    
     375
     
    
      lassen«, sagte der Geistliche, »um mit dir zu sprechen.« »Ich wußte es
     
    
     376
     
    
      nicht«, sagte K. »Ich bin hierhergekommen, um einem Italiener den Dom zu
     
    
     377
     
    
      zeigen.« »Laß das Nebensächliche«, sagte der Geistliche. »Was hältst du in
     
    
     378
     
    
      der Hand? Ist es ein Gebetbuch?« »Nein«, antwortete K., »es ist ein Album
     
    
     379
     
    
      der städtischen Sehenswürdigkeiten.« »Leg es aus der Hand«, sagte der
     
    
     380
     
    
      Geistliche. K. warf es so heftig weg, daß es aufklappte und mit zerdrückten
     
    
     381
     
    
      Blättern ein Stück über den Boden schleifte. »Weißt du, daß dein Prozeß
     
    
     382
     
    
      schlecht steht?« fragte der Geistliche. »Es scheint mir auch so«, sagte K.
     
    
     383
     
    
      »Ich habe mir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Allerdings habe
     
    
     384
     
    
      ich die Eingabe noch nicht fertig.« »Wie stellst du dir das Ende vor?« fragte
     
    
     385
     
    
      der Geistliche. »Früher dachte ich, es müsse gut enden«, sagte K., »jetzt
     
    
     386
     
    
      zweifle ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt
     
    
     387
     
    
      du es?« »Nein«, sagte der Geistliche, »aber ich fürchte, es wird schlecht
     
    
     388
     
    
      enden. Man hält dich für schuldig. Dein Prozeß wird vielleicht über ein
     
    
     389
     
    
      niedriges Gericht gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig
     
    
     390
     
    
      deine Schuld für erwiesen.« »Ich bin aber nicht schuldig«, sagte K., »es ist
     
    
     391
     
    
      ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind
     
    
     392
     
    
      hier doch alle Menschen, einer wie der andere.« »Das ist richtig«, sagte der
     
    
     393
     
    
      Geistliche, »aber so pflegen die Schuldigen zu reden.« »Hast auch du ein
     
    
     394
     
    
      Vorurteil gegen mich?« fragte K. »Ich habe kein Vorurteil gegen dich«,
     
    
     395
     
    
      sagte der Geistliche. »Ich danke dir«, sagte K., »alle anderen aber, die an
     
    
     396
     
    
      dem Verfahren beteiligt sind, haben ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es
     
    
     397
     
    
      auch den Unbeteiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger.« »Du
     
    
     398
     
    
      mißverstehst die Tatsachen«, sagte der Geistliche, »das Urteil kommt nicht
     
    
     399
     
    
      mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.« »So ist es
     
    
     400
     
    
      also«, sagte K. und senkte den Kopf. »Was willst du nächstens in deiner
     
    
     401
     
    
      Sache tun?« fragte der Geistliche. »Ich will noch Hilfe suchen«, sagte K.
     
    
     402
     
    
      und hob den Kopf, um zu sehen, wie der Geistliche es beurteile. »Es gibt
     
    
     403
     
    
      noch gewisse Möglichkeiten, die ich nicht ausgenutzt habe.« »Du suchst
     
    
     404
     
    
      zuviel fremde Hilfe«, sagte der Geistliche mißbilligend, »und besonders bei
     
    
     405
     
    
      Frauen. Merkst du denn nicht, daß es nicht die wahre Hilfe ist?« »Manchmal
     
    
     406
     
    
      und sogar oft könnte ich dir recht geben«, sagte K., »aber nicht immer. Die
     
    
     407
     
    
      Frauen haben eine große Macht. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne,
     
    
     408
     
    
      dazu bewegen könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müßte ich
     
    
     409
     
    
      durchdringen. Besonders bei diesem Gericht, das fast nur aus
     
    
     410
     
    
      Frauenjägern besteht. Zeig dem Untersuchungsrichter eine Frau aus der
     
    
     411
     
    
      Ferne, und er überrennt, um nur rechtzeitig hinzukommen, den
     
    
     412
     
    
      Gerichtstisch und den Angeklagten.« Der Geistliche neigte den Kopf zur
     
    
     413
     
    
      Brüstung, jetzt erst schien die Überdachung der Kanzel ihn
     
    
     414
     
    
      niederzudrücken. Was für ein Unwetter mochte draußen sein? Das war kein
     
    
     415
     
    
      trüber Tag mehr, das war schon tiefe Nacht. Keine Glasmalerei der großen
     
    
     416
     
    
      Fenster war imstande, die dunkle Wand auch nur mit einem Schimmer zu
     
    
     417
     
    
      unterbrechen. Und gerade jetzt begann der Kirchendiener, die Kerzen auf
     
    
     418
     
    
      dem Hauptaltar, eine nach der anderen, auszulöschen. »Bist du mir böse?«
     
    
     419
     
    
      fragte K. den Geistlichen. »Du weißt vielleicht nicht, was für einem Gericht
     
    
     420
     
    
      du dienst.« Er bekam keine Antwort. »Es sind doch nur meine
     
    
     421
     
    
      Erfahrungen«, sagte K. Oben blieb es noch immer still. »Ich wollte dich
     
    
     422
     
    
      nicht beleidigen«, sagte K. Da schrie der Geistliche zu K. hinunter: »Siehst
     
    
     423
     
    
      du denn nicht zwei Schritte weit?« Es war im Zorn geschrien, aber
     
    
     424
     
    
      gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und, weil er selbst
     
    
     425
     
    
      erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen schreit.
     
    
     426
     
    
      Nun schwiegen beide lange. Gewiß konnte der Geistliche in dem Dunkel,
     
    
     427
     
    
      das unten herrschte, K. nicht genau erkennen, während K. den Geistlichen
     
    
     428
     
    
      im Licht der kleinen Lampe deutlich sah. Warum kam der Geistliche nicht
     
    
     429
     
    
      herunter? Eine Predigt hatte er ja nicht gehalten, sondern K. nur einige
     
    
     430
     
    
      Mitteilungen gemacht, die ihm, wenn er sie genau beachtete,
     
    
     431
     
    
      wahrscheinlich mehr schaden als nützen würden. Wohl aber schien K. die
     
    
     432
     
    
      gute Absicht des Geistlichen zweifellos zu sein, es war nicht unmöglich,
     
    
     433
     
    
      daß er sich mit ihm, wenn er herunterkäme, einigen würde, es war nicht
     
    
     434
     
    
      unmöglich, daß er von ihm einen entscheidenden und annehmbaren Rat
     
    
     435
     
    
      bekäme, der ihm zum Beispiel zeigen würde, nicht etwa wie der Prozeß zu
     
    
     436
     
    
      beeinflussen war, sondern wie man aus dem Prozeß ausbrechen, wie man
     
    
     437
     
    
      ihn umgehen, wie man außerhalb des Prozesses leben könnte. Diese
     
    
     438
     
    
      Möglichkeit mußte bestehen, K. hatte in der letzten Zeit öfters an sie
     
    
     439
     
    
      gedacht. Wußte aber der Geistliche eine solche Möglichkeit, würde er sie
     
    
     440
     
    
      vielleicht, wenn man ihn darum bat, verraten, obwohl er selbst zum
     
    
     441
     
    
      Gerichte gehörte und obwohl er, als K. das Gericht angegriffen hatte, sein
     
    
     442
     
    
      sanftes Wesen unterdrückt und K. sogar angeschrien hatte.
     
    
     443
     
    
      »Willst du nicht herunterkommen?« sagte K. »Es ist doch keine Predigt
     
    
     444
     
    
      zu halten. Komm zu mir herunter.« »Jetzt kann ich schon kommen«, sagte
     
    
     445
     
    
      der Geistliche, er bereute vielleicht sein Schreien. Während er die Lampe
     
    
     446
     
    
      von ihrem Haken löste, sagte er: »Ich mußte zuerst aus der Entfernung mit
     
    
     447
     
    
      dir sprechen. Ich lasse mich sonst zu leicht beeinflussen und vergesse
     
    
     448
     
    
      meinen Dienst.«
     
    
     449
     
    
      K. erwartete ihn unten an der Treppe. Der Geistliche streckte ihm schon
     
    
     450
     
    
      von einer oberen Stufe im Hinuntergehen die Hand entgegen. »Hast du ein
     
    
     451
     
    
      wenig Zeit für mich?« fragte K. »Soviel Zeit, als du brauchst«, sagte der
     
    
     452
     
    
      Geistliche und reichte K. die kleine Lampe, damit er sie trage. Auch in der
     
    
     453
     
    
      Nähe verlor sich eine gewisse Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. »Du
     
    
     454
     
    
      bist sehr freundlich zu mir«, sagte K., sie gingen nebeneinander im dunklen
     
    
     455
     
    
      Seitenschiff auf und ab. »Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum
     
    
     456
     
    
      Gericht gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu dir als zu irgend jemandem
     
    
     457
     
    
      von ihnen, so viele ich schon kenne. Mit dir kann ich offen reden.«
     
    
     458
     
    
      »Täusche dich nicht«, sagte der Geistliche. »Worin sollte ich mich denn
     
    
     459
     
    
      täuschen?« fragte K. »In dem Gericht täuschst du dich«, sagte der
     
    
     460
     
    
      Geistliche, »in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser
     
    
     461
     
    
      Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt
     
    
     462
     
    
      ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter
     
    
     463
     
    
      sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt
     
    
     464
     
    
      und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ›Es ist möglich‹,
     
    
     465
     
    
      sagt der Türhüter, ›jetzt aber nicht‹. Da das Tor zum Gesetz offensteht wie
     
    
     466
     
    
      immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das
     
    
     467
     
    
      Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt:
     
    
     468
     
    
      ›Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meinem Verbot
     
    
     469
     
    
      hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste
     
    
     470
     
    
      Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der
     
    
     471
     
    
      andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr
     
    
     472
     
    
      vertragen.‹ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet,
     
    
     473
     
    
      das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als
     
    
     474
     
    
      er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große
     
    
     475
     
    
      Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen, tartarischen Bart, entschließt er
     
    
     476
     
    
      sich doch, lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der
     
    
     477
     
    
      Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich
     
    
     478
     
    
      niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche,
     
    
     479
     
    
      eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der
     
    
     480
     
    
      Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn nach seiner
     
    
     481
     
    
      Heimat aus und nach vielem anderen, es sind aber teilnahmslose Fragen,
     
    
     482
     
    
      wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder,
     
    
     483
     
    
      daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise
     
    
     484
     
    
      mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll,
     
    
     485
     
    
      um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt
     
    
     486
     
    
      dabei: ›Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu
     
    
     487
     
    
      haben.‹ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast
     
    
     488
     
    
      ununterbrochen. Er vergißt die anderen Türhüter, und dieser erste scheint
     
    
     489
     
    
      ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den
     
    
     490
     
    
      unglücklichen Zufall in den ersten Jahren laut, später, als er alt wird,
     
    
     491
     
    
      brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und da er in dem
     
    
     492
     
    
      jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen
     
    
     493
     
    
      erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter
     
    
     494
     
    
      umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß
     
    
     495
     
    
      nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur die Augen
     
    
     496
     
    
      täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der
     
    
     497
     
    
      unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr
     
    
     498
     
    
      lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der
     
    
     499
     
    
      ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt
     
    
     500
     
    
      hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr
     
    
     501
     
    
      aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn
     
    
     502
     
    
      die Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des Mannes
     
    
     503
     
    
      verändert. ›Was willst du denn jetzt noch wissen?‹ fragt der Türhüter, ›du
     
    
     504
     
    
      bist unersättlich.‹ ›Alle streben doch nach dem Gesetz‹, sagt der Mann, ›wie
     
    
     505
     
    
      kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt
     
    
     506
     
    
      hat?‹ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am Ende ist, und um sein
     
    
     507
     
    
      vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ›Hier konnte
     
    
     508
     
    
      niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich
     
    
     509
     
    
      bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹«
     
    
     510
     
    
      »Der Türhüter hat also den Mann getäuscht«, sagte K. sofort, von der
     
    
     511
     
    
      Geschichte sehr stark angezogen. »Sei nicht übereilt«, sagte der Geistliche,
     
    
     512
     
    
      »übernimm nicht die fremde Meinung ungeprüft. Ich habe dir die
     
    
     513
     
    
      Geschichte im Wortlaut der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin
     
    
     514
     
    
      nichts.« »Es ist aber klar«, sagte K., »und deine erste Deutung war ganz
     
    
     515
     
    
      richtig. Der Türhüter hat die erlösende Mitteilung erst dann gemacht, als sie
     
    
     516
     
    
      dem Manne nicht mehr helfen konnte.« »Er wurde nicht früher gefragt«,
     
    
     517
     
    
      sagte der Geistliche, »bedenke auch, daß er nur Türhüter war, und als
     
    
     518
     
    
      solcher hat er seine Pflicht erfüllt.« »Warum glaubst du, daß er seine Pflicht
     
    
     519
     
    
      erfüllt hat?« fragte K., »er hat sie nicht erfüllt. Seine Pflicht war es vielleicht,
     
    
     520
     
    
      alle Fremden abzuwehren, diesen Mann aber, für den der Eingang bestimmt
     
    
     521
     
    
      war, hätte er einlassen müssen.« »Du hast nicht genug Achtung vor der
     
    
     522
     
    
      Schrift und veränderst die Geschichte«, sagte der Geistliche. »Die
     
    
     523
     
    
      Geschichte enthält über den Einlaß ins Gesetz zwei wichtige Erklärungen
     
    
     524
     
    
      des Türhüters, eine am Anfang, eine am Ende. Die eine Stelle lautet: daß er
     
    
     525
     
    
      ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne, und die andere: dieser Eingang
     
    
     526
     
    
      war nur für dich bestimmt. Bestände zwischen diesen beiden Erklärungen
     
    
     527
     
    
      ein Widerspruch, dann hättest du recht, und der Türhüter hätte den Mann
     
    
     528
     
    
      getäuscht. Nun besteht aber kein Widerspruch. Im Gegenteil, die erste
     
    
     529
     
    
      Erklärung deutet sogar auf die zweite hin. Man könnte fast sagen, der
     
    
     530
     
    
      Türhüter ging über seine Pflicht hinaus, indem er dem Mann eine
     
    
     531
     
    
      zukünftige Möglichkeit des Einlasses in Aussicht stellte. Zu jener Zeit
     
    
     532
     
    
      scheint es nur seine Pflicht gewesen zu sein, den Mann abzuweisen, und
     
    
     533
     
    
      tatsächlich wundern sich viele Erklärer der Schrift darüber, daß der
     
    
     534
     
    
      Türhüter jene Andeutung überhaupt gemacht hat, denn er scheint die
     
    
     535
     
    
      Genauigkeit zu lieben und wacht streng über sein Amt. Durch viele Jahre
     
    
     536
     
    
      verläßt er seinen Posten nicht und schließt das Tor erst ganz zuletzt, er ist
     
    
     537
     
    
      sich der Wichtigkeit seines Dienstes sehr bewußt, denn er sagt: ›Ich bin
     
    
     538
     
    
      mächtig‹, er hat Ehrfurcht vor den Vorgesetzten, denn er sagt: ›Ich bin nur
     
    
     539
     
    
      der unterste Türhüter‹, er ist nicht geschwätzig, denn während der vielen
     
    
     540
     
    
      Jahre stellt er nur, wie es heißt, ›teilnahmslose Fragen‹, er ist nicht
     
    
     541
     
    
      bestechlich, denn er sagt über ein Geschenk: ›Ich nehme es nur an, damit
     
    
     542
     
    
      du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben‹, er ist, wo es um
     
    
     543
     
    
      Pflichterfüllung geht, weder zu rühren noch zu erbittern, denn es heißt von
     
    
     544
     
    
      dem Mann, ›er ermüdet den Türhüter durch sein Bitten‹, schließlich deutet
     
    
     545
     
    
      auch sein Äußeres auf einen pedantischen Charakter hin, die große
     
    
     546
     
    
      Spitznase und der lange, dünne, schwarze, tartarische Bart. Kann es einen
     
    
     547
     
    
      pflichttreueren Türhüter geben? Nun mischen sich aber in den Türhüter
     
    
     548
     
    
      noch andere Wesenszüge ein, die für den, der Einlaß verlangt, sehr günstig
     
    
     549
     
    
      sind und welche es immerhin begreiflich machen, daß er in jener
     
    
     550
     
    
      Andeutung einer zukünftigen Möglichkeit über seine Pflicht etwas
     
    
     551
     
    
      hinausgehen konnte. Es ist nämlich nicht zu leugnen, daß er ein wenig
     
    
     552
     
    
      einfältig und im Zusammenhang damit ein wenig eingebildet ist. Wenn auch
     
    
     553
     
    
      seine Äußerungen über seine Macht und über die Macht der anderen
     
    
     554
     
    
      Türhüter und über deren sogar für ihn unerträglichen Anblick – ich sage,
     
    
     555
     
    
      wenn auch alle diese Äußerungen an sich richtig sein mögen, so zeigt doch
     
    
     556
     
    
      die Art, wie er diese Äußerungen vorbringt, daß seine Auffassung durch
     
    
     557
     
    
      Einfalt und Überhebung getrübt ist. Die Erklärer sagen hiezu: ›Richtiges
     
    
     558
     
    
      Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen
     
    
     559
     
    
      einander nicht vollständig aus.‹ Jedenfalls aber muß man annehmen, daß
     
    
     560
     
    
      jene Einfalt und Überhebung, so geringfügig sie sich vielleicht auch
     
    
     561
     
    
      äußern, doch die Bewachung des Eingangs schwächen, es sind Lücken im
     
    
     562
     
    
      Charakter des Türhüters. Hiezu kommt noch, daß der Türhüter seiner
     
    
     563
     
    
      Naturanlage nach freundlich zu sein scheint, er ist durchaus nicht immer
     
    
     564
     
    
      Amtsperson. Gleich in den ersten Augenblicken macht er den Spaß, daß er
     
    
     565
     
    
      den Mann trotz dem ausdrücklich aufrechterhaltenen Verbot zum Eintritt
     
    
     566
     
    
      einlädt, dann schickt er ihn nicht etwa fort, sondern gibt ihm, wie es heißt,
     
    
     567
     
    
      einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Die
     
    
     568
     
    
      Geduld, mit der er durch alle die Jahre die Bitten des Mannes erträgt, die
     
    
     569
     
    
      kleinen Verhöre, die Annahme der Geschenke, die Vornehmheit, mit der er
     
    
     570
     
    
      es zuläßt, daß der Mann neben ihm laut den unglücklichen Zufall verflucht,
     
    
     571
     
    
      der den Türhüter hier aufgestellt hat – alles dieses läßt auf Regungen des
     
    
     572
     
    
      Mitleids schließen. Nicht jeder Türhüter hätte so gehandelt. Und schließlich
     
    
     573
     
    
      beugt er sich noch auf einen Wink hin tief zu dem Mann hinab, um ihm
     
    
     574
     
    
      Gelegenheit zur letzten Frage zu geben. Nur eine schwache Ungeduld – der
     
    
     575
     
    
      Türhüter weiß ja, daß alles zu Ende ist – spricht sich in den Worten aus: ›Du
     
    
     576
     
    
      bist unersättlich.‹ Manche gehen sogar in dieser Art der Erklärung noch
     
    
     577
     
    
      weiter und meinen, die Worte ›Du bist unersättlich‹ drücken eine Art
     
    
     578
     
    
      freundschaftlicher Bewunderung aus, die allerdings von Herablassung
     
    
     579
     
    
      nicht frei ist. Jedenfalls schließt sich so die Gestalt des Türhüters anders
     
    
     580
     
    
      ab, als du es glaubst.« »Du kennst die Geschichte genauer als ich und
     
    
     581
     
    
      längere Zeit«, sagte K. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte K.: »Du
     
    
     582
     
    
      glaubst also, der Mann wurde nicht getäuscht?« »Mißverstehe mich nicht«,
     
    
     583
     
    
      sagte der Geistliche, »ich zeige dir nur die Meinungen, die darüber
     
    
     584
     
    
      bestehen. Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist
     
    
     585
     
    
      unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der
     
    
     586
     
    
      Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar eine Meinung, nach
     
    
     587
     
    
      welcher gerade der Türhüter der Getäuschte ist.« »Das ist eine weitgehende
     
    
     588
     
    
      Meinung«, sagte K. »Wie wird sie begründet?« »Die Begründung«,
     
    
     589
     
    
      antwortete der Geistliche, »geht von der Einfalt des Türhüters aus. Man
     
    
     590
     
    
      sagt, daß er das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg,
     
    
     591
     
    
      den er vor dem Eingang immer wieder abgehen muß. Die Vorstellungen, die
     
    
     592
     
    
      er von dem Innern hat, werden für kindlich gehalten, und man nimmt an,
     
    
     593
     
    
      daß er das, wovor er dem Manne Furcht machen will, selbst fürchtet. Ja, er
     
    
     594
     
    
      fürchtet es mehr als der Mann, denn dieser will ja nichts anderes als
     
    
     595
     
    
      eintreten, selbst als er von den schrecklichen Türhütern des Innern gehört
     
    
     596
     
    
      hat, der Türhüter dagegen will nicht eintreten, wenigstens erfährt man
     
    
     597
     
    
      nichts darüber. Andere sagen zwar, daß er bereits im Innern gewesen sein
     
    
     598
     
    
      muß, denn er ist doch einmal in den Dienst des Gesetzes aufgenommen
     
    
     599
     
    
      worden, und das könne nur im Innern geschehen sein. Darauf ist zu
     
    
     600
     
    
      antworten, daß er wohl auch durch einen Ruf aus dem Innern zum Türhüter
     
    
     601
     
    
      bestellt worden sein könnte und daß er zumindest tief im Innern nicht
     
    
     602
     
    
      gewesen sein dürfte, da er doch schon den Anblick des dritten Türhüters
     
    
     603
     
    
      nicht mehr ertragen kann. Außerdem aber wird auch nicht berichtet daß er
     
    
     604
     
    
      während der vielen Jahre außer der Bemerkung über die Türhüter irgend
     
    
     605
     
    
      etwas von dem Innern erzählt hätte. Es könnte ihm verboten sein, aber
     
    
     606
     
    
      auch vom Verbot hat er nichts erzählt. Aus alledem schließt man, daß er
     
    
     607
     
    
      über das Aussehen und die Bedeutung des Innern nichts weiß und sich
     
    
     608
     
    
      darüber in Täuschung befindet. Aber auch über den Mann vom Lande soll
     
    
     609
     
    
      er sich in Täuschung befinden, denn er ist diesem Mann untergeordnet und
     
    
     610
     
    
      weiß es nicht. Daß er den Mann als einen Untergeordneten behandelt,
     
    
     611
     
    
      erkennt man aus vielem, das dir noch erinnerlich sein dürfte. Daß er ihm
     
    
     612
     
    
      aber tatsächlich untergeordnet ist, soll nach dieser Meinung ebenso
     
    
     613
     
    
      deutlich hervorgehen. Vor allem ist der Freie dem Gebundenen
     
    
     614
     
    
      übergeordnet. Nun ist der Mann tatsächlich frei, er kann hingehen, wohin er
     
    
     615
     
    
      will, nur der Eingang in das Gesetz ist ihm verboten, und überdies nur von
     
    
     616
     
    
      einem einzelnen, vom Türhüter. Wenn er sich auf den Schemel seitwärts
     
    
     617
     
    
      vom Tor niedersetzt und dort sein Leben lang bleibt, so geschieht dies
     
    
     618
     
    
      freiwillig, die Geschichte erzählt von keinem Zwang. Der Türhüter dagegen
     
    
     619
     
    
      ist durch sein Amt an seinen Posten gebunden, er darf sich nicht auswärts
     
    
     620
     
    
      entfernen, allem Anschein nach aber auch nicht in das Innere gehen, selbst
     
    
     621
     
    
      wenn er es wollte. Außerdem ist er zwar im Dienst des Gesetzes, dient aber
     
    
     622
     
    
      nur für diesen Eingang, also auch nur für diesen Mann, für den dieser
     
    
     623
     
    
      Eingang allein bestimmt ist. Auch aus diesem Grunde ist er ihm
     
    
     624
     
    
      untergeordnet. Es ist anzunehmen, daß er durch viele Jahre, durch ein
     
    
     625
     
    
      ganzes Mannesalter gewissermaßen nur leeren Dienst geleistet hat, denn
     
    
     626
     
    
      es wird gesagt, daß ein Mann kommt, also jemand im Mannesalter, daß also
     
    
     627
     
    
      der Türhüter lange warten mußte, ehe sich sein Zweck erfüllte, und zwar so
     
    
     628
     
    
      lange warten mußte, als es dem Mann beliebte, der doch freiwillig kam.
     
    
     629
     
    
      Aber auch das Ende des Dienstes wird durch das Lebensende des Mannes
     
    
     630
     
    
      bestimmt, bis zum Ende also bleibt er ihm untergeordnet. Und immer
     
    
     631
     
    
      wieder wird betont, daß von alledem der Türhüter nichts zu wissen scheint.
     
    
     632
     
    
      Daran wird aber nichts Auffälliges gesehen, denn nach dieser Meinung
     
    
     633
     
    
      befindet sich der Türhüter noch in einer viel schwereren Täuschung, sie
     
    
     634
     
    
      betrifft seinen Dienst. Zuletzt spricht er nämlich vom Eingang und sagt: ›Ich
     
    
     635
     
    
      gehe jetzt und schließe ihn‹, aber am Anfang heißt es, daß das Tor zum
     
    
     636
     
    
      Gesetz offensteht wie immer, steht es aber immer offen, immer, das heißt
     
    
     637
     
    
      unabhängig von der Lebensdauer des Mannes, für den es bestimmt ist,
     
    
     638
     
    
      dann wird es auch der Türhüter nicht schließen können. Darüber gehen die
     
    
     639
     
    
      Meinungen auseinander, ob der Türhüter mit der Ankündigung, daß er das
     
    
     640
     
    
      Tor schließen wird, nur eine Antwort geben oder seine Dienstpflicht
     
    
     641
     
    
      betonen oder den Mann noch im letzten Augenblick in Reue und Trauer
     
    
     642
     
    
      setzen will. Darin aber sind viele einig, daß er das Tor nicht wird schließen
     
    
     643
     
    
      können. Sie glauben sogar, daß er, wenigstens am Ende, auch in seinem
     
    
     644
     
    
      Wissen dem Manne untergeordnet ist, denn dieser sieht den Glanz, der aus
     
    
     645
     
    
      dem Eingang des Gesetzes bricht, während der Türhüter als solcher wohl
     
    
     646
     
    
      mit dem Rücken zum Eingang steht und auch durch keine Äußerung zeigt,
     
    
     647
     
    
      daß er eine Veränderung bemerkt hätte.« »Das ist gut begründet«, sagte K.,
     
    
     648
     
    
      der einzelne Stellen aus der Erklärung des Geistlichen halblaut für sich
     
    
     649
     
    
      wiederholt hatte. »Es ist gut begründet, und ich glaube nun auch, daß der
     
    
     650
     
    
      Türhüter getäuscht ist. Dadurch bin ich aber von meiner früheren Meinung
     
    
     651
     
    
      nicht abgekommen, denn beide decken sich teilweise. Es ist
     
    
     652
     
    
      unentscheidend, ob der Türhüter klar sieht oder getäuscht wird. Ich sagte,
     
    
     653
     
    
      der Mann wird getäuscht. Wenn der Türhüter klar sieht, könnte man daran
     
    
     654
     
    
      zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist, dann muß sich seine
     
    
     655
     
    
      Täuschung notwendig auf den Mann übertragen. Der Türhüter ist dann zwar
     
    
     656
     
    
      kein Betrüger, aber so einfältig, daß er sofort aus dem Dienst gejagt werden
     
    
     657
     
    
      müßte. Du mußt doch bedenken, daß die Täuschung, in der sich der
     
    
     658
     
    
      Türhüter befindet, ihm nichts schadet, dem Mann aber tausendfach.« »Hier
     
    
     659
     
    
      stößt du auf eine Gegenmeinung«, sagte der Geistliche. »Manche sagen
     
    
     660
     
    
      nämlich, daß die Geschichte niemandem ein Recht gibt, über den Türhüter
     
    
     661
     
    
      zu urteilen. Wie er uns auch erscheinen mag, ist er doch ein Diener des
     
    
     662
     
    
      Gesetzes, also zum Gesetz gehörig, also dem menschlichen Urteil entrückt.
     
    
     663
     
    
      Man darf dann auch nicht glauben, daß der Türhüter dem Manne
     
    
     664
     
    
      untergeordnet ist. Durch seinen Dienst auch nur an den Eingang des
     
    
     665
     
    
      Gesetzes gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu
     
    
     666
     
    
      leben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort. Er ist
     
    
     667
     
    
      vom Gesetz zum Dienst bestellt, an seiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße am
     
    
     668
     
    
      Gesetz zweifeln.« »Mit dieser Meinung stimme ich nicht überein«, sagte K.
     
    
     669
     
    
      kopfschüttelnd, »denn wenn man sich ihr anschließt, muß man alles, was
     
    
     670
     
    
      der Türhüter sagt, für wahr halten. Daß das aber nicht möglich ist, hast du
     
    
     671
     
    
      ja selbst ausführlich begründet.« »Nein«, sagte der Geistliche, »man muß
     
    
     672
     
    
      nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.«
     
    
     673
     
    
      »Trübselige Meinung«, sagte K. »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.«
     
    
     674
     
    
      K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht. Er war zu
     
    
     675
     
    
      müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehen zu können, es waren
     
    
     676
     
    
      auch ungewohnte Gedankengänge, in die sie ihn führte, unwirkliche Dinge,
     
    
     677
     
    
      besser geeignet zur Besprechung für die Gesellschaft der Gerichtsbeamten
     
    
     678
     
    
      als für ihn. Die einfache Geschichte war unförmlich geworden, er wollte sie
     
    
     679
     
    
      von sich abschütteln, und der Geistliche, der jetzt ein großes Zartgefühl
     
    
     680
     
    
      bewies, duldete es und nahm K.s Bemerkung schweigend auf, obwohl sie
     
    
     681
     
    
      mit seiner eigenen Meinung gewiß nicht übereinstimmte.
     
    
     682
     
    
      Sie gingen eine Zeitlang schweigend weiter, K. hielt sich eng neben dem
     
    
     683
     
    
      Geistlichen, ohne zu wissen, wo er sich befand. Die Lampe in seiner Hand
     
    
     684
     
    
      war längst erloschen. Einmal blinkte gerade vor ihm das silberne Standbild
     
    
     685
     
    
      eines Heiligen nur mit dem Schein des Silbers und spielte gleich wieder ins
     
    
     686
     
    
      Dunkel über. Um nicht vollständig auf den Geistlichen angewiesen zu
     
    
     687
     
    
      bleiben, fragte ihn K.: »Sind wir jetzt nicht in der Nähe des
     
    
     688
     
    
      Haupteinganges?« »Nein«, sagte der Geistliche, »wir sind weit von ihm
     
    
     689
     
    
      entfernt. Willst du schon fortgehen?« Obwohl K. gerade jetzt nicht daran
     
    
     690
     
    
      gedacht hatte, sagte er sofort. »Gewiß, ich muß fortgehen. Ich bin Prokurist
     
    
     691
     
    
      einer Bank, man wartet auf mich, ich bin nur hergekommen, um einem
     
    
     692
     
    
      ausländischen Geschäftsfreund den Dom zu zeigen.« »Nun«, sagte der
     
    
     693
     
    
      Geistliche, und reichte K. die Hand, »dann geh.« »Ich kann mich aber im
     
    
     694
     
    
      Dunkel allein nicht zurechtfinden«, sagte K. »Geh links zur Wand«, sagte
     
    
     695
     
    
      der Geistliche, »dann weiter die Wand entlang, ohne sie zu verlassen, und
     
    
     696
     
    
      du wirst einen Ausgang finden.« Der Geistliche hatte sich erst ein paar
     
    
     697
     
    
      Schritte entfernt, aber K. rief schon sehr laut: »Bitte, warte noch!« »Ich
     
    
     698
     
    
      warte«, sagte der Geistliche. »Willst du nicht noch etwas von mir?« fragte
     
    
     699
     
    
      K. »Nein«, sagte der Geistliche. »Du warst früher so freundlich zu mir«,
     
    
     700
     
    
      sagte K., »und hast mir alles erklärt, jetzt aber entläßt du mich, als läge dir
     
    
     701
     
    
      nichts an mir.« »Du mußt doch fortgehen«, sagte der Geistliche. »Nun ja«,
     
    
     702
     
    
      sagte K., »sieh das doch ein.« »Sieh du zuerst ein, wer ich bin«, sagte der
     
    
     703
     
    
      Geistliche. »Du bist der Gefängniskaplan«, sagte K. und ging näher zum
     
    
     704
     
    
      Geistlichen hin, seine sofortige Rückkehr in die Bank war nicht so
     
    
     705
     
    
      notwendig, wie er sie dargestellt hatte, er konnte recht gut noch
     
    
     706
     
    
      hierbleiben. »Ich gehöre also zum Gericht«, sagte der Geistliche. »Warum
     
    
     707
     
    
      sollte ich also etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es
     
    
     708
     
   
      nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.«