19. Kapitel
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      Gleich nach sieben ging man zu Tisch, und alles freute sich, daß der
     
    
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      Weihnachtsbaum, eine mit zahllosen Silberkugeln bedeckte Tanne, noch
     
    
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      einmal angesteckt wurde. Crampas, der das Ringsche Haus noch nicht
     
    
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      kannte, war helle Bewunderung. Der Damast, die Weinkühler, das reiche
     
    
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      Silbergeschirr, alles wirkte herrschaftlich, weit über oberförsterliche
     
    
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      Durchschnittsverhältnisse hinaus, was darin seinen Grund hatte, daß Rings
     
    
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      Frau, so scheu und verlegen sie war, aus einem reichen Danziger
     
    
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      Kornhändlerhause stammte. Von daher rührten auch die meisten der
     
    
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      ringsumher hängenden Bilder: der Kornhändler und seine Frau, der
     
    
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      Marienburger Remter und eine gute Kopie nach dem berühmten
     
    
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      Memlingschen Altarbild in der Danziger Marienkirche. Kloster Olivia war
     
    
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      zweimal da, einmal in Öl und einmal in Kork geschnitzt. Außerdem befand
     
    
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      sich über dem Büfett ein sehr nachgedunkeltes Porträt des alten
     
    
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      Nettelbeck, das noch aus dem bescheidenen Mobiliar des erst vor
     
    
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      anderthalb Jahren verstorbenen Ringschen Amtsvorgängers herrührte.
     
    
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      Niemand hatte damals bei der gewöhnlich stattfindenden Auktion das Bild
     
    
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      des Alten haben wollen, bis Innstetten, der sich über diese Mißachtung
     
    
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      ärgerte, darauf geboten hatte. Da hatte sich denn auch Ring patriotisch
     
    
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      besonnen, und der alte Kolbergverteidiger war der Oberförsterei
     
    
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      verblieben.
     
    
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      Das Nettelbeckbild ließ ziemlich viel zu wünschen übrig; sonst aber
     
    
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      verriet alles, wie schon angedeutet, eine beinahe an Glanz streifende
     
    
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      Wohlhabenheit, und dem entsprach denn auch das Mahl, das aufgetragen
     
    
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      wurde. Jeder hatte mehr oder weniger seine Freude daran, mit Ausnahme
     
    
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      Sidoniens. Diese saß zwischen Innstetten und Lindequist und sagte, als sie
     
    
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      Coras ansichtig wurde: »Da ist ja wieder dies unausstehliche Balg, diese
     
    
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      Cora. Sehen Sie nur, Innstetten, wie sie die kleinen Weingläser präsentiert,
     
    
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      ein wahres Kunststück, sie könnte jeden Augenblick Kellnerin werden.
     
    
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      Ganz unerträglich. Und dazu die Blicke von Ihrem Freund Crampas! Das ist
     
    
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      so die rechte Saat! Ich frage Sie, was soll dabei herauskommen?«
     
    
     32
     
    
      Innstetten, der ihr eigentlich zustimmte, fand trotzdem den Ton, in dem
     
    
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      das alles gesagt wurde, so verletzend herbe daß er spöttisch bemerkte:
     
    
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      »Ja, meine Gnädigste, was dabei herauskommen soll? Ich weiß es auch
     
    
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      nicht« – worauf sich Sidonie von ihm ab- und ihrem Nachbarn zur Linken
     
    
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      zuwandte:
     
    
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      »Sagen Sie, Pastor, ist diese vierzehnjährige Kokette schon im Unterricht
     
    
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      bei Ihnen?«
     
    
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      »Ja, mein gnädiges Fräulein.«
     
    
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      »Dann müssen Sie mir die Bemerkung verzeihen, daß Sie sie nicht in die
     
    
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      richtige Schule genommen haben. Ich weiß wohl, es hält das heutzutage
     
    
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      sehr schwer, aber ich weiß auch, daß die, denen die Fürsorge für junge
     
    
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      Seelen obliegt, es vielfach an dem rechten Ernst fehlen lassen. Es bleibt
     
    
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      dabei, die Hauptschuld tragen die Eltern und Erzieher.«
     
    
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      Lindequist, denselben Ton anschlagend wie Innstetten, antwortete, daß
     
    
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      das alles sehr richtig, der Geist der Zeit aber zu mächtig sei.
     
    
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      »Geist der Zeit!« sagte Sidonie. »Kommen Sie mir nicht damit. Das kann
     
    
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      ich nicht hören, das ist der Ausdruck höchster Schwäche,
     
    
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      Bankrotterklärung. Ich kenne das; nie scharf zufassen wollen, immer dem
     
    
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      Unbequemen aus dem Wege gehen. Denn Pflicht ist unbequem. Und so
     
    
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      wird nur allzuleicht vergessen, daß das uns anvertraute Gut auch mal von
     
    
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      uns zurückgefordert wird. Eingreifen, lieber Pastor, Zucht. Das Fleisch ist
     
    
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      schwach, gewiß, aber ...«
     
    
     54
     
    
      In diesem Augenblick kam ein englisches Roastbeef, von dem Sidonie
     
    
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      ziemlich ausgiebig nahm, ohne Lindequists Lächeln dabei zu bemerken.
     
    
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      Und weil sie's nicht bemerkte, so durfte es auch nicht wundernehmen, daß
     
    
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      sie mit viel Unbefangenheit fortfuhr: »Es kann übrigens alles, was Sie hier
     
    
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      sehen, nicht wohl anders sein; alles ist schief und verfahren von Anfang
     
    
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      an. Ring, Ring – wenn ich nicht irre, hat es drüben in Schweden oder da
     
    
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      herum mal einen Sagenkönig dieses Namens gegeben. Nun sehen Sie,
     
    
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      benimmt er sich nicht, als ob er von dem abstamme? Und seine Mutter, die
     
    
     62
     
    
      ich noch gekannt habe, war eine Plättfrau in Köslin.«
     
    
     63
     
    
      »Ich kann darin nichts Schlimmes finden.«
     
    
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      »Schlimmes finden? Ich auch nicht. Und jedenfalls gibt es Schlimmeres.
     
    
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      Aber soviel muß ich doch von Ihnen, als einem geweihten Diener der
     
    
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      Kirche, gewärtigen dürfen, daß Sie die gesellschaftlichen Ordnungen gelten
     
    
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      lassen. Ein Oberförster ist ein bißchen mehr als ein Förster, und ein Förster
     
    
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      hat nicht solche Weinkühler und solch Silberzeug; das alles ist ungehörig
     
    
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      und zieht dann solche Kinder groß wie dies Fräulein Cora. «
     
    
     70
     
    
      Sidonie, jedesmal bereit, irgendwas Schreckliches zu prophezeien, wenn
     
    
     71
     
    
      sie, vom Geist überkommen, die Schalen ihres Zorns ausschüttete, würde
     
    
     72
     
    
      sich auch heute bis zum Kassandrablick in die Zukunft gesteigert haben,
     
    
     73
     
    
      wenn nicht in ebendiesem Augenblick die dampfende Punschbowle –
     
    
     74
     
    
      womit die Weihnachtsreunions bei Ring immer abschlossen – auf der Tafel
     
    
     75
     
    
      erschienen wäre, dazu Krausgebackenes, das, geschickt
     
    
     76
     
    
      übereinandergetürmt, noch weit über die vor einigen Stunden aufgetragene
     
    
     77
     
    
      Kaffeekuchenpyramide hinauswuchs. Und nun trat auch Ring selbst, der
     
    
     78
     
    
      sich bis dahin etwas zurückgehalten hatte, mit einer gewissen strahlenden
     
    
     79
     
    
      Feierlichkeit in Aktion und begann die vor ihm stehenden Gläser, große
     
    
     80
     
    
      geschliffene Römer, in virtuosem Bogensturz zu füllen, ein
     
    
     81
     
    
      Einschenkekunststück, das die stets schlagfertige Frau von Padden, die
     
    
     82
     
    
      heute leider fehlte, mal als »Ringsche Füllung en cascade« bezeichnet
     
    
     83
     
    
      hatte. Rotgolden wölbte sich dabei der Strahl, und kein Tropfen durfte
     
    
     84
     
    
      verlorengehen. So war es auch heute wieder. Zuletzt aber, als jeder, was
     
    
     85
     
    
      ihm zukam, in Händen hielt – auch Cora, die sich mittlerweile mit ihrem
     
    
     86
     
    
      rotblonden Wellenhaar auf »Onkel Crampas'« Schoß gesetzt hatte –, erhob
     
    
     87
     
    
      sich der alte Papenhagner, um, wie herkömmlich bei Festlichkeiten der Art,
     
    
     88
     
    
      einen Toast auf seinen lieben Oberförster auszubringen. Es gäbe viele
     
    
     89
     
    
      Ringe, so etwa begann er, Jahresringe, Gardinenringe, Trauringe, und was
     
    
     90
     
    
      nun gar – denn auch davon dürfe sich am Ende wohl sprechen lassen – die
     
    
     91
     
    
      Verlobungsringe angehe, so sei glücklicherweise die Gewähr gegeben, daß
     
    
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      einer davon in kürzester Frist in diesem Hause sichtbar werden und den
     
    
     93
     
    
      Ringfinger (und zwar hier in einem doppelten Sinne den Ringfinger) eines
     
    
     94
     
    
      kleinen hübschen Pätschelchens zieren werde...
     
    
     95
     
    
      »Unerhört«, raunte Sidonie dem Pastor zu.
     
    
     96
     
    
      »Ja, meine Freunde«, fuhr Güldenklee mit gehobener Stimme fort, »viele
     
    
     97
     
    
      Ringe gibt es, und es gibt sogar eine Geschichte, die wir alle kennen, die
     
    
     98
     
    
      die Geschichte von den 'drei Ringen' heißt, eine Judengeschichte, die, wie
     
    
     99
     
    
      der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet
     
    
     100
     
    
      hat und noch stiftet. Gott bessere es. Und nun lassen Sie mich schließen,
     
    
     101
     
    
      um Ihre Geduld und Nachsicht nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen.
     
    
     102
     
    
      Ich bin nicht für diese drei Ringe, meine Lieben, ich bin vielmehr für einen
     
    
     103
     
    
      Ring, für einen Ring, der so recht ein Ring ist, wie er sein soll, ein Ring, der
     
    
     104
     
    
      alles Gute, was wir in unsrem altpommerschen Kessiner Kreise haben,
     
    
     105
     
    
      alles, was noch mit Gott für König und Vaterland einsteht – und es sind
     
    
     106
     
    
      ihrer noch einige (lauter Jubel) –, an diesem seinem gastlichen Tisch
     
    
     107
     
    
      vereinigt sieht. Für diesen Ring bin ich. Er lebe hoch!«
     
    
     108
     
    
      Alles stimmte ein und umdrängte Ring, der, solange das dauerte, das Amt
     
    
     109
     
    
      des »Einschenkens en cascade« an den ihm gegenübersitzenden Crampas
     
    
     110
     
    
      abtreten mußte; der Hauslehrer aber stürzte von seinem Platz am unteren
     
    
     111
     
    
      Ende der Tafel an das Klavier und schlug die ersten Takte des
     
    
     112
     
    
      Preußenliedes an, worauf alles stehend und feierlich einfiel: »Ich bin ein
     
    
     113
     
    
      Preuße ... will ein Preuße sein.«
     
    
     114
     
    
      »Es ist doch etwas Schönes«, sagte gleich nach der ersten Strophe der
     
    
     115
     
    
      alte Borcke zu Innstetten, »so was hat man in anderen Ländern nicht.«
     
    
     116
     
    
      »Nein«, antwortete Innstetten, der von solchem Patriotismus nicht viel
     
    
     117
     
    
      hielt, »in anderen Ländern hat man was anderes.«
     
    
     118
     
    
      Man sang alle Strophen durch, dann hieß es, die Wagen seien
     
    
     119
     
    
      vorgefahren, und gleich danach erhob sich alles, um die Pferde nicht
     
    
     120
     
    
      warten zu lassen. Denn diese Rücksicht »auf die Pferde« ging auch im
     
    
     121
     
    
      Kreise Kessin allem anderen vor. Im Hausflur standen zwei hübsche Mägde,
     
    
     122
     
    
      Ring hielt auf dergleichen, um den Herrschaften beim Anziehen ihrer Pelze
     
    
     123
     
    
      behilflich zu sein. Alles war heiter angeregt, einige mehr als das, und das
     
    
     124
     
    
      Einsteigen in die verschiedenen Gefährte schien sich schnell und ohne
     
    
     125
     
    
      Störung vollziehen zu sollen, als es mit einemmal hieß, der Gieshüblersche
     
    
     126
     
    
      Schlitten sei nicht da. Gieshübler selbst war viel zu artig, um gleich Unruhe
     
    
     127
     
    
      zu zeigen oder gar Lärm zu machen; endlich aber, weil doch wer das Wort
     
    
     128
     
    
      nehmen mußte, fragte Crampas, was es denn eigentlich sei.
     
    
     129
     
    
      »Mirambo kann nicht fahren«, sagte der Hofknecht; »das linke Pferd hat
     
    
     130
     
    
      ihn beim Anspannen vor das Schienbein geschlagen. Er liegt im Stall und
     
    
     131
     
    
      schreit.«
     
    
     132
     
    
      Nun wurde natürlich nach Doktor Hannemann gerufen, der denn auch
     
    
     133
     
    
      hinausging und nach fünf Minuten mit echter Chirurgenruhe versicherte: ja,
     
    
     134
     
    
      Mirambo müsse zurückbleiben; es sei vorläufig in der Sache nichts zu
     
    
     135
     
    
      machen als stilliegen und kühlen. Übrigens von Bedenklichem keine Rede.
     
    
     136
     
    
      Das war nun einigermaßen ein Trost, aber schaffte doch die Verlegenheit,
     
    
     137
     
    
      wie der Gieshüblersche Schlitten zurückzufahren sei, nicht aus der Welt,
     
    
     138
     
    
      bis Innstetten erklärte, daß er für Mirambo einzutreten und das Zwiegestirn
     
    
     139
     
    
      von Doktor und Apotheker persönlich glücklich heimzusteuern gedenke.
     
    
     140
     
    
      Lachend und unter ziemlich angeheiterten Scherzen gegen den
     
    
     141
     
    
      verbindlichsten aller Landräte, der sich, um hilfreich zu sein, sogar von
     
    
     142
     
    
      seiner jungen Frau trennen wolle, wurde dem Vorschlag zugestimmt, und
     
    
     143
     
    
      Innstetten, mit Gieshübler und dem Doktor im Fond, nahm jetzt wieder die
     
    
     144
     
    
      Tete. Crampas und Lindequist folgten unmittelbar. Und als gleich danach
     
    
     145
     
    
      auch Kruse mit dem landrätlichen Schlitten vorfuhr, trat Sidonie lächelnd
     
    
     146
     
    
      an Effi heran und bat diese, da ja nun ein Platz frei sei, mit ihr fahren zu
     
    
     147
     
    
      dürfen. »In unserer Kutsche ist es immer so stickig; mein Vater liebt das.
     
    
     148
     
    
      Und außerdem, ich möchte so gerne mit Ihnen plaudern. Aber nur bis
     
    
     149
     
    
      Quappendorf. Wo der Morgnitzer Weg abzweigt, steig ich aus und muß
     
    
     150
     
    
      dann wieder in unseren unbequemen Kasten. Und Papa raucht auch noch.«
     
    
     151
     
    
      Effi war wenig erfreut über diese Begleitung und hätte die Fahrt lieber
     
    
     152
     
    
      allein gemacht; aber ihr blieb keine Wahl, und so stieg denn das Fräulein
     
    
     153
     
    
      ein, und kaum daß beide Damen ihre Plätze genommen hatten, so gab
     
    
     154
     
    
      Kruse den Pferden auch schon einen Peitschenknips, und von der
     
    
     155
     
    
      oberförsterlichen Rampe her, von der man einen prächtigen Ausblick auf
     
    
     156
     
    
      das Meer hatte, ging es die ziemlich steile Düne hinunter auf den
     
    
     157
     
    
      Strandweg zu, der, eine Meile lang, in beinahe gerader Linie bis an das
     
    
     158
     
    
      Kessiner Strandhotel und von dort aus, rechts einbiegend, durch die
     
    
     159
     
    
      Plantage hin in die Stadt führte.
     
    
     160
     
    
      Der Schneefall hatte schon seit ein paar Stunden aufgehört, die Luft war
     
    
     161
     
    
      frisch, und auf das weite dunkelnde Meer fiel der matte Schein der
     
    
     162
     
    
      Mondsichel. Kruse fuhr hart am Wasser hin, mitunter den Schaum der
     
    
     163
     
    
      Brandung durchschneidend, und Effi, die etwas fröstelte, wickelte sich
     
    
     164
     
    
      fester in ihren Mantel und schwieg noch immer und mit Absicht. Sie wußte
     
    
     165
     
    
      recht gut, daß das mit der »stickigen Kutsche« bloß ein Vorwand gewesen
     
    
     166
     
    
      und daß sich Sidonie nur zu ihr gesetzt hatte, um ihr etwas Unangenehmes
     
    
     167
     
    
      zu sagen. Und das kam immer noch früh genug. Zudem war sie wirklich
     
    
     168
     
    
      müde, vielleicht von dem Spaziergange im Walde, vielleicht auch von dem
     
    
     169
     
    
      oberförsterlichen Punsch, dem sie, auf Zureden der neben ihr sitzenden
     
    
     170
     
    
      Frau von Flemming, tapfer zugesprochen hatte. Sie tat denn auch, als ob
     
    
     171
     
    
      sie schliefe, schloß die Augen und neigte den Kopf immer mehr nach links.
     
    
     172
     
    
      »Sie sollten sich nicht so sehr nach links beugen, meine gnädigste Frau.
     
    
     173
     
    
      Fährt der Schlitten auf einen Stein, so fliegen Sie hinaus. Ihr Schlitten hat
     
    
     174
     
    
      ohnehin kein Schutzleder und, wie ich sehe, auch nicht einmal die Haken
     
    
     175
     
    
      dazu.«
     
    
     176
     
    
      »Ich kann die Schutzleder nicht leiden; sie haben so was Prosaisches.
     
    
     177
     
    
      Und dann, wenn ich hinausflöge, mir wär es recht, am liebsten gleich in die
     
    
     178
     
    
      Brandung. Freilich ein etwas kaltes Bad, aber was tut's ... Übrigens, hören
     
    
     179
     
    
      Sie nichts?«
     
    
     180
     
    
      »Nein. «
     
    
     181
     
    
      »Hören Sie nicht etwas wie Musik?«
     
    
     182
     
    
      Orgel?«
     
    
     183
     
    
      »Nein, nicht Orgel. Da würd ich denken, es sei das Meer. Aber es ist etwas
     
    
     184
     
    
      anderes, ein unendlich feiner Ton, fast wie menschliche Stimme ...«
     
    
     185
     
    
      »Das sind Sinnestäuschungen«, sagte Sidonie, die jetzt den richtigen
     
    
     186
     
    
      Einsetzmoment gekommen glaubte. »Sie sind nervenkrank. Sie hören
     
    
     187
     
    
      Stimmen. Gebe Gott, daß Sie auch die richtige Stimme hören.«
     
    
     188
     
    
      »Ich höre ... nun, gewiß, es ist Torheit, ich weiß, sonst würd ich mir
     
    
     189
     
    
      einbilden, ich hätte die Meerfrauen singen hören ... Aber, ich bitte Sie, was
     
    
     190
     
    
      ist das? Es blitzt ja bis hoch in den Himmel hinauf. Das muß ein Nordlicht
     
    
     191
     
    
      sein.«
     
    
     192
     
    
      »Ja«, sagte Sidonie. »Gnädigste Frau tun ja, als ob es ein Weltwunder
     
    
     193
     
    
      wäre. Das ist es nicht. Und wenn es dergleichen wäre, wir haben uns vor
     
    
     194
     
    
      Naturkultus zu hüten. Übrigens ein wahres Glück, daß wir außer Gefahr
     
    
     195
     
    
      sind, unsern Freund Oberförster, diesen eitelsten aller Sterblichen, über
     
    
     196
     
    
      dies Nordlicht sprechen zu hören. Ich wette, daß er sich einbilden würde,
     
    
     197
     
    
      das tue ihm der Himmel zu Gefallen, um sein Fest noch festlicher zu
     
    
     198
     
    
      machen. Er ist ein Narr. Güldenklee konnte Besseres tun, als ihn feiern.
     
    
     199
     
    
      Und dabei spielt er sich auf den Kirchlichen aus und hat auch neulich eine
     
    
     200
     
    
      Altardecke geschenkt. Vielleicht, daß Cora daran mitgestickt hat. Diese
     
    
     201
     
    
      Unechten sind schuld an allem, denn ihre Weltlichkeit liegt immer obenauf
     
    
     202
     
    
      und wird denen mit angerechnet, die's ernst mit dem Heil ihrer Seele
     
    
     203
     
    
      meinen.«
     
    
     204
     
    
      »Es ist so schwer, ins Herz zu sehen!«
     
    
     205
     
    
      »Ja. Das ist es. Aber bei manchem ist es auch ganz leicht.« Und dabei sah
     
    
     206
     
    
      sie die junge Frau mit beinahe ungezogener Eindringlichkeit an. Effi
     
    
     207
     
    
      schwieg und wandte sich ungeduldig zur Seite.
     
    
     208
     
    
      »Bei manchem, sag ich, ist es ganz leicht«, wiederholte Sidonie, die ihren
     
    
     209
     
    
      Zweck erreicht hatte und deshalb ruhig lächelnd fortfuhr. »Und zu diesen
     
    
     210
     
    
      leichten Rätseln gehört unser Oberförster. Wer seine Kinder so erzieht, den
     
    
     211
     
    
      beklag ich, aber das eine Gute hat es, es liegt bei ihm alles klar da. Und wie
     
    
     212
     
    
      bei ihm selbst, so bei den Töchtern. Cora geht nach Amerika und wird
     
    
     213
     
    
      Millionärin oder Methodistenpredigerin; in jedem Fall ist sie verloren. Ich
     
    
     214
     
    
      habe noch keine Vierzehnjährige gesehen ...«
     
    
     215
     
    
      In diesem Augenblick hielt der Schlitten, und als sich beide Damen
     
    
     216
     
    
      umsahen, um in Erfahrung zu bringen, was es denn eigentlich sei,
     
    
     217
     
    
      bemerkten sie, daß rechts von ihnen, in etwa dreißig Schritt Abstand, auch
     
    
     218
     
    
      die beiden anderen Schlitten hielten – am weitesten nach rechts der von
     
    
     219
     
    
      Innstetten geführte, näher heran der Crampassche.
     
    
     220
     
    
      »Was ist?« fragte Effi.
     
    
     221
     
    
      Kruse wandte sich halb herum und sagte: »Der Schloon, gnäd'ge Frau.«
     
    
     222
     
    
      »Der Schloon? Was ist das? Ich sehe nichts.«
     
    
     223
     
    
      Kruse wiegte den Kopf hin und her, wie wenn er ausdrücken wollte, daß
     
    
     224
     
    
      die Frage leichter gestellt als beantwortet sei.
     
    
     225
     
    
      Worin er auch recht hatte. Denn was der Schloon sei, das war nicht so mit
     
    
     226
     
    
      drei Worten zu sagen. Kruse fand aber in seiner Verlegenheit alsbald Hilfe
     
    
     227
     
    
      bei dem gnädigen Fräulein, das hier mit allem Bescheid wußte und
     
    
     228
     
    
      natürlich auch mit dem Schloon.
     
    
     229
     
    
      »Ja, meine gnädigste Frau«, sagte Sidonie, »da steht es schlimm. Für
     
    
     230
     
    
      mich hat es nicht viel auf sich, ich komme bequem durch; denn wenn erst
     
    
     231
     
    
      die Wagen heran sind, die haben hohe Räder, und unsere Pferde sind
     
    
     232
     
    
      außerdem daran gewöhnt. Aber mit solchem Schlitten ist es was anderes;
     
    
     233
     
    
      die versinken im Schloon, und Sie werden wohl oder übel einen Umweg
     
    
     234
     
    
      machen müssen.«
     
    
     235
     
    
      »Versinken! Ich bitte Sie, mein gnädigstes Fräulein, ich sehe noch immer
     
    
     236
     
    
      nicht klar. Ist denn der Schloon ein Abgrund oder irgendwas, drin man mit
     
    
     237
     
    
      Mann und Maus zugrunde gehen muß? Ich kann mir so was hierzulande gar
     
    
     238
     
    
      nicht denken.«
     
    
     239
     
    
      »Und doch ist es so was, nur freilich im kleinen; dieser Schloon ist
     
    
     240
     
    
      eigentlich bloß ein kümmerliches Rinnsal, das hier rechts vom Gothener
     
    
     241
     
    
      See herunterkommt und sich durch die Dünen schleicht. Und im Sommer
     
    
     242
     
    
      trocknet es mitunter ganz aus, und Sie fahren dann ruhig drüber hin und
     
    
     243
     
    
      wissen es nicht einmal.«
     
    
     244
     
    
      »Und im Winter?«
     
    
     245
     
    
      »Ja, im Winter, da ist es was anderes; nicht immer, aber doch oft. Da wird
     
    
     246
     
    
      es dann ein Sog.«
     
    
     247
     
    
      »Mein Gott, was sind das nur alles für Namen und Wörter!«
     
    
     248
     
    
      »... Da wird es ein Sog, und am stärksten immer dann, wenn der Wind
     
    
     249
     
    
      nach dem Lande hin steht. Dann drückt der Wind das Meerwasser in das
     
    
     250
     
    
      kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, daß man es sehen kann. Und das ist
     
    
     251
     
    
      das Schlimmste von der Sache, darin steckt die eigentliche Gefahr. Alles
     
    
     252
     
    
      geht nämlich unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis
     
    
     253
     
    
      tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann über
     
    
     254
     
    
      solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist, dann sinkt man ein, als ob es
     
    
     255
     
    
      ein Sumpf oder ein Moor wäre.«
     
    
     256
     
    
      »Das kenn ich«, sagte Effi lebhaft. »Das ist wie in unsrem Luch«, und
     
    
     257
     
    
      inmitten all ihrer Ängstlichkeit wurde ihr mit einem Male ganz wehmütig
     
    
     258
     
    
      freudig zu Sinn.
     
    
     259
     
    
      Während das Gespräch noch so ging und sich fortsetzte, war Crampas
     
    
     260
     
    
      aus seinem Schlitten ausgestiegen und auf den am äußersten Flügel
     
    
     261
     
    
      haltenden Gieshüblerschen zugeschritten, um hier mit Innstetten zu
     
    
     262
     
    
      verabreden, was nun wohl eigentlich zu tun sei. Knut, so meldete er, wolle
     
    
     263
     
    
      die Durchfahrt riskieren, aber Knut sei dumm und verstehe nichts von der
     
    
     264
     
    
      Sache; nur solche, die hier zu Hause seien, müßten die Entscheidung
     
    
     265
     
    
      treffen. Innstetten – sehr zu Crampas' Überraschung – war auch fürs
     
    
     266
     
    
      »Riskieren«, es müsse durchaus noch mal versucht werden ... er wisse
     
    
     267
     
    
      schon, die Geschichte wiederholte sich jedesmal: Die Leute hier hätten
     
    
     268
     
    
      einen Aberglauben und vorweg eine Furcht, während es doch eigentlich
     
    
     269
     
    
      wenig zu bedeuten habe. Nicht Knut, der wisse nicht Bescheid, wohl aber
     
    
     270
     
    
      Kruse solle noch einmal einen Anlauf nehmen und Crampas derweilen bei
     
    
     271
     
    
      den Damen einsteigen (ein kleiner Rücksitz sei ja noch da), um bei der
     
    
     272
     
    
      Hand zu sein, wenn der Schlitten umkippe. Das sei doch schließlich das
     
    
     273
     
    
      Schlimmste, was geschehen könne.
     
    
     274
     
    
      Mit dieser Innstettenschen Botschaft erschien jetzt Crampas bei den
     
    
     275
     
    
      beiden Damen und nahm, als er lachend seinen Auftrag ausgeführt hatte,
     
    
     276
     
    
      ganz nach empfangener Order den kleinen Sitzplatz ein, der eigentlich
     
    
     277
     
    
      nichts als eine mit Tuch überzogene Leiste war, und rief Kruse zu: »Nun,
     
    
     278
     
    
      vorwärts, Kruse. «
     
    
     279
     
    
      Dieser hatte denn auch die Pferde bereits um hundert Schritte
     
    
     280
     
    
      zurückgezoppt und hoffte, scharf anfahrend, den Schlitten glücklich
     
    
     281
     
    
      durchbringen zu können; im selben Augenblick aber, wo die Pferde den
     
    
     282
     
    
      Schloon auch nur berührten, sanken sie bis über die Knöchel in den Sand
     
    
     283
     
    
      ein, so daß sie nur mit Mühe nach rückwärts wieder heraus konnten.
     
    
     284
     
    
      »Es geht nicht«, sagte Crampas, und Kruse nickte.
     
    
     285
     
    
      Während sich dies abspielte, waren endlich auch die Kutschen
     
    
     286
     
    
      herangekommen, die Grasenabbsche vorauf, und als Sidonie, nach kurzem
     
    
     287
     
    
      Dank gegen Effi, sich verabschiedet und dem seine türkische Pfeife
     
    
     288
     
    
      rauchenden Vater gegenüber ihren Rückplatz eingenommen hatte, ging es
     
    
     289
     
    
      mit dem Wagen ohne weiteres auf den Schloon zu; die Pferde sanken tief
     
    
     290
     
    
      ein, aber die Räder ließen alle Gefahr leicht überwinden, und ehe eine halbe
     
    
     291
     
    
      Minute vorüber war, trabten auch schon die Grasenabbs drüben weiter. Die
     
    
     292
     
    
      andern Kutschen folgten. Effi sah ihnen nicht ohne Neid nach. Indessen
     
    
     293
     
    
      nicht lange, denn auch für die Schlittenfahrer war in der zwischenliegenden
     
    
     294
     
    
      Zeit Rat geschafft worden, und zwar einfach dadurch, daß sich Innstetten
     
    
     295
     
    
      entschlossen hatte, statt aller weiteren Forcierung das friedlichere Mittel
     
    
     296
     
    
      eines Umwegs zu wählen. Also genau das, was Sidonie gleich anfangs in
     
    
     297
     
    
      Sicht gestellt hatte. Vom rechten Flügel her klang des Landrats bestimmte
     
    
     298
     
    
      Weisung herüber, vorläufig diesseits zu bleiben und ihm durch die Dünen
     
    
     299
     
    
      hin bis an eine weiter hinauf gelegene Bohlenbrücke zu folgen. Als beide
     
    
     300
     
    
      Kutscher, Knut und Kruse, so verständigt waren, trat der Major, der, um
     
    
     301
     
    
      Sidonie zu helfen, gleichzeitig mit dieser ausgestiegen war, wieder an Effi
     
    
     302
     
    
      heran und sagte: »Ich kann Sie nicht allein lassen, gnäd'ge Frau.«
     
    
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      Effi war einen Augenblick unschlüssig, rückte dann aber rasch von der
     
    
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      einen Seite nach der anderen hinüber, und Crampas nahm links neben ihr
     
    
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      Platz.
     
    
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      All dies hätte vielleicht mißdeutet werden können, Crampas selbst aber
     
    
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      war zu sehr Frauenkenner, um es sich bloß in Eitelkeit zurechtzulegen. Er
     
    
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      sah deutlich, daß Effi nur tat, was nach Lage der Sache das einzig Richtige
     
    
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      war. Es war unmöglich für sie, sich seine Gegenwart zu verbitten. Und so
     
    
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      ging es denn im Fluge den beiden anderen Schlitten nach, immer dicht an
     
    
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      dem Wasserlauf hin, an dessen anderem Ufer dunkle Waldmassen
     
    
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      aufragten. Effi sah hinüber und nahm an, daß schließlich an dem
     
    
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      landeinwärts gelegenen Außenrand des Waldes hin die Weiterfahrt gehen
     
    
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      würde, genau also den Weg entlang, auf dem man in früher
     
    
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      Nachmittagsstunde gekommen war. Innstetten aber hatte sich inzwischen
     
    
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      einen anderen Plan gemacht, und im selben Augenblick, wo sein Schlitten
     
    
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      die Bohlenbrücke passierte, bog er, statt den Außenweg zu wählen, in einen
     
    
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      schmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte Waldmasse
     
    
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      hindurchführte. Effi schrak zusammen. Bis dahin waren Luft und Licht um
     
    
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      sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei, und die dunklen Kronen
     
    
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      wölbten sich über ihr. Ein Zittern überkam sie, und sie schob die Finger fest
     
    
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      ineinander, um sich einen Halt zu geben Gedanken und Bilder jagten sich,
     
    
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      und eines dieser Bilder war das Mütterchen in dem Gedichte, das die
     
    
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      »Gottesmauer« hieß, und wie das Mütterchen, so betete auch sie jetzt, daß
     
    
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      Gott eine Mauer um sie her bauen möge. Zwei, drei Male kam es auch über
     
    
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      ihre Lippen, aber mit einemmal fühlte sie, daß es tote Worte waren. Sie
     
    
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      fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann und wollte
     
    
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      auch nicht heraus.
     
    
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      »Effi«, klang es jetzt leise an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme
     
    
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      zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer
     
    
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      geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als
     
    
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      wandle sie eine Ohnmacht an.
     
    
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      Als sie die Augen wieder öffnete, war man aus dem Wald heraus, und in
     
    
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      geringer Entfernung vor sich hörte sie das Geläut der vorauseilenden
     
    
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      Schlitten. Immer vernehmlicher klang es, und als man, dicht vor Utpatels
     
    
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      Mühle, von den Dünen her in die Stadt einbog, lagen rechts die kleinen
     
    
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      Häuser mit ihren Schneedächern neben ihnen.
     
    
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      Effi blickte sich um, und im nächsten Augenblick hielt der Schlitten vor
     
    
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      dem landrätlichen Hause.