Agnes
Die titelgebende Agnes ist eine höchst rätselhafte Figur. Ihr Name - nach eigener Aussage von vielen als „seltsam“ empfunden (S. 16) - bedeutet so viel wie „rein, geheiligt, geweiht“ (gr. hagnos), spielt aber auch auf das unschuldige Lamm Gottes an (lat. agnus). Durch das dem Roman vorangestellte Gedicht John Keats‘ wird der Bezug auf die heilige St. Agnes deutlich, welche als geweihte Jungfrau für die Keuschheit steht. Passend dazu erlebt Agnes mit E. ihr erstes Mal, ist also am Anfang des Romans noch unberührt.
Jede Charakterisierung von Agnes wird sich mit dem Problem auseinandersetzen müssen, dass alle Informationen über sie vom unzuverlässigen personalen Erzähler stammen. Demnach steht jeder Leser nicht nur vor der Herausforderung, eine geheimnisvolle literarische Figur zu enträtseln; er sieht sich darüber hinaus nur mit dem Bild dieser Figur konfrontiert, das der Erzähler von ihr zeichnet. Selbst dieser beschreibt Agnes jedoch als nicht leicht zu entschlüsselnde Person: Äußerlich unscheinbar, ist ihr Blick außergewöhnlich; in ihren Augen sieht er etwas, was er nicht versteht (S. 15).
Erst aus der Gesamtperspektive ergibt sich ein einigermaßen scharfes Bild von Agnes, womit erneut der Bezug zu Georges Seurats Un Dimanche d‘été à l‘île de la Grande Jatte und zum Romanaufbau hergestellt werden kann. Agnes ist Mitte zwanzig und hat eine Assistenzstelle an der Universität inne als Doktorandin der Physik. Sie ist ein schüchterner, zurückgezogener Mensch und beschreibt sich selbst als nicht sehr sozial (S. 20). Dem entspricht, dass sie nicht sehr geübt in Konversation ist - sie stellt nicht die Frage nach E.s Arbeit, was allein die Höflichkeit gebieten würde (ebd.) - und dass sie ihre Anrufe auf E.s Telefon umleiten lässt, wobei in neun Monaten ein einziger Anruf kommt (S. 135). Dem entsprechen Agnes‘ kleine Rituale im Alltag: z. B. berührt sie nie fremde Menschen und vermeidet es, „von ihnen berührt zu werden. Gegenstände jedoch berührte sie unentwegt.“ (S. 62)
Mit Gegenständen fühlt sie sich gewissermaßen sicherer und daher ist sie auch als Physikerin selbstbewusst (S. 44f.). Dabei ist Agnes keine klischeehaft nüchterne Naturwissenschaftlerin, vielmehr gilt ihre besondere Leidenschaft der Kunst: Sie spielt Cello, liebt Malerei und Gedichte. Es finden sich Hinweise auf ihre Tiefsinnigkeit, denn sie denkt über existentielle Fragen wie den Tod häufig nach. Dazu kontrastieren die Ansichten E.s, die doch etwas flach sind („Ich habe mir immer vorgestellt, dass man sich irgendwann müde hinlegt und im Tod zur Ruhe kommt“ [S. 24]). Auf seine Oberflächlichkeit reagiert sie kühl.
E. beschreibt ihre Ansichten als streng (S. 21). Ihr Ernst wirkt unnahbar - Symbol hierführ das zu-sich-Ziehen der Bücher, als E. in der Bibliothek ihre Titel entziffern will -, wobei Agnes keinesfalls so sein möchte (S. 55). Auffallend ist, dass Agnes ganz und gar nicht dem Bild einer jungen großstädtischen Amerikanerin entspricht. Da sie lieber über Ideen, sprich abstrakte Dinge, als über sich selbst spricht und nicht einmal gerne isst (S. 23), könnte man sie auch als etwas „verkopft“ bezeichnen. Leibliche Genüsse, wäre ein möglicher Schluss, scheinen für sie eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Dazu passt auch, dass sie, bis sie E. kennenlernt, noch Jungfrau ist. Wichtig ist für sie, zu leben und Spuren ihrer Existenz zu hinterlassen.
Ein hervorstechendes Merkmal ist sicherlich Agnes‘ Pedanterie und die Pflege ihrer Rituale: Das Video von ihrem Ausflug in den Hoosier National Forest hat sie sorgfältig beschrieben und doppelt unterstrichen (S. 10), an ihrem Arbeitsplatz in der Bibliothek richtet sie ihre Sachen immer genau und nach demselben Muster aus (S. 13 u. S. 17); die Straße überquert sie nur auf dem Fußgängerstreifen, wenn die Ampel Walk zeigt (S. 19). Wenn sie essen gehen, zelebriert Agnes ebenfalls seltsame Rituale (S. 61f.) und sie ist dermaßen sauber, dass ihre eigene Küche aussieht, „als sei sie nie benutzt worden“ (S. 112). Ihre Ordnungsliebe geht so weit, dass sie, als sie E. zum ersten Mal verlässt, E.s Hemden und T-Shirts zusammenlegt und im Schrank deponiert, bevor sie geht (S. 95).
Allerdings kann Agnes‘ Pedanterie auch dahingehend gedeutet werden, dass mehr dahinter steckt als eine Neurose. Um herauszufinden, ob E. tatsächlich in der siebenundzwanzigsten Etage des Wolkenkratzers wohnt, geht sie mit ihm die Treppen, was beide völlig außer Atem bringt (S. 49). Die Stelle kann auch so interpretiert werden, dass Agnes den Dingen auf den Grund gehen will, im Gegensatz zum weniger tiefsinnigen Erzähler, dessen zwischenmenschliche Beziehungen ebenfalls oberflächlich bleiben, weil er sich nicht öffnen, nicht auf eine Frau einlassen kann, sondern ein Bildnis von ihr fertigt. Der Gegensatz zwischen den Charakteren wird in der gleichen Szene auch dialogisch umgesetzt:
Das Auf-Den-Grund-Gehen gibt Agnes Sicherheit, die sie ansonsten nicht besitzt. Sie scheint eher linkisch (sie verschüttet Kaffee) und ängstlich (S. 12). Wenn sie aufgeregt ist, wird sie schnell rot, was sie nicht gerne hört (S. 54f.). Im Gespräch gibt sie nur wenig von sich preis, sondern diskutiert lieber über Kunst, Politik, Wissenschaft und Ideen (S. 20f.).
Agnes beschäftigt sich häufig mit dem Tod. Ihre größte Angst ist, spurlos zu verschwinden. Deshalb taucht in diesem Zusammenhang immer wieder das Motiv des Spurenhinterlassens auf (z. B. auf S. 31 u. S. 32). So deutet sie Stonehenge nicht als mystische Kultstätte, sondern als Versuch der prähistorischen Menschen, ein Zeichen zu setzen, um nicht in der Natur unterzugehen und einfach zu verschwinden. Das Bedürfnis, selbst Spuren zu hinterlassen, um zu zeigen, dass sie gelebt hat, lässt sie E. bitten, die Geschichte zu schreiben. Zu ihren Eltern hat Agnes eine gestörte Beziehung, insbesondere das Verhältnis zu ihrem Vater ist belastet (S. 29, S. 32f., S. 40f. u. S. 134f.). Wohl nicht zufällig könnte E. fast ihr Vater sein (S. 26). Vor dem Hintergrund, dass sie von ihrem Vater nie die ersehnte Anerkennung bekam (S. 32f.), könnte ihre Beziehung zu E. als Kompensationshandlung gedeutet werden.
In dieser Beziehung wird Agnes‘ devoter Charakter deutlich. Sie füllt ganz die Rolle aus, die E. durch seine Geschichte vorgibt, und gibt so ihre Selbstbestimmtheit auf. Sie will von ihm wissen, was sie zu tun hat und möchte keine Fehler machen (S. 65). So folgt sie auch E.s Aufforderung in der Geschichte, zu ihm zu ziehen.
In der Natur findet Agnes für kurze Zeit zu sich selbst. Sie sieht aus wie eine Wilde und befindet: „Aber man könnte so leben [...], nackt und ganz nah an allem.“ Angst, spurlos zu verschwinden, hat sie in diesem Moment nicht (S. 76).
Diese Selbstfindung ist freilich nicht von Dauer. Immer stärker lässt sie sich von E.s Geschichte lenken. Dies korrespondiert mit ihrem Verhältnis zur Literatur, die eine solche Macht über sie hat, dass sie sich fürchtet (S. 119f.). Durch die Schwangerschaft kommt es schließlich nicht nur zum Bruch zwischen ihr und E., sondern auf einer anderen Ebene zwischen Realität (Agnes ist schwanger) und Fiktion („Agnes wird nicht schwanger“ (S. 89)). Ihre Aufforderung „Es [die Geschichte] muss stimmen“ (S. 53 u. S. 119) ist vergebens.
Letztlich lässt sich die Beziehung zwischen ihr und E. nicht mehr reparieren. Sie verfällt in Depressionen, wendet sich innerlich und äußerlich von ihm ab (Kap. 28) und fröstelt häufig, was auf die Kälte und Entfremdung voneinander in der Beziehung verweist. Deshalb ist auch ihre Erkältung nach Weihnachten sinnbildlich für ihren inneren Zustand. Den Tod ihres ungeborenen Kindes kann sie nicht überwinden (S. 130f.).
Agnes Wunsch, E. möge die Geschichte nicht zu Ende schreiben, erhält durch den Schluss seinen Sinn, denn sie scheint instinktiv zu erahnen, wie es ausgehen muss. Dabei bleibt dem Leser selbst überlassen, wie er das Ende interpretiert. Jede Deutung muss jedoch die Frage berücksichtigen, ob die reale Agnes der literarischen Agnes folgt, oder ob sie E. nur endgültig verlässt. Die literarische Agnes jedenfalls sucht den Freitod im Schnee, wobei E. seine Geschichte an ihre Äußerung im Nationalpark (S. 78) anlehnt, als sie befindet, Erfrieren sei ein schöner Tod. Im Schnee tötet Agnes nun nicht ihr Gefühl ab, wie sie es einst nach der Lektüre von Hesses Siddhartha versuchte, sondern sie gewinnt es nach und nach zurück, bis es ihren ganzen Körper durchströmt und sie erfüllt, sodass ihr ist, „als liege sie glühend im Schnee, als müsse der Schnee unter ihr schmelzen.“ (S. 152). Damit steht ihr Tod im Schnee für ihre zurückgewonnene Identität und für ein selbstbestimmtes, eigenes Leben. Die Metaphorik der äußeren Wärme und inneren Kälte ist am Romanende auf den Kopf gestellt.
Jede Charakterisierung von Agnes wird sich mit dem Problem auseinandersetzen müssen, dass alle Informationen über sie vom unzuverlässigen personalen Erzähler stammen. Demnach steht jeder Leser nicht nur vor der Herausforderung, eine geheimnisvolle literarische Figur zu enträtseln; er sieht sich darüber hinaus nur mit dem Bild dieser Figur konfrontiert, das der Erzähler von ihr zeichnet. Selbst dieser beschreibt Agnes jedoch als nicht leicht zu entschlüsselnde Person: Äußerlich unscheinbar, ist ihr Blick außergewöhnlich; in ihren Augen sieht er etwas, was er nicht versteht (S. 15).
Erst aus der Gesamtperspektive ergibt sich ein einigermaßen scharfes Bild von Agnes, womit erneut der Bezug zu Georges Seurats Un Dimanche d‘été à l‘île de la Grande Jatte und zum Romanaufbau hergestellt werden kann. Agnes ist Mitte zwanzig und hat eine Assistenzstelle an der Universität inne als Doktorandin der Physik. Sie ist ein schüchterner, zurückgezogener Mensch und beschreibt sich selbst als nicht sehr sozial (S. 20). Dem entspricht, dass sie nicht sehr geübt in Konversation ist - sie stellt nicht die Frage nach E.s Arbeit, was allein die Höflichkeit gebieten würde (ebd.) - und dass sie ihre Anrufe auf E.s Telefon umleiten lässt, wobei in neun Monaten ein einziger Anruf kommt (S. 135). Dem entsprechen Agnes‘ kleine Rituale im Alltag: z. B. berührt sie nie fremde Menschen und vermeidet es, „von ihnen berührt zu werden. Gegenstände jedoch berührte sie unentwegt.“ (S. 62)
Mit Gegenständen fühlt sie sich gewissermaßen sicherer und daher ist sie auch als Physikerin selbstbewusst (S. 44f.). Dabei ist Agnes keine klischeehaft nüchterne Naturwissenschaftlerin, vielmehr gilt ihre besondere Leidenschaft der Kunst: Sie spielt Cello, liebt Malerei und Gedichte. Es finden sich Hinweise auf ihre Tiefsinnigkeit, denn sie denkt über existentielle Fragen wie den Tod häufig nach. Dazu kontrastieren die Ansichten E.s, die doch etwas flach sind („Ich habe mir immer vorgestellt, dass man sich irgendwann müde hinlegt und im Tod zur Ruhe kommt“ [S. 24]). Auf seine Oberflächlichkeit reagiert sie kühl.
E. beschreibt ihre Ansichten als streng (S. 21). Ihr Ernst wirkt unnahbar - Symbol hierführ das zu-sich-Ziehen der Bücher, als E. in der Bibliothek ihre Titel entziffern will -, wobei Agnes keinesfalls so sein möchte (S. 55). Auffallend ist, dass Agnes ganz und gar nicht dem Bild einer jungen großstädtischen Amerikanerin entspricht. Da sie lieber über Ideen, sprich abstrakte Dinge, als über sich selbst spricht und nicht einmal gerne isst (S. 23), könnte man sie auch als etwas „verkopft“ bezeichnen. Leibliche Genüsse, wäre ein möglicher Schluss, scheinen für sie eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Dazu passt auch, dass sie, bis sie E. kennenlernt, noch Jungfrau ist. Wichtig ist für sie, zu leben und Spuren ihrer Existenz zu hinterlassen.
Ein hervorstechendes Merkmal ist sicherlich Agnes‘ Pedanterie und die Pflege ihrer Rituale: Das Video von ihrem Ausflug in den Hoosier National Forest hat sie sorgfältig beschrieben und doppelt unterstrichen (S. 10), an ihrem Arbeitsplatz in der Bibliothek richtet sie ihre Sachen immer genau und nach demselben Muster aus (S. 13 u. S. 17); die Straße überquert sie nur auf dem Fußgängerstreifen, wenn die Ampel Walk zeigt (S. 19). Wenn sie essen gehen, zelebriert Agnes ebenfalls seltsame Rituale (S. 61f.) und sie ist dermaßen sauber, dass ihre eigene Küche aussieht, „als sei sie nie benutzt worden“ (S. 112). Ihre Ordnungsliebe geht so weit, dass sie, als sie E. zum ersten Mal verlässt, E.s Hemden und T-Shirts zusammenlegt und im Schrank deponiert, bevor sie geht (S. 95).
Allerdings kann Agnes‘ Pedanterie auch dahingehend gedeutet werden, dass mehr dahinter steckt als eine Neurose. Um herauszufinden, ob E. tatsächlich in der siebenundzwanzigsten Etage des Wolkenkratzers wohnt, geht sie mit ihm die Treppen, was beide völlig außer Atem bringt (S. 49). Die Stelle kann auch so interpretiert werden, dass Agnes den Dingen auf den Grund gehen will, im Gegensatz zum weniger tiefsinnigen Erzähler, dessen zwischenmenschliche Beziehungen ebenfalls oberflächlich bleiben, weil er sich nicht öffnen, nicht auf eine Frau einlassen kann, sondern ein Bildnis von ihr fertigt. Der Gegensatz zwischen den Charakteren wird in der gleichen Szene auch dialogisch umgesetzt:
„Ich mag Fahrstühle nicht“, sagte Agnes, „man verliert den Boden unter den Füßen“
„Ich finde sie äußerst praktisch“, sagte ich und ging weiter, „stell dir vor ...“
„Ich möchte nicht so weit oben wohnen“, sagte Agnes und folgte mir, „es ist nicht gut“ (S. 49)
Zweierlei ist an dieser Stelle bemerkenswert: Agnes wählt als Letztbegründung, dass „es nicht gut [ist]“, was keine rationale Begründung darstellt - schon gar nicht für eine Physikerin, welche die Dinge ansonsten rational erforscht. Außerdem möchte Agnes etwas eigentlich nicht, weil es ihrem Charakter widerspricht und folgt E. schließlich. Dieses Muster ist typisch für den weiteren Handlungsverlauf.
„Ich finde sie äußerst praktisch“, sagte ich und ging weiter, „stell dir vor ...“
„Ich möchte nicht so weit oben wohnen“, sagte Agnes und folgte mir, „es ist nicht gut“ (S. 49)
Das Auf-Den-Grund-Gehen gibt Agnes Sicherheit, die sie ansonsten nicht besitzt. Sie scheint eher linkisch (sie verschüttet Kaffee) und ängstlich (S. 12). Wenn sie aufgeregt ist, wird sie schnell rot, was sie nicht gerne hört (S. 54f.). Im Gespräch gibt sie nur wenig von sich preis, sondern diskutiert lieber über Kunst, Politik, Wissenschaft und Ideen (S. 20f.).
Agnes beschäftigt sich häufig mit dem Tod. Ihre größte Angst ist, spurlos zu verschwinden. Deshalb taucht in diesem Zusammenhang immer wieder das Motiv des Spurenhinterlassens auf (z. B. auf S. 31 u. S. 32). So deutet sie Stonehenge nicht als mystische Kultstätte, sondern als Versuch der prähistorischen Menschen, ein Zeichen zu setzen, um nicht in der Natur unterzugehen und einfach zu verschwinden. Das Bedürfnis, selbst Spuren zu hinterlassen, um zu zeigen, dass sie gelebt hat, lässt sie E. bitten, die Geschichte zu schreiben. Zu ihren Eltern hat Agnes eine gestörte Beziehung, insbesondere das Verhältnis zu ihrem Vater ist belastet (S. 29, S. 32f., S. 40f. u. S. 134f.). Wohl nicht zufällig könnte E. fast ihr Vater sein (S. 26). Vor dem Hintergrund, dass sie von ihrem Vater nie die ersehnte Anerkennung bekam (S. 32f.), könnte ihre Beziehung zu E. als Kompensationshandlung gedeutet werden.
In dieser Beziehung wird Agnes‘ devoter Charakter deutlich. Sie füllt ganz die Rolle aus, die E. durch seine Geschichte vorgibt, und gibt so ihre Selbstbestimmtheit auf. Sie will von ihm wissen, was sie zu tun hat und möchte keine Fehler machen (S. 65). So folgt sie auch E.s Aufforderung in der Geschichte, zu ihm zu ziehen.
In der Natur findet Agnes für kurze Zeit zu sich selbst. Sie sieht aus wie eine Wilde und befindet: „Aber man könnte so leben [...], nackt und ganz nah an allem.“ Angst, spurlos zu verschwinden, hat sie in diesem Moment nicht (S. 76).
Diese Selbstfindung ist freilich nicht von Dauer. Immer stärker lässt sie sich von E.s Geschichte lenken. Dies korrespondiert mit ihrem Verhältnis zur Literatur, die eine solche Macht über sie hat, dass sie sich fürchtet (S. 119f.). Durch die Schwangerschaft kommt es schließlich nicht nur zum Bruch zwischen ihr und E., sondern auf einer anderen Ebene zwischen Realität (Agnes ist schwanger) und Fiktion („Agnes wird nicht schwanger“ (S. 89)). Ihre Aufforderung „Es [die Geschichte] muss stimmen“ (S. 53 u. S. 119) ist vergebens.
Letztlich lässt sich die Beziehung zwischen ihr und E. nicht mehr reparieren. Sie verfällt in Depressionen, wendet sich innerlich und äußerlich von ihm ab (Kap. 28) und fröstelt häufig, was auf die Kälte und Entfremdung voneinander in der Beziehung verweist. Deshalb ist auch ihre Erkältung nach Weihnachten sinnbildlich für ihren inneren Zustand. Den Tod ihres ungeborenen Kindes kann sie nicht überwinden (S. 130f.).
Agnes Wunsch, E. möge die Geschichte nicht zu Ende schreiben, erhält durch den Schluss seinen Sinn, denn sie scheint instinktiv zu erahnen, wie es ausgehen muss. Dabei bleibt dem Leser selbst überlassen, wie er das Ende interpretiert. Jede Deutung muss jedoch die Frage berücksichtigen, ob die reale Agnes der literarischen Agnes folgt, oder ob sie E. nur endgültig verlässt. Die literarische Agnes jedenfalls sucht den Freitod im Schnee, wobei E. seine Geschichte an ihre Äußerung im Nationalpark (S. 78) anlehnt, als sie befindet, Erfrieren sei ein schöner Tod. Im Schnee tötet Agnes nun nicht ihr Gefühl ab, wie sie es einst nach der Lektüre von Hesses Siddhartha versuchte, sondern sie gewinnt es nach und nach zurück, bis es ihren ganzen Körper durchströmt und sie erfüllt, sodass ihr ist, „als liege sie glühend im Schnee, als müsse der Schnee unter ihr schmelzen.“ (S. 152). Damit steht ihr Tod im Schnee für ihre zurückgewonnene Identität und für ein selbstbestimmtes, eigenes Leben. Die Metaphorik der äußeren Wärme und inneren Kälte ist am Romanende auf den Kopf gestellt.