Der Widerruf des Protagonisten
Jahrelang widmet sich der Protagonist der Wissenschaft und klügelt komplizierte Theorien in der Physik, Mathematik und Astronomie aus. Im Zuge dieser Analyse wird untersucht, weshalb sich Galilei trotz seiner offensichtlichen Leidenschaft für die Forschung dazu entschließt, seine Entdeckungen und Errungenschaften zu widerrufen. Ob das Zurückziehen seines Lebenswerks als Weg des geringsten Widerstandes fungiert, oder ob möglicherweise doch tiefere Beweggründe hinter dem Handeln des Forschers stecken, wird nun im Folgenden auf interpretatorischer Ebene erläutert.
Gezwungene Maßnahme oder freiwillige Entscheidung?
- Reue: Galilei plagen Zweifel darüber, dass er mit seinem Widerruf die falsche Entscheidung getroffen hat. Durch seinen Entschluss, alle bisherigen, mühevoll erarbeiteten Erkenntnisse in der Astronomie und Mathematik zu leugnen, legt er die Macht über die Wissenschaft wieder in die Hände des Klerus. Dabei steht die Forschung zum Zeitpunkt seiner Anklage vor einem scheinbaren Wendepunkt, welcher das neue Zeitalter einläuten soll. Mit seinem Widerruf behindert er die Erreichbarkeit von Fortschritt und Wissenschaft für den einfachen Bürger. Mit diesem Verhalten arbeitet er gegen sein einstiges Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen und für die breite Masse zugänglich zu machen
- Leibliches Wohl über geistigem Gut: Als Andrea seinen Lehrer nach dem Grund für seinen Widerruf fragt, antwortet dieser mit den Worten „ich habe widerrufen, weil ich den körperlichen Schmerz fürchtete“ (S. 123, Z. 30f). So sehr der Wissenschaftler reumütige Gefühle gegenüber seines Widerrufs zeigt, so menschlich und nachvollziehbar ist doch seine Entscheidung im Hinblick auf die Furcht vor der Folter. Am Ende ist es er selbst sein schärfster Kritiker, der sich seiner Meinung nach als Konsequenz des Leugnens seiner Theorien selbst nicht mehr als Wissenschaftler bezeichnen darf (S. 124)
- Zwangsmaßnahme: Betrachtet man die Lage Galileis, als er vor die Inquisition tritt, so stellt man sogar als Unbeteiligter fest, dass es sich beim Widerruf des Protagonisten kaum um einen Beschluss aus freien Stücken handelt. Vielmehr stellt der Rückzug seiner Erkenntnisse eine letzte Option für den Forscher, die Hetze, welche die Kirche auf ihn machen wird, zu überleben dar. Galilei ist bewusst, dass er nur im lebendigen Zustand weiter vermag in der Forschung tätig zu sein und ihr zu dienen
- Überlebenssinn: Zwei Komponenten gehen in Galileos Widerruf Hand in Hand miteinander einher. Die Angst vor dem Tod sei hier als primärer Aspekt zu nennen, wobei auch der Gesichtspunkt Kalkül keine unerhebliche Rolle spielt. Indem Galilei seinem Urinstinkt folgt, welcher ihn vor dem Tod bewahrt, eröffnet sich für ihn gleichzeitig die Chance, für seine Untersuchungen weiterhin am Leben zu bleiben. Ob es sich bei dem Rückzug seiner Theorien tatsächlich um einen taktischen Schachzug handelt, sei einmal dahingestellt. Doch eines lässt sich nicht von der Hand weisen: Der Forscher weiß seine Schwächen, worunter seine Blindheit, sein Alter und seine innere Zerissenheit zählen, klug einzusetzen. Nur aufgrund der Annahme, dass der Wissenschaftler aufgegeben habe zu kämpfen, bietet sich ihm die Möglichkeit, im Stillen an seiner Schrift weiterzuarbeiten
Arrest auf Lebenszeit oder Entkommen durch die Hintertür
- Gefangen und doch frei: Dass der berühmte Wissenschaftler seinen Arrest zwar unter permanenter Beobachtung der Kirche, jedoch anstatt in einem Gefängnis, in seinem eigenen Zuhause fristen „darf“, gestattet ihm auch gewisse Freiheiten. So ist es dem ehemaligen Lehrer und Astronom möglich, insgeheim eine Abschrift seines Werks Discorsi zu verfassen, ohne das einer der hohen Geistlichen davon erfährt. Nach außen hin vermittelt Galileo das Bild eines gebrechlichen, kranken Mannes, der kurz vor seinem Lebensabend steht. Er weiß seinen immer noch wachen Geist und seine unversiegte Leidenschaft für die Wissenschaft gekonnt vor seinen Beobachtern zu verbergen
- Bezüge zum 20. Jahrhundert: Es fällt auf, dass Galileo seinem Schüler Andrea rät „gib Acht auf dich, wenn du durch Deutschland kommst, die Wahrheit unter dem Rock“ (S. 127, Z. 2). Mit dieser Äußerung stellt der Autor einen Bezug zur Entstehungsepoche des Werks, der Exilliteratur sowie der damaligen politischen Lage Deutschlands unter der Führung des NS-Regimes her
- Galilei plant nicht, zu flüchten oder seinem Schicksal zu entkommen. Für ihn ist an Stelle seines eigenen Befindens wichtiger, dass die Forschung weiterhin voranschreitet, weshalb er Andrea auch die Discorsi mitgibt. So steckt hinter seinem Widerruf, welcher auf den ersten Blick zunächst einmal als egoistischer Beschluss angesehen werden könnte, mehr Überlegung und Reflektion, als die übrigen Beteiligten wie etwa sein Schüler Andrea, antizipieren